Kongregationalismus

Mehr als eine Abstimmung bei der Mitgliederversammlung

Artikel von Sam Emadi  und Caleb Greggsen
3. November 2022 — 8 Min Lesedauer

Kongregationalisten sind überzeugt, dass die Mitglieder der Ortsgemeinde die letzte Verantwortung für Mitgliederaufnahmen und -austritte, Jüngerschaft und Gemeindezucht sowie die Lehre in der Gemeinde haben. Doch was bedeutet das? Sind die Mitglieder für einen Teil des Gemeindelebens zuständig, während die Ältesten den Rest erledigen? Erfüllen wir als Mitglieder unsere Pflicht, wenn wir bei Mitgliederversammlungen bibelgemäß abstimmen, oder gehört mehr dazu als unser „Ja“ oder „Nein“?

Am einfachsten kann man den Kongregationalismus bei Mitgliederversammlungen erkennen, wenn die ganze Gemeinde ihrer Verantwortung nachkommt, Menschen in die Gemeinde aufzunehmen oder sie aus der Gemeinde auszuschließen. Gemessen am gesamten Gemeindeleben könnten diese seltenen Versammlungen jedoch eher unbedeutend erscheinen. Was ist mit allen anderen Tagen im Jahr? Inwiefern „passiert“ Kongregationalismus dann? Ist es nicht eher so, dass kongregationalistische Gemeinden in Wahrheit eigentlich von Ältesten geleitet werden – außer wenn wir ein paarmal im Jahr darüber abstimmen, ob wir neue Mitglieder aufnehmen?

„Ein großer Vorteil einer kongregationalistischen Gemeindeordnung besteht darin, dass Gemeindemitglieder ständig daran erinnert werden, dass es der Inbegriff von Gemeinde ist, Verantwortung für andere Christen zu übernehmen.“
 

Dieser Artikel möchte nicht die Beziehung zwischen der Autorität der Ältesten und der letzten Autorität der Gemeinde unter die Lupe nehmen. Älteste sind ein gutes und kostbares Geschenk an die Gemeinde, und wir sollten uns ihnen in angemessener Weise unterordnen. Wir möchten vielmehr aufzeigen, dass die letzte irdische Autorität der Gemeinde für Mitgliedschaft, Gemeindezucht und Lehre nicht einfach bedeutet, dass sie in einem Bereich des Gemeindelebens Autorität hat und die Ältesten sich um den Rest kümmern. Nein, die gemeinsame Verantwortung aller Mitglieder für diese drei Dinge ist tatsächlich ihre Verantwortung für das gesamte Gemeindeleben.

Der Kongregationalismus ist keine „Extra-Funktion“, die bei Mitgliederversammlungen aktiviert und danach wieder deaktiviert wird. Die Verantwortung der Gemeinde über Mitgliedschaft, Gemeindezucht und Lehre sollte ständig wahrgenommen werden. Sie sollte sich jederzeit auswirken, zum Beispiel darauf, wie die Ältesten die Gemeinde leiten. Sie sollte die Mitglieder dazu anhalten, sich umeinander zu kümmern und einander zu fördern. Ein großer Vorteil einer kongregationalistischen Gemeindeordnung besteht darin, dass Gemeindemitglieder ständig daran erinnert werden, dass es der Inbegriff von Gemeinde ist, Verantwortung für andere Christen zu übernehmen. Kongregationalismus bedeutet, dass alle Mitglieder allezeit für das gesamte Gemeindeleben verantwortlich sind.

Mitgliedschaft und Gemeindezucht

Wir können leicht dem Denkfehler verfallen, dass Mitgliedschaft, Gemeindezucht und Lehre nur vereinzelte Veranstaltungen der Gemeinde betreffen, anstatt das gesamte Gemeindeleben. Mit anderen Worten: Wenn die Autorität über Mitgliedschaft, Gemeindezucht und Lehre nur das Abstimmen an sich bedeutet, kann man leicht nachvollziehen, wie eine kongregationalistische Gemeindeordnung sich für manche wie ein unnötiges Hindernis für das Gemeindeleben anfühlt. Doch wenn die gesamte Gemeinde eine Person als Mitglied aufnimmt, trägt diese Gemeinde ab jetzt die Verantwortung dafür, auf diese Person achtzuhaben, sie zu ermutigen und zu ermahnen – auch lange nach jener Mitgliederversammlung! Die Gemeinde ist nun für das Glaubenswachstum dieser Person verantwortlich. Die Autorität, zu binden und zu lösen (vgl. Mt 16,19), wird nicht nur bei den einmaligen Ereignissen der Mitgliedsaufnahme bzw. des Ausschlusses zum Ausdruck gebracht.

„Die Abstimmung über die Aufnahme eines neuen Mitglieds gleicht eher einer Hochzeit als einer Stimmabgabe bei den nächsten Regionalwahlen.“
 

Die Abstimmung über die Aufnahme eines neuen Mitglieds gleicht folglich eher einer Hochzeit als einer Stimmabgabe bei den nächsten Regionalwahlen. Eine Ehe schließt die Hochzeit zwar mit ein, doch dieses Ereignis gibt nur den Startschuss für die alltäglichen Verpflichtungen und Aufgaben, welche die Eheleute nun füreinander übernehmen. Wenn eine Gemeinde ein neues Mitglied aufnimmt, übernimmt jene Gemeinde als Ganze die (all)tägliche Pflicht, sich mit dem neuen Mitglied zu treffen, für es zu beten und es in Jüngerschaft anzuleiten – sowohl unter der Woche als auch bei den Gemeindezusammenkünften. Und wenn eine Gemeinde eine Person von der Mitgliedschaft ausschließt, ist die gesamte Gemeinde verpflichtet, diese Person als Zöllner zu behandeln und sie zur Buße zu rufen. Die Autorität der Gemeinde über Mitgliedschaft und Gemeindezucht zeigt sich also nicht nur bei einmaligen Ereignissen, sondern täglich.

Lehre

Wie ist es aber mit der Lehre? Wird die Autorität einer Gemeinde über die Lehre nur durch eine einmalige positive Stimmabgabe zum Glaubensbekenntnis der Gemeinde oder durch das Zurechtweisen von Irrlehrern zum Ausdruck gebracht? Diese Dinge gehören sicherlich dazu, aber die Verantwortung, die eine Gemeinde in der Aufsicht über die Lehre hat, kann ebenfalls nicht bloß auf ein Ereignis reduziert werden.

Alle Gemeindemitglieder sind zum Beispiel dafür verantwortlich, bibeltreue Lehre zu bestätigen, zu fördern und sie auch zu erwarten – und dabei jene doppelter Ehre wert zu achten, die der Gemeinde gut vorstehen (vgl. 1Tim 5,17). Zudem sollten die Gemeindemitglieder innerhalb der theologischen Standpunkte und Überzeugungen der Gemeinde bleiben und diese anwenden, ausleben und anderen Mitgliedern helfen, dasselbe zu tun. Wir betrachten unsere Prediger meistens als die Einzigen, die bei den Gottesdiensten „Theologie betreiben“. Die Gemeindeglieder haben jedoch die Verantwortung dafür, bibeltreue Lehre in den Predigten zu bestätigen und einander zu ermutigen: „Lasst uns das ausleben! Lasst uns einander helfen, diese Wahrheiten anzuwenden und in ihnen zu leben!“ Wie 2. Timotheus 4,3–4 negativ hervorhebt, ist das Anhören einer Predigt eine theologische Tätigkeit, mit der man dem Inhalt dessen, was gelehrt wurde, zustimmt oder widerspricht.

Der Rest

Nun bleibt noch die Frage, was mit dem Rest des Gemeindelebens ist. Was haben Dinge wie das Budget, Kurse, Hauskreise, Mission und die anderen Dienstbereiche der Gemeinde mit Mitgliedschaft, Gemeindezucht und Lehre zu tun? Liegen diese Dinge außerhalb der Verantwortung der Mitglieder?

Nein. Alles, was zum Gemeindeleben dazugehört, ist schließlich Ausdruck der theologischen Überzeugungen der Gemeinde. Der Zusammenhang mit der Lehre der Gemeinde mag manchmal mehr, manchmal weniger direkt sein, doch all diese Dinge erfordern die praktische Anwendung der Gemeindelehre – oder natürlich den Widerspruch gegen dieselbe. Angebotene Kurse sind eine Erweiterung des Lehrdienstes der Gemeinde; die oben ausgeführten Aussagen über die Lehre der Gemeinde gelten also auch hier. Das Budget spiegelt die lehrmäßigen Überzeugungen der Gemeinde wider. Das Konzept für Hauskreise drückt theologische Prioritäten und Ziele aus. Auch Strategien im Bereich Mission offenbaren eine Menge theologischer Ansichten.

„Kongregationalismus bedeutet, dass alle Mitglieder zusammen ihre Verantwortung dafür wahrnehmen, wer zur Gemeinde gehört, wie sie miteinander umgeht und was sie lehrt.“
 

Wir rufen hier nicht zum demokratischen Chaos auf. Älteste müssen leiten und ihre Autorität ausüben. So wählen die Ältesten vielleicht die Kursleiter und -inhalte aus, doch die Gemeindeglieder sind immer noch verantwortlich dafür, das Gelehrte zu bewerten und zu bestätigen und einander in dieser Lehre zu ermutigen. Außerdem können sie bei Irrlehre auch die „Notbremse“ ziehen. Nicht jedes Mitglied sollte aktiv bei der Budgetplanung involviert sein. Die Gemeinde als Ganze sollte jedoch ihre Verantwortung wahrnehmen, das Gemeindebudget zu begutachten, es zu bestätigen und es mit ihren Spenden zu finanzieren. Auch sollten die Mitglieder von ihrem Vetorecht Gebrauch machen und um Überarbeitung bitten, um das Budget besser mit den lehrmäßigen Überzeugungen der Gemeinde in Übereinstimmung zu bringen. Die Mitglieder sind wie der Motor eines Autos: Die Ältesten drücken vielleicht aufs Gas und lenken, aber wenn der Motor nicht läuft, bewegt sich das Auto nicht vom Fleck.

Mit anderen Worten: Kongregationalismus bedeutet nicht, dass jedes einzelne Mitglied bei allem, was eine Gemeinde tut, seine Hände im Spiel hat. Er bedeutet jedoch, dass alle Mitglieder zusammen (als Gemeinde) ihre Verantwortung dafür wahrnehmen, wer zur Gemeinde gehört, wie sie miteinander umgeht und was sie lehrt. Mitgliedschaft, Gemeindezucht, Lehre – das ganze Gemeindeleben.

Vom Papier zur Praxis

Wie bewegt man eine Gemeinde also dazu, Verantwortung für das ganze Gemeindeleben zu übernehmen? Ein Gemeindeforum, bei dem man Fragen stellen kann, könnte helfen – oder auch ein Kurs über die Gemeindeordnung. Einfach mehr Veranstaltungen zu planen, schießt jedoch am Ziel vorbei, weil Veranstaltungen den Gemeindemitgliedern nicht helfen werden, ihre Verantwortung im Alltag wahrzunehmen.

Kongregationalismus dreht sich viel weniger um die Abstimmung bei den Mitgliederversammlungen, sondern viel grundlegender um den Christen, der aus eigener Initiative mit einer Person, die gerade zum Glauben gekommen ist, die Bibel liest. Er wird dort sichtbar, wo das Herz eines Gemeindemitglieds wegen der verheerenden Folgen von Sünde für die Gemeinde zerbricht und deshalb ein anderes Mitglied zur Buße mahnt. Beim Kongregationalismus geht es um das Glied, das den ganzen Leib der Gemeinde dazu aufruft, für seine ungläubigen Arbeitskollegen zu beten. Jeder Gemeindeleiter (egal welche Gemeindeverfassung seine Gemeinde hat) weiß solche Dinge zu schätzen. Doch nur der Kongregationalismus erkennt an, dass solche Dinge der Kern dessen sind, was aus einer Gruppe von Christen eine Gemeinde macht.

Diese Art von lebendigem, pulsierendem Kongregationalismus erfordert viel Arbeit. Es gibt keine Abkürzung, wenn es darum geht, eine Gemeinde darin zu schulen, ihre von Gott gegebene Verantwortung für das gesamte Gemeindeleben anzunehmen und auszuleben. Dafür sind Älteste da: um die Heiligen für den Dienst zuzurüsten, zur Erbauung des Leibes Christi (vgl. Eph 4,12). Diese Art der Zurüstung und Unterweisung ist langwierig, langsam und manchmal auch frustrierend. Selbst wenn man sie einmal eingeführt hat, muss man ständig daran arbeiten, diese Vitalität aufrechtzuerhalten. Reduziert man den Kongregationalismus einfach nur auf Mitgliederversammlungen, beraubt man sich jedoch selbst vieler Segnungen, die der Herr seiner Gemeinde durch eine gute Kirchenordnung schenken will.