Die Brüder Karamasow

Rezension von Benjamin Schmidt
10. November 2022 — 22 Min Lesedauer

Als ich zusagte, einen Artikel über den Roman zu schreiben, der von vielen als der „größte Roman aller Zeiten“ bezeichnet wird, hätte mir schon klar sein müssen, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen bin. Ich habe es trotzdem versucht. Und ähnlich wie mein Versuch, mich diesem großen Werk zu nähern, geht auch Dostojewski selbst vor, indem er als Beobachter in die Tiefen der menschlichen Psyche hineinleuchtet, um Antworten auf die Frage nach der menschlichen Moral zu finden und danach, ob wir einer übergeordneten Moral verpflichtet sind.

Tatsächlich ist diese Frage heute wieder höchst relevant. Sie klärt uns darüber auf, was den Menschen ausmacht. Woher kommt das Böse in ihm, und wie sollen wir darauf reagieren? Bringt eine vernünftige Gesellschaft es zustande, ein Verhältnis echter sozialer Gerechtigkeit zu schaffen? Es sind Fragen, die zur Zeit der Abfassung des Romans im Jahr 1880 im Raum standen, und die auch heute wieder dringend gut begründete Antworten erfordern.

Anlass des Romans

Die Umstände, in denen Fjodor Michailowitsch Dostojewski (FMD) sein letztes und wohl populärstes Werk schrieb, sind unseren in vieler Hinsicht ähnlich. Russland erlebte eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Ende des 19. Jahrhunderts bahnte sich die Russische Revolution bereits an. Die wirtschaftliche Situation Russlands war katastrophal, weshalb liberale Gedanken Fuß fassten und begannen, die bisherigen konservativen Denkweisen als schadhaft darzustellen. Man war etwa überzeugt, dass die Religion keine Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme, den Hunger und die Ungerechtigkeiten biete, sondern eine Gefahr für die moralische Weiterentwicklung der Gesellschaft und den Intellekt darstelle. Gleichzeitig gab es aber noch viele, die den konservativen christlichen Idealen anhingen und diese „neuen Ideen“ fürchteten. Dieser gesellschaftliche Kontrast findet sich auch in den Mitgliedern der Familie Karamasow wieder.

FMD gehörte zu den Menschen, die den politischen Entwicklungen mit Sorge entgegensahen. Nachdem er selbst als junger Mann der frühen sozialistischen Bewegung angehört hatte, wurde er wegen seiner Zugehörigkeit zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch kurzfristig umgewandelt und FMD in ein Arbeitslager geschickt. Diese todesnahe Erfahrung sowie die Zeit im Gulag beschäftigten ihn sein ganzes Leben lang und brachten ihn dazu, sich intensiv mit Gott, dem Menschen und der Ewigkeit auseinanderzusetzen. Deshalb sind seine moralischen Fragen nicht einfach die Fragen eines Autors, sondern eines Menschen, der Grausamkeit erlebt hat, der zum Glauben an Christus kam, den aber die Antworten vieler Religiöser nicht befriedigten. Während viele Christen es nicht wagten, sich der Frage nach der Existenz des Leides in der Welt eines gütigen Gottes zu stellen, war der Sozialismus – die Gegenseite, die den Menschen als Gott und den Verstand als Evangelium darstellten – für ihn ganz klar der Weg in die Dunkelheit. Er hatte miterlebt, zu welcher Grausamkeit die „Vernunft“ fähig war. Zudem stellte er fest, dass die Grausamkeit nicht einfach von „den anderen“ ausging, sondern auch von ihm selbst – er war ein Teil des Problems. Also verarbeitete er diese Fragen, indem er Figuren schuf, die seine eigenen Gewissenskonflikte und Glaubensfragen ausfochten. Das Bücherschreiben war für ihn ein Ventil. Mehr noch: Durch die Figuren seiner Romane konnte er auch seine Leser dazu bringen, sich selbst diesen so nötigen Konflikten und Fragen zu stellen.

Worum geht es?

In Die Brüder Karamasow entführt uns FMD als namenloser Erzähler in seine fiktive russische Heimatstadt Skotoprigonyevsk, um über eine tragische Familiengeschichte zu berichten. Die Geschichte handelt von der Ermordung des Familienoberhaupts und Vaters der Brüder Karamasow. Das Werk besteht eigentlich aus vier Teilen. Erst in der Mitte des dritten Teils (also zur Hälfte des Romans, der je nach Ausgabe rund 1150 Seiten umfasst) kommt es zur Ermordung des Vaters. Davor führt uns FMD in die Vorgeschichte ein. Wir lernen die Brüder, ihre Ideale und Motive nach und nach kennen. Nach der Ermordung dreht sich der Roman hauptsächlich um den Umgang mit Schuld und um Grausamkeit als solche – vor allem, wenn sie von einem allgemeinen, existenziellen Dilemma plötzlich zu etwas ganz Persönlichem wird.

Der Vater

Die Familie Karamasow sollte ein Bild der russischen Gesellschaft „in mikroskopischer Gestalt“ sein; „In dem Bild dieser kleinen Familie [waren] gewisse allgemeine Grundelemente unserer modernen Gesellschaft feststellbar“ (S. 1028). Und das gilt heute sicher nicht weniger als zur Zeit der Abfassung. FMD wird mehr als jeder andere Romanautor als Prophet seiner Zeit betrachtet. Seine Romane nahmen viele gesellschaftliche Entwicklungen bereits vorweg, die erst ein bis zwei Generationen später eintrafen.

Einen Vater wie Fjodor Pawlowitsch Karamasow wünscht sich niemand. Er ist selbstsüchtig und durch und durch unmoralisch, ein Schmarotzer und Schürzenjäger. Seine Gemeinheit zeigt sich durch seine Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen – ganz besonders denen gegenüber, die er ganz natürlich lieben sollte. Noch größer ist vermutlich nur seine sexuelle Unmoral. Schon zu Beginn des Buches stellt FMD ihn im schlechtesten Licht vor. Und nein, FMD überzeichnet hier keineswegs, sondern malt sehr realistisch einen Menschen, der nur für den Augenblick lebt und dem es nur darum geht, möglichst viel eigene Befriedigung zu bekommen.

Zweimal war Fjodor Karamasow verheiratet. Und beide Male gab er sich als Retter aus, indem er die jungen Frauen aus schwierigen Umständen „entführte“ und heiratete. Allerdings wurde er auch hier völlig vom Eigennutz getrieben. Bei seiner ersten Frau war es die Geldgier. Durch sie kam er zu großem Reichtum, aber er dankte es ihr mit Lieblosigkeit und Untreue. Die Ehe hielt nicht sehr lange. Sie verließ ihn und das gemeinsame dreijährige Kind Dimitri, floh ohne einen Rubel zusammen mit ihrem Geliebten, um nur wenig später verarmt und ausgehungert zu sterben. Während dieser Zeit kümmerte sich Fjodor nicht um den Jungen, sondern überließ ihn sich selbst und der Obhut seines Dieners Grigori – und feierte ein Fest nach dem anderen.

Kurze Zeit später folgte die zweite Frau, Sofja. Sie brachte zwei weitere Söhne zur Welt: Iwan und Aljoscha (oder Alexej). Doch das Leben der gläubigen Sofja mit dem lasterhaften Fjodor – der sich nicht einmal schämte, in ihrer Gegenwart Sex-Orgien zu feiern – führte dazu, dass sie den Verstand verlor und starb. Woran genau, das erfahren wir nicht. Auch hier hätte er wieder die Kinder ihrem Schicksal überlassen, wenn nicht andere sich um sie gekümmert und sie versorgt hätten. Dimitri wurde von weitläufigen Verwandten seiner Mutter versorgt und wuchs in einem Internat auf. Iwan und Aljoscha kamen nach Moskau, in die Obhut des Vormundes ihrer Mutter.

Wie verdorben Fjodor Karamasow jedoch ist, zeigt uns eine Geschichte, die sich um das Gerücht rankt, er habe die Hilflosigkeit einer stummen, „stadtbekannten Irrsinnigen“ – von allen nur „Lisaweta, die Stinkende“ genannt – ausgenutzt und sie wegen einer Wette vergewaltigt. Aus dieser Vergewaltigung entstand der vierte der Brüder Karamasow – Fjodorowitsch, oder auch „Smerdjakow“ („der Stinkende“) genannt. Vieles spricht für die Echtheit dieses Gerüchts. Bestätigt wird es nie – höchstens zwischen den Zeilen, wie als der Diener des Hauses Karamasow, der sich des Kindes annimmt, ihm bei der Taufe den Namen „Fjodorowitsch“ (Sohn des Fjodor) gibt. Von den anderen Brüdern wird Smerdjakow jedoch nicht als Teil der Familie anerkannt. Für sie ist er nur „der Koch“. Lisaweta überlebte die Geburt nicht. Sie hatte sich nachts unter Geburtswehen auf das Grundstück der Familie Karamasow geschlichen, wo sie von Grigori entdeckt wurde. Sein Versuch, sie zu retten, misslang. Seitdem übernahm er die Vaterschaft für den Waisen – vielleicht aus bloßem Verantwortungsbewusstsein, vielleicht auch als Versuch, seinem Herrn eine letzte Chance des Wandels oder der täglichen Zurechtweisung zu geben, indem er das Kind auf diese Weise täglich vor Augen hatte. Doch Fjodor bleibt, wie er ist. Er verhält sich den Menschen gegenüber, die er eigentlich am meisten lieben und für deren Wohl er sich mit aller Kraft einsetzen müsste, mit der größten Gleichgültigkeit. Genau dieses Verhalten führt zu dem schicksalhaften Ereignis seiner Ermordung, das schon auf der ersten Seite angedeutet wird und den restlichen Roman bestimmt.

Die Brüder

Im Kern der Erzählung geht es vor allem um die Brüder und ihre Ideale. Es geht darum, wie sich ihre Ideale auf ihr Handeln auswirken und welches dieser Ideale sich am Ende bewährt. Trotz der schrecklichen Kindheit verschlägt es alle drei wieder zurück in die Heimatstadt: Aljoscha lebt als Novize in einem örtlichen Kloster, Dimitri – nach der Entlassung aus der Armee – zur Untermiete bei einer Familie in der Stadt.

Auf den ersten Blick ist Dimitri seinem Vater am ähnlichsten. Auch wenn er viel mehr Ehrgefühl hat und im Prinzip das genaue Gegenteil dessen tun will, was sein Vater sein ganzes Leben lang getan hat, muss er doch immer wieder feststellen, dass sein Verhalten dem seines Vaters ähnelt. Er besitzt dasselbe „verfluchte Karamasow’sche Ungestüm“ (S. 1132). Er hat etwa die Möglichkeit, eine Frau allein aus finanziellen und gesellschaftlichen Gründen zu heiraten, während er in eine andere Frau verliebt – man könnte auch sagen: besessen – ist. So begeht er ähnliche Fehler wie sein Vater: Er verletzt und nutzt aus, um seine Begierden zu erfüllen. Man kann nicht genau sagen, wie Dimitri zu Gott oder zur Moral steht, da er sich in seinen Entscheidungen und Anschauungen sehr stark von seinen Gefühlen bestimmen lässt, auch wenn sich hinter seinen Motiven und in seinem Charakter viel mehr Ehrbares erkennen lässt als bei seinem Vater. Sein impulsives Wesen dringt jedoch so sehr nach außen, dass er, nach der Ermordung seines Vaters, sofort als wahrscheinlicher Täter infrage kommt und verhaftet wird. Tatsächlich hat Dimitri auch das größte Mordmotiv, denn der Frau, von der er besessen ist, ist auch sein Vater verfallen. Es ist eine Frau, die sich gern mit Männern abgibt. Deshalb geraten Dimitri und sein Vater in dem Roman in großen Streit. Dimitris Hass wird gegen seinen Vater geschürt, der ihm schon die Mutter genommen, die Kindheit verdorben und sich und die Familie überall lächerlich gemacht hat.

„Iwans Verzweiflung über das Böse ist auch ein Stück der Verzweiflung, die all jene empfinden, die sich aufgrund des Leids in der Welt mit dem Glauben an Gott so schwertun.“
 

Iwan hat es lange geschafft, seiner Vergangenheit zu entkommen. Er ist der studierte, selbstbeherrschte, überaus intelligente der Brüder. Auch er hat Ideale, die er aber – wie er meint – vollkommen ohne jeden Glauben an die Existenz Gottes entwickelt hat. Er braucht Gott nicht, um an das Gute zu glauben und entschieden für das Gute und gegen das Böse zu handeln. Zwar lehnt er nicht die Existenz Gottes per se ab, wohl aber die Art, wie Gott die Welt gemacht hat und die Dinge geschehen lässt. Sein größtes Problem besteht zum Beispiel darin, dass er nicht verstehen kann, wie ein gütiger Gott zulässt, dass die Kinder, die ja „noch völlig unschuldig sind … nun auf Erden furchtbar leiden müssen“ (S. 354). Deshalb folgt Moral für ihn keiner Gesetzmäßigkeit, sondern ist beliebig, weil er meint, Gott sei nicht der Maßgeber der Moral. Iwan nennt Berichte von schwerem Kindesmissbrauch (die FMD übrigens echten Zeitungsartikeln entnimmt). Somit ist Iwans Verzweiflung über das Böse auch ein Stück der Verzweiflung, die all jene empfinden, die sich aufgrund des Leids in der Welt mit dem Glauben an Gott so schwertun. Iwan versucht so zu tun, als ließe sich die Welt ohne Gott viel einfacher erklären, doch wie sich herausstellt, ist diese Überlebensdevise ein Versuch, der ihn „höchst unglücklich“ zurücklässt (S. 107). Wie brüchig dieser Leitsatz ist, zeigt sich für Iwan spätestens dann, als er sich mit dem Mönch Sossima, dem geistlichen Mentor seines jüngeren Bruders Aljoscha, unterhält, der ihm die Augen dafür öffnet, dass wir Gott nicht für die Ursache des Bösen verantwortlich machen können, weil wir diejenigen sind, die das Böse wollen, nicht er.

Aljoscha ist der jüngste der Brüder und wird von FMD persönlich zum „Helden“ der Geschichte ernannt (S. 15). Er besitzt „die Gabe, eine besondere Liebe zu sich zu erwecken, sozusagen von Natur, ungekünstelt und unmittelbar“ (S. 30). Obwohl er doch „keineswegs ein großer Mann ist“, ist Aljoscha in seinem ganzen Handeln getrieben von seinem tiefen Glauben an Gott und der Verantwortung ihm gegenüber als dem moralischen Maßgeber. Sein Glaube drückt sich hauptsächlich in seiner sehr überzeugenden Nächstenliebe aus, die eine viel stärkere Auswirkung auf alle hat als Iwans ausgefeilte Argumentationen. Auch wenn er dasselbe Leid durch seinen Vater erlebt hat wie seine Brüder, scheint es ihm leichter zu fallen damit umzugehen. Ein großer Vorteil, den er seinen Brüdern gegenüber hat, liegt in dem alten Mönch Sossima, der für ihn ein Vaterersatz ist. In ihm hat er, neben Gott als übergeordnetem Leitmotiv, auch eine menschliche Leitfigur, einen „geistlichen Führer“, wie ihn Hebräer 13,7 beschreibt, der für ihn Ratgeber, Lehrer, Leiter und Vorbild im Glauben ist. Ein kurzer Absturz in Aljoschas Geschichte begegnet uns nur, als Sossima zwar nicht unerwartet stirbt, aber die Umstände seines Begräbnisses anders sind als erhofft. Diese für Aljoscha schwierigen Momente rütteln kurz an seinem Gottvertrauen. Bisher hat der Glaube an Gott ihm geholfen und seine Wege einfacher und stabiler gemacht. Jetzt, wo dieser Verlust ihn durchrüttelt und sein Gottvertrauen auf eine nie dagewesene Probe stellt, versteht er, dass Gott nicht verpflichtet ist, einzugreifen und Wunder in dieser dunklen Welt zu wirken. Aljoscha versteht, dass er derselben materialistischen Denkweise verfallen ist wie jemand, der Gott nur um der Gabe willen folgt anstatt um Gottes willen. Jetzt fällt es ihm leichter, die kommenden schweren Dinge als normal anzusehen und alles, was davon abweicht, als außergewöhnliches Werk der Gnade Gottes. „Das Hosianna muss erst durch den Schmelzofen der anzweifelnden Prüfung hindurchgegangen sein“ (S. 949) – so heißt es an anderer Stelle, doch genau das ist es, was Aljoscha erlebt. Der Mönch Sossima steht in FMDs Geschichte für ein realistisches und demütiges Christsein, das von aller übertriebenen kirchlichen Frömmlerei losgelöst ist. Genau darin liegt für Dostojewski die einzige Rettung, das Heil für die Gesellschaft.

Dann ist da noch der vierte Bruder, der uneheliche Sohn, der damit leben muss, dass er das Produkt einer Vergewaltigung ist, von der jeder in der Stadt weiß. Er ist jeder Würde, jeden Respekts und jeden Rechts beraubt. Allein der Name, bei dem Vater Karamasow ihn seit jeher ruft, ist eine tägliche, andauernde Demütigung: Obwohl Grigori ihm bei seiner Taufe den Namen Fjodorowitsch gegeben hat, nennen Fjodor (und nach ihm alle anderen) ihn nur „Smerdjakow“, den „Stinkenden“. Auf schändlichste Weise gezeugt, im Stich gelassen und gedemütigt durch den Vater, der nichts als den Tod verdient hat. Wer soll über einen solchen Vater zu Gericht sitzen? Was, wenn es gar keine Unsterblichkeit und keine zukünftige Gerichtsbarkeit gibt? Wird dieser Mensch etwa mit all dem davonkommen, ohne dass einer derjenigen, die durch ihn gelitten haben, die Chance hätte, das Gericht an ihm zu vollstrecken? Warum nicht, wenn es keinen Gott, keine Tugend, keine Unsterblichkeit gibt? Das ist es nämlich, was er aus den stolzen Reden seines Bruders Iwan mitgenommen hat: „Wenn es keinen ewigen Gott gibt, so gibt es auch keine Tugend, und die ist dann auch gar nicht nötig“ (S. 934). Dennoch bemüht sich Smerdjakow, das Vertrauen des Vaters zu gewinnen – und er schafft es sogar als einziger der Söhne. Dies tut er jedoch nicht mit einem edlen Ziel, sondern um zu vernichten. Sein Hass, der sich nicht nur gegen den Vater, sondern auch gegen seine Brüder richtet, wird zu seinem Lebensinhalt und bestimmt seine Perspektive: Nutze deinen Intellekt, deine Fähigkeiten.

Stellen wir uns einmal vor, wie es sein muss, das Kind eines solchen Vaters zu sein. Mit vier Jahren im Stich gelassen worden zu sein, nicht aus Boshaftigkeit oder Kummer, sondern schlicht und einfach, weil „[d]er Vater [sie] vergaß und sich nicht im geringsten um sie [kümmerte]“ (S. 30), sodass sich sogar Fremde mehr scheren als der eigene Vater. Was richtet das in der Seele eines Menschen an? Halten wir das für bloße Fiktion oder kennen wir ähnliche Beispiele auch aus dem wahren Leben?

Der Mord und seine Folgen

Der Mord am Vater geschieht. Wir verfolgen Dimitri in der Nacht des Verbrechens zum Vater, erfahren aber, dass er von seinem Vater ablässt, weil „jemand um [ihn] geweint, [s]eine Mutter für mich zu Gott gebetet, oder ein lichter Geist [ihn] in jenem Augenblick umarmt und geküsst“ hat (S. 701). Was genau die Ursache ist, weiß Dimitri nicht. Auch wenn das Gericht diesen Aussagen nicht glaubt, wissen wir, dass Smerdjakow den tödlichen Schlag nicht nur vollzogen, sondern lange im Voraus geplant hat – sogar so, um ihn Dimitri in die Schuhe zu schieben. Völlig gewissenlos!

Iwan, der seinen Bruder Dimitri bisher auch verachtet hat, stößt plötzlich an die Grenzen seines Gewissens, als Smerdjakow ihm bekennt, dass er den Vater erschlagen hat. Smerdjakow nennt viele Beweise, die dafür sprechen, und wirft Iwan vor, er habe ihn zum Mord am Vater angestiftet. Da gerät Iwan ins Straucheln, denn jetzt wird der Vorwurf der Grausamkeit gegen ihn selbst gerichtet. Smerdjakow glaubt, Iwan sei „ein Mensch wie Fjodor Pawlowitsch, von allen seinen Kindern sind Sie am meisten nach ihm geartet: Sie haben dieselbe Seele wie er“ (S. 934). Liegt er wirklich richtig damit? Iwan stellt sich plötzlich die Frage nach dem Bösen in sich selbst: Habe ich es vielleicht nur geschafft, mein verdorbenes Wesen hinter einer Fassade des Intellektuellen zu verstecken? Hat er nicht gerade noch, auf dem Weg zu Smerdjakow, einen armen, betrunkenen Bauern in der kalten Nacht umgestoßen und – im Wissen, dass er erfrieren könnte – liegen gelassen? Als er mit der Möglichkeit seiner Schuld konfrontiert ist, als er befürchtet, alle Versuche, anders zu sein als sein Vater, seien gescheitert und er könne seinem eigenen Anspruch an Recht und Moral nicht gerecht werden, beginnt Iwan, sich nach einer höheren Instanz auszustrecken und Smerdjakow zuzurufen: „Gott sieht mein Herz! … [I]ch schwöre dir, ich war nicht so schuldig, wie du denkst!“ Er versucht, sein Gewissen zu bereinigen. Er verlässt Smerdjakow, kümmert sich wie der gute Samariter um den betrunkenen Bauern von der Straße und stellt sich kurz danach dem Gericht. Doch niemand glaubt seinem Bekenntnis! Stattdessen hält man ihn für einen guten Menschen, den das Übel so sehr mitgenommen hat, dass er seinen Bruder schützen und die Schuld auf Smerdjakow abladen will, der sich aber inzwischen das Leben genommen hat – und somit alle Beweise vernichtet. Iwan verfällt daraufhin dem Fieber und wir erfahren nicht, ob er es überlebt.

Es ist Smerdjakow, der seiner nihilistischen Überzeugung am treusten bleibt. Als sein Lebensziel, die Familie Karamasow zu zerstören, für ihn weitestgehend erfüllt scheint – und mit Ausnahme von Aljoscha ist es das auch – fehlt nur noch sein Selbstmord als letzter vernichtender Schlag. Somit ist der heimliche Sohn, der stets als einziger ein heimlicher Vertrauter des Vaters war, auch der heimliche Mörder.

„FMD zwingt uns beim Lesen selbst ins Verhörzimmer, in den Zeugenstand, auf die Anklagebank und entlarvt die moderne Weltanschauung ohne Gott als nicht tragfähig.“
 

Alle Versuche Dimitris, sich als unschuldig darzustellen, scheitern an seinem leidenschaftlichen Auftreten im Gericht. Alle Versuche Aljoschas oder Iwans, von Dimitri wegzuweisen, führen zu nichts. Die wirklich ausgeklügelten Argumente der Verteidigung sind vergeblich. Die Geschworenen, die fast ausschließlich aus Bauern bestehen, wollen mit all dem psychologischen „Profiling“ im Prozess nichts zu tun haben. Sie handeln scheinbar nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser: Von allen möglichen Erklärungen ist die einfachste die wahrscheinlichste, und deshalb allen anderen vorzuziehen. Lieber 100 Schuldige freisprechen, als einen Unschuldigen verurteilen – das ist für sie nicht tragbar. Ihnen gilt nur der vorliegende Fall, der sie persönlich betrifft. Dafür verantwortlich zu sein, dass ein Vatermörder freikommt, das wollen sie nicht. Sie befinden Dimitri schuldig im Sinne der Anklage. Er wird zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Brüder Karamasow und wir

Mit seinem Werk übt FMD deutliche Kritik am aufklärerischen Denken seiner Zeit. Er zwingt uns beim Lesen selbst ins Verhörzimmer, in den Zeugenstand, auf die Anklagebank und entlarvt die moderne Weltanschauung ohne Gott als nicht tragfähig. Doch vor allem zeigt er, zu welchen mörderischen Konsequenzen der Verfall des Gewissens und der Moral führt, wenn wir uns nicht dem Moralgeber gegenüber verantwortlich wissen. Eine Welt ohne den Glauben an Gott und an eine unsterbliche Seele ist für FMD sinnlos und für den Menschen unerträglich. Doch FMD übt auch Kritik an falscher, unrealistischer Frömmigkeit. Er zeigt im Evangelium einen zuverlässigen Weg der Wahrheit, der uns aus diesem Dilemma herausführt und uns die Frage nach dem Bösen, dem Leid, einer realistischen Hoffnung auf Erden und einer vollkommenen Hoffnung nach dem Tod offenbart, weil Gott sich in Christus dem Bösen gestellt, es nicht ignoriert, sondern sich selbst der menschlichen Grausamkeit ausgesetzt hat, um Hoffnung zu schaffen. FMD schafft es, sowohl Skeptikern als auch Schwärmern einen begründeten christlichen Glauben darzustellen, der die einzige Grundlage für die Gesundung der Gesellschaft ist. Im Christentum haben wir beispielsweise keine billige Vergebung, die dem Grausamen die Schuld seiner Grausamkeit einfach erlässt, sondern einen Gerechten, der wahre Gerechtigkeit schafft, und selbst das Leid der Kleinsten nicht ignoriert.

„Im Christentum haben wir keine billige Vergebung, die dem Grausamen die Schuld seiner Grausamkeit einfach erlässt, sondern einen Gerechten, der wahre Gerechtigkeit schafft, und selbst das Leid der Kleinsten nicht ignoriert.“
 

Wenn du also mit ähnlichen Fragen ringst, wenn du wissen willst, warum der Mensch so ist, wie er ist, warum eine ganze Gesellschaft so handelt, wie sie es tut, und welchen Einfluss Herkunft, Umwelt und Erfahrung auf uns haben und ob diese Einflüsse uns für unser Handeln entschuldigen mögen – sowohl aus humanistischer als auch aus christlicher Sicht –, dann solltest du Dostojewski lesen. Dennoch muss einem bewusst sein, dass die Lektüre dem Thema entsprechend herausfordernd ist und man sich durch manche befremdlichen Dialoge oder Szenen durchbeißen muss – es lohnt sich dennoch!

Die Frage ist: Stellt die Welt, in der ich lebe, mich noch vor Herausforderungen und vor Gewissensfragen, oder bin ich der Ansicht, dass ich auf alles schon eine Antwort weiß oder keine brauche, solange mein Leben in geordneten Bahnen verläuft?

Das Buch endet mit einem anderen Vater, nämlich Snegirjow, einem ehemaligen Stabskapitän, der unehrenhaft entlassen worden ist und sein Dasein in schrecklicher Armut fristet, mit einer geisteskranken Frau und drei kranken Kindern. Eines Tages lässt sich Dmitri dazu hinreißen, Snegirjow aus unbedeutenden Gründen vor den Augen seines Sohnes Iljuscha in aller Öffentlichkeit auf grausame Weise zu demütigen – so schwer, dass es den Jungen zutiefst verletzt. Snegirjow lässt sich aber trotz all dieser Demütigungen, der Armut und der Leiden nicht davon abhalten, sich so gut es geht um seine kranke Familie zu kümmern. Seinen Sohn liebt er heiß und innig, und auch Iljuscha liebt seinen Vater über alles. Mit diesen Eigenschaften bildet Snegirjow den absoluten Gegensatz zu Fjodor Karamasow.

Im Laufe des Buches erkrankt Iljuscha an Tuberkulose, womit Snegirjow seinen geliebten Sohn viel zu früh verliert. Am Grab dieses geliebten Kindes stellt Aljoscha die Frage, was für uns zu tun übrig bleibt, damit wir – die wir an Gott und die Unsterblichkeit der Seele glauben – nicht dem Bösen der Welt verfallen oder den Mut verlieren: „[E]ine schöne, heilige Erinnerung, die man sich aus der Kindheit bewahrt hat, ist vielleicht die allerbeste Erziehung … nur eine einzige gute Erinnerung in unserem Herzen … kann uns einmal zur Rettung dienen … [F]ürchten [wir] uns nicht vor dem Leben! Denn wie schön ist das Leben, wenn man Gutes und Gerechtes tut“ (S. 1146–1147).

Verwendete Fassung: Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Die Brüder Karamasow, übers. v. Hermann Röhl, Köln: Anaconda Verlag, 2010.