Muss ich wirklich Mitglied werden?
In meinem Umfeld nehme ich unterschiedliche Reaktionen auf das Thema „Gemeindemitgliedschaft“ wahr. Während für einige Christen das Konzept einer verbindlichen Gemeindemitgliedschaft normaler Bestandteil ihrer Jesus-Nachfolge ist, stoßen sich andere wiederum an einer formellen Mitgliedschaft oder stehen ihr zumindest skeptisch gegenüber. Jüngerschaft und Nachfolge – diese beiden sind eindeutig biblisch. Aber Mitgliedschaft? Kommt sie in der Bibel denn überhaupt vor? Können wir denn nicht einfach im Glauben wachsen, ohne einen organisatorischen Überbau einer formalisierten Gemeinde zu haben? Theoretisch bleibt vieles vorstellbar. Doch ich bin überzeugt, dass eine verbindliche Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde für die Jesus-Nachfolge und das Leben der Jüngerschaft notwendig ist.
Natürlich muss ich meine Auffassung biblisch belegen! Deshalb möchte ich vier Aussagen der Bibel über ein christliches Miteinander herausgreifen und auf den Gemeindealltag anwenden. Gehen wir doch mal ganz praktisch vor und fragen uns ehrlich, ob es nicht auch möglich wäre, eine geistlich reife Gemeinschaft ohne verbindliche Mitgliedschaft zu erreichen. Hier können uns die Erfahrungen der noch nicht ganz ausgelaufenen Pandemie eine Hilfe sein. Ich lade dich deshalb ein, dein vorhandenes Mitgliedschaftsverständnis einem Praxistest zu unterziehen.
Grundsätzliches zur Gemeindemitgliedschaft
Die Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde sollte nie einen rein formellen Status haben, sondern immer Ausdruck der geistlichen Beziehung des Gläubigen zu Jesus und auch zu den anderen Gläubigen sein. Paulus schreibt:
„Denn wie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl viele, ein Leib sind: so auch der Christus. Denn in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt worden.“ (1Kor 12,12)
„Die formelle, sichtbare Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde soll dazu dienen, die unsichtbare geistliche Realität hinter den Beziehungen der Christen untereinander widerzuspiegeln.“
Die formelle, sichtbare Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde soll dazu dienen, die unsichtbare geistliche Realität hinter den Beziehungen der Christen untereinander widerzuspiegeln. Hier müssen wir zwischen der universalen, weltweiten Gemeinde Jesu und der Ortsgemeinde unterscheiden. Von Gottes Perspektive aus gibt es keine Kinder, die nicht in seiner Familie sind, kein Glied, das sich nicht in seinem Leib befindet. Jeder wahrhaft Gläubige ist somit Teil der universalen Gemeinde Jesu. Doch diese universale Gemeinde organisiert sich in unterschiedlichen Ortsgemeinden. Es mag Ausnahmen geben, wo eine Mitgliedschaft zeitweise nicht oder nur schwer möglich ist, aber grundsätzlich kennt das Neue Testament keine Jesus-Nachfolge ohne die Zugehörigkeit zu einer örtlichen Gemeinde. Doch schauen wir uns einige wegweisende Stellen aus dem Neuen Testament dazu an.
Mitgliedschaft und Miteinander
Den meisten Bibellesern müssten die Bibelstellen bekannt sein, die von dem „einander“ sprechen. Sie beschreiben das Innenleben jeder christlichen Gemeinschaft und können als Auslegung des Liebesgebotes Jesu an seine Jünger verstanden werden. Eine der herausforderndsten Stellen ist dabei:
„So ermahne ich euch nun, … dass ihr der Berufung würdig wandelt, … indem ihr … einander in Liebe ertragt und eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren …“ (Eph 4,1–3)
Meine Frage an dich: Wie wirkt sich dein Mitgliedschaftsverständnis auf die Gemeinschaft mit Christen aus, die du als schwierig empfindest? Was bringt dich dazu, sie (vielleicht sogar über Jahre) zu ertragen, dich bewusst in ihre Nähe zu begeben, auch wenn euch beide weder Freundschaft noch Sympathie, Verwandtschaft oder irgendein anderes Interesse verbindet, wenn vielleicht sogar Verletzungen stattgefunden haben? Natürlich hat man auch hier die Wahl, kann eine Mitgliedschaft kündigen und sich einem bestimmten Personenkreis entziehen. Aber ich bin davon überzeugt, dass deine Vorstellung von Gemeindemitgliedschaft unbiblisch ist, wenn sie für dich bedeutet, sich grundsätzlich nur mit den Menschen zusammenzutun, mit denen du dich gut verstehst. Denn die Gemeinde Jesu ist kein Verein oder Club, wo man sich nur mit Gleichgesinnten trifft, sondern die Gemeinschaft derjenigen, die an Jesus Christus glauben – allen sozialen und kulturellen Unterschieden zum Trotz!
Mitgliedschaft und Verantwortung der Leiter
Schauen wir uns als Nächstes eine Gemeinde aus der Perspektive ihrer Leiter an. Für sie gilt:
„Hütet die Herde Gottes bei euch, indem ihr … Aufsicht übt, … nicht als solche, die über das ihnen Zugewiesene herrschen, sondern indem ihr Vorbilder der Herde seid!“ (1Petr 5,2–3)
Eine Verantwortung ist nicht zu tragen, wenn man für alle und alles zuständig ist. Gott beauftragt Älteste, ihre „Herde“ zu leiten. Sie sollen nicht die weltweite Gemeinde beaufsichtigen, sondern die „Herde … bei euch“. Wenn ihre Leitungsaufgabe daraus besteht, dass sie Vorbilder sein sollen, dann bedeutet das, dass dies dauerhaft und nicht nur punktuell geschieht. Es geht hier also nicht um ein Event oder eine spontane Zusammenkunft, auch nicht um ein Projekt, das durchgezogen werden soll. Besonders in unserer hochmobilen Zeit musst du dich als Pastor (oder: geistlicher Leiter) fragen: Für wen genau trage ich vor Gott Verantwortung? Wer ist „die Herde Gottes bei euch“? Wen hat Gott mir anvertraut, dass ich mich um ihn kümmern soll? Ist es die Frau mit den zwei Kindern, die jeden Heiligabend zum Gottesdienst kommt? Der ältere Mann, der alle zwei Monate mit der Bibel in der Hand auftaucht und in der Gebetszeit immer laut betet? In den Hochzeiten der Pandemie war die Gemeindeliste für mich ein konkreter Leitfaden, diese Frage zu beantworten. Natürlich habe ich mich auch nach Menschen erkundigt, die zwar noch nicht Mitglieder waren, sich aber im Umfeld der Gemeinde befanden. Meine Verantwortung lag für mich aber ganz klar bei denjenigen, die sich für eine Zugehörigkeit zu unserer Gemeinde entschieden hatten. Und wir taten unser Bestes, um durch Anrufe, wenn möglich auch Besuche, Spaziergänge und andere Möglichkeiten nach ihnen zu sehen, sie zu ermutigen und uns um sie zu kümmern. Eine solche Liste ist äußerst hilfreich, denn wenn sie fehlt, leiden besonders diejenigen darunter, die schwach, allein oder besonders angefochten sind.
Mitgliedschaft und Verantwortung der Mitglieder
Umgekehrt gibt es auch eine Aufforderung an Christen im Allgemeinen. Im Hebräerbrief heißt es:
„Hört auf die Verantwortlichen eurer Gemeinde und folgt ihren Weisungen! Denn sie wachen über euch … und werden Gott einmal Rechenschaft über ihren Dienst geben müssen ...“ (Hebr 13,17)
„Sich beeinflussen zu lassen bedeutet noch lange nicht, sich leiten zu lassen.“
Die Verantwortung der Leiter haben wir eben besprochen. Aber wie nimmt ein Christ den ersten Teil der Aufforderung wahr, wenn es keine klare Leitung, keine „Verantwortlichen“ gibt? Die einfachste Frage an jeden Christen lautet hier: Auf wen hörst du? Wessen „Weisung“ folgst du? Ein Christ ohne Mitgliedschaft kann hier keine klare Antwort geben. Denn entweder gibt es niemanden, der ihm geistlich vorsteht und dessen Weisung er folgen kann (Argumente wie: „Ich gehorche nur dem Heiligen Geist.“ gelten nicht!) oder aber er „folgt“ einer bunten, ständig wechselnden Mischung aus YouTube-Pastoren, Büchern und sonstigen „Influencern“, ohne irgendeinen persönlichen Bezug zu ihnen zu haben. Es mag auch sein, dass man zeitweise den Kontakt zu realen Pastoren lokaler Gemeinden sucht – doch nur so lange, bis sie langweilig oder unbequem werden oder deutlich wird, dass auch sie nur Menschen sind. Doch das alles hat mit der Aufforderung Gottes aus Hebräer 13,17 rein gar nichts zu tun. Sich beeinflussen zu lassen bedeutet noch lange nicht, sich leiten zu lassen. Auch diesbezüglich hat mich die Pandemie eine wichtige Lektion gelehrt: Wie jede Gemeinde, so hat auch unsere unter den geforderten Maßnahmen gelitten. Doch während sich unsere Mitglieder unter „Schmerzen“ beugten und sich in Unterordnung übten, waren einige regelmäßige Besucher, denen die Anweisungen der Leitung nicht passten, umgehend verschwunden.
Mitgliedschaft und Korrektur
Und dann wäre da noch ein letzter Aspekt, der eine verbindliche Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde unterstreicht. Es ist zweifellos eine sehr belastende, aber für die Gemeinde auch notwendige, gesundheitsfördernde Maßnahme:
„[Man] hört von Unzucht unter euch …, und ihr … habt nicht etwa Leid getragen, damit der, der diese Tat begangen hat, aus eurer Mitte entfernt würde!“ (1Kor 5,1–2)
Menschen, die sich als Christen bezeichnen, während sie beharrlich und ohne jede Reue schwer sündigen, sollen nach dem Willen Gottes aus der sichtbaren Gemeinde ausgeschlossen werden, bis sich ihr Verhalten und ihre Haltung ändern. Doch wie sieht das praktisch aus, wenn es keine formelle Gemeinschaft gibt? Entweder es läuft gruppendynamisch nach dem Insiderprinzip (jeder weiß, wer dabei sein darf und wer nicht) oder man macht es von der Situation abhängig, ob eine betroffene Person an einer Gemeinschaft teilnimmt oder nicht. Viel öfter ist allerdings davon auszugehen, dass ein Ausschluss in der Praxis keine Rolle spielt.
Sehr wichtig zu beachten ist hierbei die Tatsache, dass es in einer unvollkommenen Welt keine vollkommene Gemeinde geben kann und auch kein vollkommenes Konzept von Gemeindemitgliedschaft. Man könnte hier eine Fülle kritischer Erfahrungen anführen. Deshalb ist es notwendig, all das Gesagte im Licht der Liebe Gottes und der Aufrichtigkeit einzuordnen und entsprechend zu handeln. Doch gleichzeitig muss ich betonen, dass wir keine echte, lebenswirkliche Alternative zur Gemeindemitgliedschaft finden werden. Sie ist Gottes Konzept, damit Christen in lebendiger Jüngerschaft miteinander und aneinander wachsen und so in das Bild Jesu verändert werden. Das bleibt das ultimative und das schönste Ziel, das Gott sich mit uns vorstellen kann. Denn „er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde“ (Kol 1,18), „die er sich erworben hat durch das Blut“ (Apg 20,28).