Können wir uns nach Belieben selbst erfinden?

Buchauszug von Carl R. Trueman
14. November 2022 — 11 Min Lesedauer

Die Vorstellung, dass wir sein können, wer oder was wir wollen, ist heute Allgemeingut. Der Konsumismus oder Spätkapitalismus nährt diese Vorstellung mit seiner Botschaft, dass der Kunde König ist und unsere Konsumartikel Auskunft darüber geben, wer wir sind. Die Werbung vermittelt diese Botschaft durch die Art und Weise, wie sie bestimmte Produkte als Schlüssel zum Glück oder zur Verbesserung des Lebens offeriert. Sie als Kunde haben die Macht, sich durch das bloße „Durchziehen“ einer Kreditkarte zu verändern. Der Besitz dieser Sache – also etwa ein Auto, eine Küche oder ein Kleidungsstück – macht Sie zu einem anderen, besseren und glücklicheren Menschen. Konsumorientierte Selbsterschaffung, gestützt durch billige Kredite, ist das Gebot der Stunde.

Eine solche Selbsterschaffung ist mehr ein Mythos (oder das, was Freud eine Illusion genannt hätte; ein Akt des Wunschdenkens) denn praktische Realität. Die dem Verbrauchermarkt zugrunde liegende Dynamik besteht darin, dass Wünsche niemals vollständig befriedigt werden können, zumindest nicht auf Dauer. Der Verbraucher ist nicht einfach der arme Tropf, den der skrupellose Kapitalist über den Tisch zieht, indem er Märkte neu erfindet, um Einnahmen zu generieren (wie einige Linke behaupten). Vielmehr beruht der Handel zwischen Produzent und Konsument letztlich darauf, dass das Bedürfnis nach Konsum durch den Akt der Aneignung keineswegs zufriedengestellt wird. Wenn der Produzent Begehrlichkeiten weckt, um sie zu erfüllen, dann ist der Verbraucher ein williger Partner in diesem Prozess. Im hegelschen Jargon ausgedrückt: Die Konsumgesellschaft präsentiert Personen, deren Wesen in ihrem Werden liegt und die ständig auf den nächsten Kauf warten, der die unerreichbare persönliche Ganzheit herbeiführen soll.

Diese Illusion der souveränen Selbsterschaffung durch Konsum hat jedoch ihre Grenzen. Wir alle sind letztlich durch eine Vielzahl von Faktoren eingeschränkt, die sich nicht immer per Kreditkarte ändern lassen. Da ist erstens das Angebot an Produkten oder Lebensstilen: Auf dem Markt gibt es keine unendliche Anzahl an Waren zu kaufen. Der Verbraucher ist kein absoluter Monarch. Wie gesagt handelt es sich beim Markt um einen Handel zwischen Anbieter und Verbraucher.

„Wir alle sind letztlich durch eine Vielzahl von Faktoren eingeschränkt, die sich nicht immer per Kreditkarte ändern lassen.“
 

Zweitens ändert die Gesellschaft ständig ihre Meinung darüber, was im Trend liegt, was cool ist und was akzeptabel ist. Wir mögen uns in der Macht wähnen, uns selbst und unsere eigene Identität zu erschaffen. In der Regel sind wir jedoch dem Angebot und den Wertesystemen unterworfen, die beide durch die Gesellschaft bestimmt sind und auf die die meisten Menschen für sich gesehen nur sehr begrenzten Einfluss haben. Konsumismus lässt uns glauben, dass wir sein können, wer wir wollen, aber in Wirklichkeit setzt der Markt dem stets Grenzen.

Drittens sind unseren Fähigkeiten, uns selbst zu erfinden, deutliche individuelle Grenzen gesetzt. Physiologie, intellektuelle Begabungen, Einkommen sowie zeitlicher und geographischer Standort spielen dabei eine Rolle. Ich könnte mir durchaus wünschen, Marie Antoinette, die Königin von Frankreich, zu sein. Ich könnte sogar beschließen, mich so zu nennen. Doch mein Körper ist männlich, hat die Gene meiner englischen Eltern, befindet sich physisch in Pennsylvania und existiert zeitlich im 21. Jahrhundert. Marie Antoinette zu sein, ist daher für mich keine realisierbare Option. Mein Körper, nicht meine Psyche, hat das letzte Wort darüber, ob ich die letzte Königin von Frankreich im 18. Jahrhundert bin oder nicht.

Dennoch ist die Idee der Selbsterschaffung, also die Vorstellung, dass wir unser Wesen durch Willensakte formen können, tief in unserem heutigen Denken verankert. Das geht so weit, dass ich zwar nicht in der Lage bin, die genetischen und chronologischen Probleme zu überwinden, die mich daran hindern, eine in Österreich geborene Königin von Frankreich aus dem 18. Jahrhundert zu werden. Doch kann ich zumindest das entscheidende Mitspracherecht leugnen, das meine Chromosomen vielleicht über mein Mannsein haben. So wie Bruce zu Caitlyn geworden ist[1] und von der Gesellschaft als diese anerkannt wurde, so könnte aus Carl jetzt Caroline werden, wenn ich es nur wollte.

Die Welt, in der diese Art des Denkens plausibel geworden ist, hat sowohl intellektuelle als auch materielle Wurzeln. Philosophische Denkströmungen aus dem neunzehnten Jahrhundert haben die Annahme, dass die menschliche Natur etwas Gegebenes ist – etwas, das eine intrinsische, nicht verhandelbare Autorität darüber hat, wer wir sind – stark geschwächt oder sogar abgeschafft. Die Veränderungen in unseren materiellen Verhältnissen haben es ermöglicht, dass die diesen Philosophien zugrundeliegenden, anti-essentialistischen Prinzipien plausibel und vielleicht sogar zum Maßstab unseres heutigen Denkens über das Selbstsein geworden sind.

„Die Idee der Selbsterschaffung, also die Vorstellung, dass wir unser Wesen durch Willensakte formen können, ist tief in unserem heutigen Denken verankert.“
 

Daher möchte ich hier auf die Gedanken dreier Männer eingehen, die, obwohl sie sehr unterschiedliche Gelehrte waren, dazu beigetragen haben, die Art und Weise zu formen, wie wir uns die menschliche Natur heute vorstellen: Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Charles Darwin. Alle drei haben auf ihre Weise konzeptionelle Begründungen dafür geliefert, den Gedanken an eine allgemeine menschliche Natur aufzugeben. Damit haben sie den Weg für die Glaubwürdigkeit des Gedankens geebnet, dass der Mensch ein formbares Wesen ist. Er besitzt demnach keine feste Identität, die auf einem innewohnenden und unauslöschlichen Wesen beruhen würde. Andere haben an diesem Wandel ebenfalls mitgewirkt, doch diese sind wohl die einflussreichsten Vordenker für spätere Entwicklungen bis zum heutigen Tag.

Charles Darwin

Darwin hat vermutlich den größten Einfluss gehabt. Legen wir einmal die Frage beiseite, ob Evolution – bzw. eine der zahlreichen Ausprägungen der Evolutionstheorie –, wahr ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine große Anzahl von Menschen im Westen einfach davon ausgeht, dass es so ist.

Ob sich die Evolution sauber belegen lässt, ist eigentlich irrelevant dafür, warum die meisten Menschen an sie glauben. Nur wenige von uns sind qualifiziert, sich zur wissenschaftlichen Forschung zu äußern. Die Evolution stützt sich auf die Autorität, die die Naturwissenschaften in der modernen Gesellschaft genießen. Wissenschaftler haben heute oft ein ähnliches Gewicht wie früher die Priester, die das Vertrauen der Öffentlichkeit und damit hohe gesellschaftliche Autorität besaßen. Wenn die verkündete Lehre intuitiv plausibel erscheint, dann überzeugt sie auch.

Die Wirkungen sind offensichtlich: Zuerst wird der heilige Bericht über den Ursprung des Menschen im 1. Buch Mose untergraben. Dann wird der Mensch in seiner Stellung gegenüber anderen Geschöpfen relativiert. Die Abstammung von einer früheren Art schließt die besondere Erschaffung von Mann und Frau aus, und mit der natürlichen Selektion erübrigt sich die Teleologie als Hypothese. Kurz gesagt: Die menschliche Natur als wichtige Grundkategorie für das Verständnis seiner Bestimmung wird aufgehoben. Weil nun in unserer Welt der Glaube an die Evolution selbstverständlich ist, hat dies dramatische Auswirkungen darauf, wie sich die Menschen diese Welt und ihren Platz darin vorstellen.

Friedrich Nietzsche

Der Einfluss Nietzsches ist vielleicht als Bezugsquelle am wenigsten offensichtlich, da – wie ich vermute – sehr viel mehr Leute von Darwin gehört haben. Trotzdem ist die Wirkung nicht weniger tiefgreifend. Wie gesehen, greift er ebenfalls den Gedanken einer menschlichen Natur an. Auch wenn dies aus der Perspektive seines Anschlags auf die Metaphysik geschieht, ist das Ergebnis doch sehr ähnlich: Wesen und Bestimmung des Menschen verlieren jegliche transzendente oder objektive Grundlage. Sie waren immer nur manipulative Konzepte, die von einer Gruppe entwickelt worden sind, um andere zu unterwerfen. Vor allem die christliche Kirche hat das getan.

Damit sind wir bei zwei weiteren Pathologien der Gegenwart, die als von Nietzsche inspiriert aufgefasst werden können. Erstens bringt sein genealogischer Ansatz zur Moral einen grundlegenden historistischen Relativismus und ein tiefes Misstrauen gegen alle Ansprüche traditioneller Autoritäten mit sich. Diese beiden Merkmale sind heute grundlegend für unsere Welt. Vom Subversiven der Popkultur bis zur Entthronung traditioneller historischer Erzählungen, vom Misstrauen gegenüber althergebrachten Institutionen wie der Kirche bis zu ikonoklastischen Einstellungen zu Sex und Gender: Überall können wir die anarchische Umsetzung der Herausforderung durch Nietzsches tollen Menschen und den rücksichtslos kritischen Geist der Genealogie der Moral entdecken. Die normale Zwölfjährige, die ein Konzert von Ariana Grande besucht, mag nie etwas von Nietzsche gehört haben. Dennoch vermittelt die amoralische Sexualität der Liedtexte ihr eine Form von (vermutlich unbeabsichtigtem) Nietzscheanismus.

„Wenn die Teleologie tot ist und die Devise ‚Selbsterschaffung‘ lautet, dann wird der Augenblick mit seinem möglichen Genuss zum Schlüssel für das ewige Leben.“
 

Das führt zum zweiten Bereich, in dem sich Nietzsches Denken in unseren gewohnten Einstellungen spiegelt: das Leben für die Gegenwart. Wenn die Teleologie tot ist und die Devise „Selbsterschaffung“ lautet, dann wird der Augenblick mit seinem möglichen Genuss zum Schlüssel für das ewige Leben. Nietzsches Sicht von Hedonismus mag sich von dem unterschieden haben, was die populäre Vorstellung heute ist. Immerhin verstand er ihn eher als die Freude, die durch Ringen und Überwinden von Widrigkeiten gewonnen wird. Doch der Gedanke, dass persönliche Erfüllung das Kennzeichen eines Lebens (bzw. Moments) ist, das gut gelebt wurde, ist für unsere Zeit selbstverständlich. Noch einmal: Nietzsches Bücher mögen keine breite Leserschaft haben, aber seine zentralen Prioritäten sind in unser Allgemeingut übergegangen.

Karl Marx

Das bringt uns zu Marx. Wie Darwin und Nietzsche greift er die Metaphysik an, auf die Religionen und Philosophien traditionell ihre Ansichten eines moralischen Universums aufgebaut haben. Wie Nietzsche relativiert er die Ethik nicht nur durch eine Form von Historismus. Er stellt vielmehr moralische Regeln als manipulativ hin, die den wirtschaftlichen und politischen Status quo widerspiegeln und somit dafür aufgestellt sind, diesen zu legitimieren und zu erhalten. Das moderne Misstrauen gegenüber der althergebrachten Ordnung verdankt seine theoretischen Grundlagen sowohl Marx als auch Nietzsche.

Marx leistet auch einen weiteren wichtigen Beitrag, der heute grundlegend für unser Denken über die Gesellschaft ist: Er schafft das Vorpolitische, also die Vorstellung, es gebe Formen sozialer Organisation, die unabhängig von und vor der politischen Natur der Gesellschaft sind, ab. Für Marx (und erst recht für spätere Marxisten) sind alle Formen der sozialen Organisation politisch, weil sie alle mit der ökonomischen Struktur der Gesellschaft verbunden sind. Nach Marx sind Familie und Kirche dazu da, die bürgerlichen Werte zu kultivieren, zu stärken und aufrechtzuerhalten. In der Welt von heute erklärt dieses Denken, warum alles politisiert worden ist, angefangen von den Pfadfindern über die Hollywood-Filme bis hin zum Tortenbacken. Man muss gar kein ideologischer Marxist sein, um in diese Rangeleien hineingezogen zu werden. Denn sobald eine Seite einer bestimmten Sache oder Organisation politische Bedeutung verleiht, müssen alle Seiten mitziehen, egal ob links, rechts oder in der Mitte.

Der Einfluss des Ikonoklasmus

Zu guter Letzt: Der kulturelle Ikonoklasmus aller drei Denker ist bemerkenswert. Darwin ist in dieser Hinsicht vielleicht der Unschuldigste: Sein Denken relativiert die Kultur, will sie aber nicht direkt umstürzen. Für Nietzsche und Marx sind Geschichte und Kultur hingegen Unterdrückungsnarrative, die es zu stürzen und zu überwinden gilt. Wenn der heutige rieffsche Erschaffer von „Todeswerken“ eine philosophische Begründung brauchte, dann würde er beim Denken von Marx und Nietzsche und den von ihnen mitbegründeten Traditionen kultureller und politischer Reflexion fündig. Diese Männer haben die Metaphysik der heiligen Ordnung erschüttert, die der zweiten Welt nach Rieff in Europa im 19. Jahrhundert zugrunde lag. Sie haben gleichfalls die Kultur dazu herausgefordert, sich allein auf Grundlage eines immanenten Bezugsrahmens zu erhalten – was laut Rieff unmöglich ist. Vor diesem Hintergrund lassen sich Nietzsches Worte aus seiner Autobiographie Ecce Homo gut auf alle drei beziehen:

„Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“[1]

[1] Caitlyn Jenner, bis 2015 Bruce Jenner, erfolgreicher US-Sportler (Anm. d. Ü.).

[2] Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, in: KSA, hrsg. von G. Colli u. M. Montinari, Bd. 6*,* München: dtv u. de Gruyter, 1999, S. 255–374, hier S. 365.