Gegenkatechese für ein digitales Zeitalter

Buchauszug von Timothy Keller
11. November 2022 — 9 Min Lesedauer

In der Bergpredigt sagte Jesus: „Ihr wisst, dass zu den Vorfahren gesagt worden ist“, bevor er sagte: „Ich aber sage euch“ (Mt 5,21–48). Er tat das nicht nur, um die Wahrheit zu lehren, sondern auch, um den Unterschied zu den Aussagen der damaligen Autoritäten herauszustellen. Unsere Unterweisung muss demselben Muster folgen. Wir brauchen sowohl Katechese als auch Gegenkatechese, indem wir die biblische Lehre verwenden, um sowohl die Glaubenssätze der Kultur zu dekonstruieren als auch Fragen des menschlichen Herzens zu beantworten, die die Narrative der Kultur nicht beantworten können.

Wenn ich das Wort „Katechese“ verwende, fordere ich nicht notwendigerweise die Anwendung der eigentlichen Katechismus-Methode von Frage und Antwort (ich bin ein Befürworter dieser Methode, aber darum geht es mir hier nicht). Ich verwende den Begriff, um mich auf die Art und Weise zu beziehen, wie die Kirche Christen unterrichtet und geformt hat, die von der Bibel und der christlichen Lehre und nicht von der Welt geprägt sind. Tatsache ist, dass wir praktisch aufgehört haben, Katechese so zu betreiben, wie es in der Vergangenheit geschehen ist. Dadurch haben wir drei Dinge über geistliche Unterweisung vergessen:

Katechese war immer Gegenkatechese[1]

Während der Reformation gab es eine Explosion der Katechese – neue Katechismen wurden zu Hunderten geschrieben. Es ist bemerkenswert, dass die protestantischen Katechismen der Lehre von der Dreieinigkeit oder von Christus deutlich weniger Raum gaben als der Lehre von der Erlösung (Rechtfertigung und Wiedergeburt), den Sakramenten und der Kirche. Das lag daran, dass sie ihre Mitglieder nicht nur in ihre Lehre einarbeiteten, sondern sie auch gegen die einzige wirkliche Alternative zum Protestantendasein impften: Katholisch zu sein. Die protestantischen Katechismen kontrastierten die biblische Lehre mit den katholischen Katechismen, was sie auch zu wirksamen Gegenkatechismen machte. Sie konstruierten nicht nur eine Weltanschauung, sondern immunisierten gegen und zerlegten die herrschenden Alternativen.

„Säkulare Narrative begegnen uns heute stündlich in Werbung, Tweets, Musik, Geschichten, Stellungnahmen usw.“
 

Das Problem ist, dass die besten Katechismen, so unverzichtbar sie auch immer noch sind (Heidelberger, Westminster und Luthers kleiner und großer Katechismus), unzureichend sind. Die Hauptalternative zum evangelischen Christsein ist jetzt eine Form des westlichen Säkularismus. Das säkulare Zeitalter hat einen ganz eigenen Katechismus, und obwohl unsere gegenwärtigen Lehrmethoden und Katechismen biblisch korrekt sein mögen, präsentieren sie die Wahrheit nicht in einer Weise, die die säkularen Narrative klar demontiert und säkulare Überzeugungen entkräftet.

Säkulare Narrative sind Überzeugungen über die Realität, die uns von den meisten kulturellen Institutionen als unumstößliche, offensichtliche Wahrheiten eingeschärft werden. Sie begegnen uns heute dutzende Male am Tag – oder sogar stündlich – in Werbung, Tweets, Musik, Geschichten, Stellungnahmen usw. Es sind Narrative über:

  • Identität: „Man muss sich selbst treu sein.“
  • Freiheit: „Man sollte frei sein, so zu leben, wie man will, solange man niemandem wehtut.“
  • Glück: „Du musst das tun, was dich glücklich macht. Das darfst du für niemanden opfern.“
  • Wissenschaft: „Der einzige Weg, unsere Probleme zu lösen, ist durch objektive Wissenschaft und Fakten.“
  • Moral: „Jeder hat das Recht, selbst zu entscheiden, was richtig und falsch ist.“
  • Gerechtigkeit: „Wir sind verpflichtet, für die Freiheit, die Rechte und das Wohl aller Menschen auf der Welt zu arbeiten.“
  • Geschichte: „Die Geschichte neigt sich dem sozialen Fortschritt zu und weg von der Religion.“

Während jede dieser kulturellen Botschaften teilweise wahr ist (und tatsächlich, trotz Verzerrungen, historisch in der christlichen Lehre verwurzelt ist), sind sie alle theologisch falsch und in der Tat sogar schädlich für das menschliche Leben. Viele biblische Lehren und Wahrheiten untergraben, schwächen oder gleichen alle diese Narrative aus, und doch zeigt unsere gegenwärtige geistliche Unterweisung das nicht. Wir brauchen einen Gegenkatechismus, der die Katechismen der Welt den Christen erklärt, widerlegt und neu erzählt. In unserer Gegenkatechese wird jede der grundlegenden Narrative des säkularen Katechismus identifiziert, mit Beispielen aus der heutigen Kultur belegt, zum Teil bejaht, weil sie gewöhnlich eine Verzerrung oder ein götzendienerisches Ungleichgewicht von etwas Wahrem darstellen. Außerdem müssen sie untergraben und kritisiert werden, und es muss gezeigt werden, dass sie in ihrer besten Form nur in Christus erfüllt werden.[2]

Katechese war eingebettet in ein moralstiftendes Umfeld

In The Content of Their Character erklären James Davison Hunter und Ryan S. Olson, dass Charakter niemals in einem Klassenzimmer vermittelt werden kann, sondern nur in einer bestimmten Art von Gemeinschaft. Martin Luther King Jr. ist ein Beispiel für dieses Prinzip. Er wird oft als Beispiel für Mut und Engagement für soziale Gerechtigkeit herangezogen, aber ein MLK Jr. hätte nicht durch ein Klassenzimmer und Lehrbücher allein hervorgebracht werden können. Er ist ein Produkt der afroamerikanischen Kirche. Hunter und Olson nennen die Art von Gemeinschaft, die den Charakter schmiedet, ein „moralisches Ökosystem“.[3] Es handelt sich um eine Gemeinschaft mit den folgenden Elementen:

„Wir brauchen einen Gegenkatechismus, der die Katechismen der Welt den Christen erklärt, widerlegt und neu erzählt.“
 

Ein moralstiftendes Umfeld beantwortet zuerst die Frage: „Warum gut sein?“ Die Antwort kann nicht einfach lauten: „Weil wir es sagen.“ Ein starkes moralisches Umfeld erfordert eine Darstellung des Kosmos, die eine Grundlage für moralische Standards schafft. Die Bibel tut dies, indem sie ihre moralischen Standards im Charakter Gottes und in einer geschaffenen menschlichen Natur begründet, die auf bestimmte Güter ausgerichtet ist: die Anbetung des wahren Gottes, die Bedeutung von Arbeit und Familie und die aufopfernde Liebe zum Nächsten.

Zweitens beantwortet es die Fragen: „Was genau ist gut?“, und: „Was ist rechte Anbetung, wahre Nächstenliebe, gute Arbeit und so weiter?“ Auch hier haben wir die moralische Unterweisung der Bibel, insbesondere die Zehn Gebote, das Buch der Sprüche, die Bergpredigt, 1. Korinther 13, sowie Jahrhunderte der moralischen und ethischen Reflexion über diese Texte.

Die dritte Frage, die in einem solchen Umfeld beantwortet wird, ist: „Was ist nicht gut?“ Dies geschieht, indem sie die biblische Lehre mit den moralischen Werten und dem Diskurs (oder dem Mangel daran) in der Kultur kontrastiert. Wir müssen die Praktiken und Herzenshaltungen in unserer Gesellschaft benennen, die nicht zu menschlichem Gedeihen, sondern zu persönlichem und sozialem Verfall führen.

Viertens gehört Vorstellungskraft zur Beantwortung der Frage: „Wer ist gut?“ Es reicht nicht aus, nur abstrakte Prinzipien zu nennen. Unsere Herzen werden eher durch Geschichten als durch abstrakte Begriffe erobert. Jede moralstiftende Gemeinschaft muss echte, alltägliche, überzeugende Verkörperungen ihrer moralischen Prinzipien bieten. Es hat davon immer zwei Arten gegeben:

  • Helden und Beispiele aus der Vergangenheit. Diese Vorbilder können (und sollten) sowohl fiktiv als auch historisch sein. Es ist wichtig für Schriftsteller, Künstler, Filmemacher und andere, Geschichten zu erzählen, die auf die Realitäten von Gut und Böse hinweisen.
  • Zeitgenössische Vorbilder in der eigenen Gemeinschaft. Ein moralstiftendes Umfeld muss tatsächliche Personen beinhalten, die ihre moralischen Standards auf eine attraktive Weise verkörpern.

Schließlich beinhaltet eine moralische Ökologie einen moralischen Diskurs – die Beantwortung der Frage: „Wie können wir im täglichen Leben gut sein?“ Der moralische Diskurs ist ein Dialog von Menschen, die fragen: „Wie lässt sich das Prinzip auf diese Situation anwenden? Was ist hier das Richtige zu tun?“

Warum ist ein moralstiftendes Umfeld so entscheidend? Die Krise ist folgende: Trotz ihrer zusammenhanglosen moralischen Kosmologie hat die säkulare Kultur durch die digitale Revolution ein enorm mächtiges, den Alltag durchdringendes moralisches Ökosystem geschaffen, das die zwei oder drei Stunden pro Woche überschattet, in denen Christen in der Kirche (an)beten und lernen.

„Diejenigen, die digitale Inhalte konsumieren, werden weitaus mehr Stunden pro Woche und weitaus effektiver katechisiert als durch alles, was die Kirche tut.“
 

Die Zeit, die wir an einem Tag an unseren Smartphones verbringen – die Anzahl der Bilder und Videos und der sich wiederholenden Slogans, die wir sehen – ist die prägendste Gewohnheit überhaupt. Sie regt die Vorstellungskraft mit Erzählungen an. Sie lässt den Einfluss und den Konsum des Fernsehens (der schon vor einer Generation ein Problem darstellte) im Vergleich dazu winzig aussehen. Diejenigen, die digitale Inhalte konsumieren, werden weitaus mehr Stunden pro Woche und weitaus effektiver katechisiert als durch alles, was die Kirche tut. Es wäre nicht übertrieben, dies als Gehirnwäsche zu bezeichnen, von der angeblich gutartigen Sorte, wie in George Orwells 1984 zu sehen.

Es ist keine Überraschung, dass so viele junge Menschen, die in der Kirche aufgewachsen sind und jahrelang von ihr gelehrt und unterrichtet wurden, sagen: „Ich sehe nicht, was daran falsch sein soll, wenn zwei Menschen Sex haben, die sich wirklich lieben.“ Alarmierte Eltern können sie auf passende Bibelstellen hinweisen, aber das wird nichts bringen, weil die zugrundeliegenden Narrative, die eine solche Sicht von Sex plausibel machen – von Identität und Freiheit und Moral –, nie als solche erkannt und als unglaubwürdig entlarvt wurden. Wir müssen lernen, Christen zu formen, die mehr vom biblischen Narrativ geprägt sind als von kulturellen Narrativen.

James K. A. Smith hat uns geholfen zu erkennen, dass Charakterbildung ebenso sehr aus dem Einsatz der Vorstellungskraft (durch liturgische Gottesdienste, Kunst und Geschichten) fließt wie aus der intellektuellen Unterweisung.[4] Unsere Arbeit der Gegenkatechese sollte daher Folgendes beinhalten:

  • neue Werkzeuge der Katechese, die so gestaltet sind, dass sie die Grundlagen der christlichen Wahrheit als direkten Kontrast zu den Erzählungen der spätmodernen Kultur präsentieren (z.B. „Ihr wisst, dass zu den Vorfahren gesagt worden ist … ich aber sage euch.“)
  • Gottesdienste, die alte Muster der Liturgie mit kulturell kontextualisierten Formen verbinden
  • den Einsatz der Künste zur Vermittlung der christlichen Geschichte
  • theologische Ausbildung von Pastoren und Laienleitern, die sie dazu befähigt, diese Art von gestalterischen Praktiken auszuführen
  • eine Wiederentdeckung reicher Andachtsformen, die wegen unserer vollen Terminkalender fast ausgestorben sind

Dieser Prozess der geistlichen Unterweisung ist Teil der nach innen gerichteten Bewegung einer missionarischen Begegnung. Wenn er gut gemacht ist, wird dieser Teil der Jüngerschaft Christen dazu befähigen, sich damit nach außen auf ihre Arbeitsplätze und in andere ihrer Wirkungskreise zu bewegen.


[1] Ich habe diesen Begriff von Alan Jacobs, „Dare to Make a Daniel“, Snakes and Ladders, 19.09.2018, online unter: https://blog.ayjay.org/dare-to-make-a-daniel (Stand: 24.09.2022).

[2] Vgl. Kapitel 5, „Preaching and the Late Modern Mind“ in: Timothy Keller, Preaching: Communicating Faith in an Age of Skepticism, New York: Penguin, 2016. Dort sind Beispiele zu finden, wie wir die großen kulturellen Narrative heute dekonstruieren und mit dem Evangelium in Verbindung bringen können.

[3] James Davison Hunter und Ryan S. Olson, The Content of Their Character: Inquiries into the Varieties of Moral Formation, New York: Finstock & Tew, 2018.

[4] James K. A. Smith, Imagining the Kingdom: How Worship Works. Grand Rapids: Baker Academic, 2013.