Soziale Medien, Identität und die Gemeinde

Artikel von Timothy Keller
7. November 2022 — 16 Min Lesedauer

Kürzlich nahm ich an einem Zoom-Forum von Journalisten und Akademikern teil, die über die zunehmende Polarisierung der amerikanischen Kultur diskutierten. An einer Stelle sagte einer der männlichen Teilnehmer: „Wenn ich ein öffentliches Forum erschaffen wollte, das den zivilen Diskurs untergräbt und zur sozialen Spaltung führt, könnte ich nichts Besseres tun, als Twitter zu erfinden.“ Eine angesehene Journalistin, die fast ein Jahr lang daran gearbeitet hatte, die Funktionsweise der sozialen Medien zu verstehen, stimmte ihm zu.

Beide liegen richtig, glaube ich. Trotzdem gehe ich nicht davon aus, dass die sozialen Medien verschwinden werden, da sie auch enorme Vorteile mit sich bringen. Außerdem sind sie, vor allem bei jungen Menschen, tief in der Psyche verankert. Als Christen können wir die sozialen Medien also nicht einfach ignorieren, sondern müssen vor allem anfangen, sie zu verstehen.

Helfen kann uns dabei das Buch Breaking the Social Media Prism: How to Make Our Platforms Less Polarizing von Chris Bail (Princeton, 2021). Es handelt sich um kein religiöses, sondern um ein sozialwissenschaftliches Werk (Bail ist Soziologieprofessor an der Duke University). Trotzdem können seine Erkenntnisse für das Verhalten von Christen und ihren Umgang mit den sozialen Medien von Bedeutung sein – und tatsächlich stimmen viele seiner abschließenden Prinzipien für einen „Weg nach vorne“ mit der christlichen Ethik überein. Folgendes können wir aus dem Buch lernen:

Echokammern sind nicht das Problem

„Die sozialen Medien sind für viele Menschen zu einem Ort geworden sind, an dem sie ihr Selbst kuratieren, sodass sie gegenteilige Ansichten als Angriffe auf ihre Identität betrachten.“
 

Bail beginnt mit dem Problem der sozialen und politischen Polarisierung und fragt, wie die sozialen Medien dazu beitragen. Die gängige Antwort lautet, dass Algorithmen uns in „Echokammern“ oder „Blasen“ halten, in denen wir nur Nachrichten und Meinungen von unserer eigenen Seite hören, was dann zu Spaltung und Extremismus führt. Bail verweist jedoch auf Untersuchungen, die das Gegenteil zeigen: Die tägliche Auseinandersetzung mit politischen und kulturellen Inhalten (und nicht nur mit den bösen und ätzenden Versionen) der anderen Seite bestärkt Menschen in ihren Ansichten oder macht sie sogar extremer. Menschen, die sich regelmäßig gegenteilige Meinungen angehört haben, haben ihre Ansichten nicht angepasst und sind auch nicht ausgewogener oder moderater geworden. Das liegt daran, dass die sozialen Medien für viele Menschen zu einem Ort geworden sind, an dem sie ihr Selbst kuratieren, sodass sie gegenteilige Ansichten als Angriffe auf ihre Identität betrachten (vgl. S. 31).

Es geht um Identität statt Ideen

Charles Horton Cooley erklärt, dass „wir unser Selbstkonzept entwickeln, indem wir beobachten, wie andere Menschen auf die verschiedenen Versionen von uns reagieren, die wir präsentieren“ (S. 49). Als Menschen, so Cooleys Meinung, brauchen wir nicht in erster Linie ein Selbstwertgefühl. Vielmehr ergeben sich unser Selbstwertgefühl und unsere Identität hauptsächlich aus dem, was Außenstehende in uns sehen und über uns sagen.

Cooleys Konzept des „Spiegel-Selbst“ steht der biblischen Lehre durchaus nahe, dass wir „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen sind – nämlich geschaffen, um ihn zu reflektieren. So wie ein Spiegel kein Licht erzeugen, sondern es nur reflektieren kann, brauchen wir die Bestätigung von außen – wir können uns nicht selbst bestätigen.

In der Vergangenheit haben die meisten Menschen ihre Identität daraus bezogen, wie gut sie Gott, der Familie, der Nachbarschaft und der Nation dienten. Identität entstand, indem man (1) herausfand, was Familie und Nachbarn von einem erwarteten, (2) positive und negative Rückmeldungen über sein Verhalten erhielt und (3) indem man sein Leben entsprechend diesen Erwartungen (um)gestaltete, um von der einen (real) umgebenden Gemeinschaft regelmäßig Bestätigung und Bekräftigung zu erhalten.

In unserer mobilen, individualistischen, therapeutischen und technologiegesteuerten Kultur haben wir uns jedoch mehr und mehr von echter persönlicher Gemeinschaft abgekoppelt. Und in unserer zunehmend säkularen Gesellschaft haben Gott und der Glaube als Mittel zur Identitätsstiftung ausgedient. Unsere Beziehungen haben sich ausgedünnt und unsere Identität ist brüchiger geworden. Und auch wenn die moderne therapeutische Kultur uns sagt, dass wir nach innen schauen, unsere eigene Identität schaffen und uns selbst bestätigen sollen, haben viele führende Denker (allen voran Charles Taylor) gezeigt, dass dies unmöglich ist und wir äußerst beziehungsorientierte Wesen sind.

Wie aber können sozial isolierte Menschen mit einem fragilen Selbst die Bestätigung finden, die sie brauchen? Die sozialen Medien sind für uns zu einem Ort geworden, an dem wir die Kontrolle über unsere Selbstdarstellung haben (man muss nicht mehr täglich persönlich mit „echten“ Menschen zusammenkommen). Hier erhalten wir in einem noch nie dagewesenen Ausmaß und in noch nie dagewesener Geschwindigkeit Feedback zu dieser Darstellung von uns selbst (vgl. S. 51). Es ist der Ort, an dem wir unsere Identitäten ständig kalibrieren und kuratieren können, um von unserer selbstgewählten (und möglichst großen) Gemeinschaft Bestätigung zu erhalten.

Soziale Medien sind also nicht in erster Linie ein Ort des öffentlichen Austauschs von Ideen. Ideen sind lediglich Mittel und Wege, um sich selbst zu definieren und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu signalisieren. Außerdem weist man anderen Identitäten zu, indem man sie mit Gruppen in Verbindung bringt, die man ablehnt. Aus diesem Grund haben die sozialen Medien die Kunst des „böswilligen Lesens“ perfektioniert – d.h. sie interpretieren das, was jemand sagt, in einem möglichst schlechten Licht. Man bemüht sich nicht darum, das Argument in seiner stärksten Form zu verstehen und darauf zu antworten. Es geht vielmehr darum, den anderen mit beschämenden „Tabugruppen“ in Verbindung zu bringen.

„Die öffentliche Diskussion in den sozialen Medien ist ein Mittel zum Zweck der Identitätsbildung, der Statussuche und der sozialen Bindung in einer Kultur, die ältere Methoden zur Erfüllung dieser Funktionen ausgehöhlt hat.“
 

Dies ist keineswegs die einzige Art und Weise, wie Diskussionen in sozialen Medien geführt werden. Aber ich glaube, dass Bail richtig liegt, wenn er behauptet, dass dies die Dynamik ist, die den Diskurs am häufigsten bestimmt. Die öffentliche Diskussion in den sozialen Medien ist ein Mittel zum Zweck der Identitätsbildung, der Statussuche und der sozialen Bindung in einer Kultur, die ältere Methoden zur Erfüllung dieser Funktionen ausgehöhlt hat (vgl. S. 53).

Bail beobachtet zwei praktische Folgen davon: Soziale Medien fördern den Extremismus und schalten die Moderaten stumm. Sie verstärken und ermächtigen die Stimmen derjenigen, die sich an den politischen und kulturellen Extremen der Linken und der Rechten befinden, während sie die Stimmen der Mitte unterdrücken.

Soziale Medien fördern den Extremismus

Bail definiert „Extremisten“ und „Moderate“ objektiv. Soziologen haben eine ziemlich genaue Vorstellung von den politischen und kulturellen Ansichten der US-Bevölkerung. Wenn Bail also von jemandem mit „extremen“ Ansichten spricht, bezieht er sich auf Zahlen – er meint jemanden, der zu den konservativsten oder liberalsten 5 bis 10 % gehört.

Bail stellt fest, dass 6 % aller Twitter-Nutzer 20 % aller Tweets und 70 % aller Tweets, in denen nationale Politik erwähnt wird, verfassen – und diese 6 % stammen hauptsächlich von den Extremen (vgl. S. 76). Das ist keine Überraschung. Aufschlussreich ist jedoch die Untersuchung, die Bail über viele derjenigen vorlegt, die im Internet lautstarke und extreme Positionen vertreten.

Erstens zeigt die Forschung, dass diejenigen, die extreme Positionen vertreten, das haben, was Erving Goffmann eine „verdorbene Identität“ genannt hat. Im wirklichen Leben ist es ihnen nicht gut ergangen. Extremisten „haben oft keine Anerkennung in ihrem Offline-Leben“ und sind ausgegrenzt worden (vgl. S. 56). Zweitens sind ihre Online-Persönlichkeiten oft ganz anders (viel aggressiver) als ihre Persönlichkeiten im Offline-Leben (ebd.). Drittens lehnen sie es in der Regel strikt ab, als extremistisch bezeichnet zu werden (auch wenn sie zu den 5 bis 10 % gehören). Als Teil einer kleinen (extremistischen) „Randgruppe“ am Ende eines breiten Spektrums gesehen zu werden, ist natürlich diskreditierend. Deshalb übertreiben Extremisten sowohl ihre eigenen Zahlen als auch die Macht und die Zahlen der anderen extremen Seite. Dadurch wird das Bild eines Spektrums verdrängt und durch das Bild zweier Armeen ersetzt – mit einer kleinen Anzahl von Feiglingen in der „Mitte“, die sich keiner der beiden Armeen angeschlossen haben. Um dieses Bild zu verstärken, ziehen es die Extremisten vor, die Moderaten auf ihrer eigenen Seite anzugreifen. Indem sie diese als prinzipienlose Kompromissler oder „in Wirklichkeit“ als heimliche Mitglieder der anderen Seite stigmatisieren, können sie Macht gewinnen, indem sie die Kultur nicht als Spektrum, sondern als Kampf zwischen Gut und Böse darstellen, wobei sie selbst Teil des kommenden Mainstreams sind (vgl. S. 64-65).

Soziale Medien helfen Extremisten also dabei, ein Gesellschaftsbild zu schaffen, das stark verzerrt ist; damit können sie ein Selbst kuratieren, das sich von dem des wirklichen Lebens unterscheidet. Aus diesem Grund nennt Bail die sozialen Medien ein „Prisma“ – etwas, das unseren Blick auf den Einzelnen und die Gesellschaft verzerrt.

Soziale Medien schalten die Moderaten stumm

Moderate werden als Menschen definiert, die politische und kulturelle Ansichten vertreten, die von einer Mehrheit der Menschen geteilt werden. Die sozialen Medien fördern nicht nur den Extremismus, sondern schalten auch die Moderaten stumm. Wie machen sie das?

Moderate sind erstens oft Menschen mit einer stärkeren Offline-Identität – sie sind erfolgreich, genießen sozialen Status und sind vermutlich Teil einer echten Gemeinschaft –, wodurch sie im Internet entsprechend viel zu verlieren haben. Während Extremisten nur online Status und Zugehörigkeit erlangen können, fürchten Moderate (zu Recht), etwas zu sagen, das andere verärgern und ihre Karriere oder Beziehungen gefährden könnte. Während also die zerbrechliche Identität der Extremisten im Internet einen großen Schutz erfährt, wird die Identität der Moderaten durch das Internet bedroht.

Da es sich bei den sozialen Medien zweitens um ein verzerrendes Prisma handelt, haben Moderate den Eindruck, dass die Mitte verschwindet und es daher sinnlos ist, sich zu äußern. Bail argumentiert, dass die „falsche Polarisierung“ – „die Tendenz, das Ausmaß der ideologischen Unterschiede zwischen sich selbst und den Angehörigen der anderen politischen Parteien zu überschätzen“ (S. 75) – zwar stark zugenommen hat, die Verteilung der politischen Ansichten jedoch im Wesentlichen gleich geblieben ist. Statistisch gesehen schrumpft die Zahl der moderaten Politiker (oder der Menschen, die „liberale“ und „konservative“ Ansichten miteinander vereinen) nicht.

Drittens werden, wie wir gesehen haben, Moderate oft mit enormer Schärfe angegriffen – gerade weil sie moderat sind. Extremisten müssen dies tun, um das Bild einer politischen Realität zu schaffen, die ihre gewählten Identitäten untermauert. Moderate Ansichten werden oftmals von zwei Seiten angegriffen: Einerseits durch „böswillige Lesarten“, die die Aussage im schlimmstmöglichen Licht interpretieren, und andererseits dadurch, dass ihnen selbst ein sozialer Standort oder eine Identität zugewiesen wird, die sie nicht für sich beanspruchen: „Du bist in Wirklichkeit nur [bspw. ein weißer Rassist oder Kulturmarxist]“ oder „Als ein [X] hast du kein Recht, mit oder über [Y] zu sprechen. [Z] dich!“

Eine neue Plattform schaffen

Fassen wir zusammen, was wir gelernt haben. Soziale Medien sind erstens ein Ort der Identitätsbildung und nicht des Ideenaustauschs, was daran liegt, dass sie Extremisten fördern und Moderate stummschalten. Zweitens, weil der Online-Extremismus die soziale Realität verzerrt (sie als extrem darstellt) und Online-Persönlichkeiten somit oft von der individuellen Realität losgelöst sind, „verzerrt das Prisma der sozialen Medien unweigerlich, was wir sehen, und schafft für viele Menschen eine wahnhafte Form des Selbstwerts“ (S. 66).

Das sind ernste Probleme, denn die sozialen Medien begreifen sich als neue „Öffentlichkeit“, die Versammlungen, Bürgerversammlungen, Zeitungen und Printmedien als Orte des Gedankenaustauschs und der Debatte ablöst. Sie stellen sich nicht nur so dar, sondern werden auch von Journalisten und Akademikern als solche wahrgenommen – sie sind in den sozialen Medien stark vertreten. Die mächtigsten kulturellen „Torwächter“ glauben also, dass die sozialen Medien uns die soziale und persönliche Realität zeigen, obwohl die Forschung (und die Intuition vieler) zeigt, dass sie diese Dinge verzerren.

Was sollte getan werden? In seinen letzten beiden Kapiteln warnt Bail davor, zu glauben, die sozialen Medien würden einfach zusammenbrechen und durch etwas Besseres ersetzt werden. Er zeigt, wie Menschen, die den sozialen Medien abgeschworen hatten, oftmals am Ende doch wieder zu ihnen zurückkehrten.

Stattdessen formuliert er vorsichtig Ideen für eine Social-Media-Plattform, auf der tatsächlich über Ideen und nicht über Identitäten diskutiert werden kann (siehe Kapitel 9, „A Better Social Media“). Seine Ideen sind sehr wertvoll und wir sollten ihn und andere unterstützen, die versuchen einen solchen Raum zu schaffen. Die grundlegende Aufgabe besteht darin, eine Plattform zu schaffen, auf der „Gefällt mir“-Zähler durch Zähler ersetzt werden, die Beiträge belohnen, die Werte verwenden, die die andere Seite ansprechen, und die Positionen der Gegner in einer Weise darlegen, die sie selbst gutheißen (vgl. S. 129). Eine solche Plattform würde Beiträge belohnen und hervorheben, die beide Seiten für fair und gut begründet halten.

Einige seiner Vorschläge sind für Christen sehr interessant. Könnten wir einen Raum schaffen, in dem religiöse, kulturelle und politische Ansichten debattiert und diskutiert werden können, ohne die Verzerrungen der derzeitigen sozialen Medien zuzulassen? Es sieht so aus, als könnten wir das.

Social-Media-Plattformen hacken

In Kapitel 8 formuliert Bail mehrere Grundsätze, die in den sozialen Medien seiner Meinung nach eher zu Überzeugung als zu Polarisierung führen. Die fünf, die ich im Folgenden nenne, haben einige verblüffende Parallelen in der Bibel, die ich nur am Rande erwähnen kann. Sie lauten:

  1. Höre lange und intensiv zu (vgl. Jak 1,19 – „Seid schnell zum Hören und langsam zum Reden“). Warte ab, bevor du jemanden konfrontierst. Folge ihm zunächst für eine Weile und höre ihm zu. Du solltest seine Ansichten im bestmöglichen Licht interpretieren, damit du etwas Positives in ihnen finden kannst.
  2. Gebrauche das Vokabular der anderen Seite und beziehe dich auf ihre Autoritäten (vgl. Apg 17,23.28). Paulus bezieht sich in seiner Rede vor den stoischen und epikureischen Philosophen in Apostelgeschichte 17 auf deren eigene Denker (Epimenides und Aratus). In Johannes 1,1 verwendet der Verfasser des Evangeliums einen griechisch-philosophischen Begriff (logos).
  3. Wenn du eine bestimmte Weltanschauung kritisierst, solltest du gleichzeitig einem Aspekt dieser Weltanschauung zustimmen (vgl. Apg 17,29; 1Kor 1,22–24). Verwende Argumente, die „mit den Weltanschauungen der Menschen, die du überzeugen willst, übereinstimmen“ (S. 110). Anstatt zu sagen: „Ich habe recht und du hast unrecht“, solltest du es lieber so formulieren: „Du glaubst das. Großartig! Aber warum glaubst du dann nicht auch daran? Daraus folgt doch ...“ Achte einmal darauf, wie Paulus in Apostelgeschichte 17,29 vorgeht, wenn er in Vers 29 (mit eigenen Worten ausgedrückt) so argumentiert: „Wenn Gott uns geschaffen hat, wie das ja auch eure Philosophen sagen, wie könnte er dann durch Götzen verehrt werden, die wir geschaffen haben?“ Beachte auch, wie er das Evangelium sowohl den Juden als auch den Griechen präsentiert – nämlich indem er ihre kulturellen Ziele identifiziert und bestätigt, jedoch die götzendienerische Art und Weise, wie sie diese Ziele verfolgen, infrage stellt und sie dann umlenkt, damit sie ihre tiefsten kulturellen Bestrebungen in Christus erfüllt bekommen.
  4. Sei bereit, auch selbstkritisch zu sein (vgl. Mt 3,2, wo Johannes der Täufer zur Buße aufruft). Verteidige nicht alles, was du oder deine Partei oder deine Leute gesagt oder getan haben. Nicht jede Position verdient es, bis aufs Letzte verteidigt zu werden.
  5. Trenne klar zwischen deinen Ideen und deiner Identität (vgl. 2Tim 2,24–26). Unterscheide klar zwischen deiner Identität und deinen Überzeugungen, da sonst jede Meinungsverschiedenheit zu einem Angriff auf deine Existenz wird. Ich fürchte, dass wir hier beobachten können, wie Christen sich „diesem Weltlauf an[passen]“ (Röm 12,2), indem sie zulassen, dass sich ihre Identität durch das Prisma der sozialen Medien formiert. Christliche Identität ist keine Leistung – sie ist ein kostenloses Geschenk der unveränderlichen Liebe und Wertschätzung Gottes auf der Grundlage des vollkommenen Werkes Christi. Deshalb kann Paulus in 1. Korinther 4,3–4 sagen:
„Mir aber ist es das Geringste, dass ich von euch oder von einem menschlichen Gerichtstag beurteilt werde; auch beurteile ich mich nicht selbst. Denn ich bin mir nichts bewusst; aber damit bin ich nicht gerechtfertigt, sondern der Herr ist es, der mich beurteilt.“ (1Kor 4,3–4)

Was andere über ihn denken, regt Paulus überhaupt nicht auf und er lässt sich auch nicht davon unterkriegen. Aber diese Haltung beruht nicht auf seiner eigenen Selbsteinschätzung. Jesus wurde an Paulus‘ Stelle gerichtet, weshalb er nun wissen kann, dass Gott ihn in Christus annimmt (siehe den ganzen Römerbrief!).

Paulus kann (ebenso wie Jesus) scharf zu Gegnern sprechen – aber er tut das nie, weil er sich nicht beherrschen kann oder sich in seiner Identität angegriffen fühlt. Christen werden jedoch oft in die spaltende und spalterische Dynamik der sozialen Medien hineingezogen und erlauben dann dem Prisma, ihnen eine verzerrte Identität zuzuweisen. Aber wie Paulus sagt, haben wir die Ressourcen für eine zutiefst sichere Identität und ein Selbstwertgefühl, das uns in die Lage versetzt, sowohl sanft als auch scharf zu unseren Gegnern zu sprechen. Wie wir reden, hängt davon ab, was die andere Seite braucht, und nicht davon, ob wir zornig oder beleidigt sind.

„Wir sind weit, weit davon entfernt, uns durch unsere Liebe in diesem Medium vom Rest der Welt zu unterscheiden.“
 

Ich glaube nicht, dass Christen den sozialen Medien in nächster Zeit entkommen können. Jesus sagt, dass die Welt an der Liebe der Christen erkennen wird, dass er vom Vater gekommen ist (vgl. Joh 17; 1Joh), aber wir sind weit, weit davon entfernt, uns durch unsere Liebe in diesem Medium vom Rest der Welt zu unterscheiden.

Könnten wenigstens einige von uns für ihre Liebe im Internet bekannt sein? Und könnten wir uns am Aufbau neuer Öffentlichkeitsräume beteiligen, in denen wir unseren Glauben selbstbewusst präsentieren und gleichzeitig unseren Kritikern aufmerksam und demütig zuhören können?

Ja, das könnten wir. Aber werden wir?