Ist die Reformation heute noch von Bedeutung?

Artikel von Michael Reeves
31. Oktober 2022 — 10 Min Lesedauer

Am 31. Oktober 2016 verkündete Papst Franziskus, dass Protestanten und Katholiken nach 500 Jahren nun „die Gelegenheit haben, einen entscheidenden Moment unserer Geschichte wiedergutzumachen, indem wir Kontroversen und Missverständnisse überwinden, die oft verhindert haben, dass wir einander verstehen konnten.“ Das klingt, als sei die Reformation ein unseliger und unnötiger Streit über Kleinigkeiten gewesen, eine Kinderei, die wir jetzt, da wir erwachsen sind, hinter uns lassen können.

Aber erklärt das mal Martin Luther! Als er die Rechtfertigung allein durch den Glauben wiederentdeckte, erfuhr er eine solche Befreiung und Freude, dass er schrieb: „Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein.“[1]
Oder erklärt das William Tyndale, der eine „so erfreuliche, beglückende und frohe Botschaft“ fand, dass sie ihn „singen, tanzen und vor Freude springen“ ließ.
Erklärt das Thomas Bilney, der fand, dass sie ihm „wunderbaren Trost und Ruhe gab, dass meine zerschlagenen Gebeine vor Freude hüpften“.
Offensichtlich waren diese ersten Reformatoren nicht der Meinung, dass sie einen kindischen Streit vom Zaun brachen; sie hatten vielmehr eine gute Botschaft entdeckt, die sie mit großer Freude erfüllte.

Eine gute Botschaft im Jahre 1517

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war Europa etwa 1.000 Jahre ohne eine Bibel gewesen, die das Volk hätte lesen können. Darum waren Thomas Bilney die Worte nie begegnet, „dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten“ (1Tim 1,15). Anstatt das Volk Gottes Wort zu lehren, ließ man es im Glauben, dass Gott Menschen befähigt, ihre eigene Errettung zu erarbeiten. Einer der Lehrer dieser Zeit drückte es so aus: „Gott wird seine Gnade denen nicht verweigern, die ihr Bestes tun.“ Was als Ermutigung gedacht war, hatte einen bitteren Nachgeschmack für alle, die diese Worte ernst nahmen. Wie konnte man sich sicher sein, dass man wirklich sein Bestes getan hatte? Woher konnte man wissen, dass man zu denen gehörte, die die Erlösung verdient hatten?

Martin Luther hatte es wirklich versucht. „Wahr ist’s, ein frommer Mönch bin ich gewesen“, schrieb er, „und habe so strenge meinen Orden gehalten, daß ich’s sagen darf: ist je ein Mönch gen Himmel gekommen durch Möncherei, so wollte ich auch hineingekommen sein“[2]. Doch es half nichts:

„Mein Gewissen fand keine Ruhe; immer zweifelte ich und sagte mir: ‚Du hast es nicht richtig gemacht. Du hast nicht genug bereut. Du hast bei der Beichte etwas ausgelassen.‘ Je mehr ich ein unsicheres, schwaches und unruhiges Gewissen mit menschlichen Traditionen zu heilen suchte, desto mehr fand ich es täglich ungewisser, schwächer und unruhiger.“[3]

Gemäß dem römischen Katholizismus war es durchaus zutreffend, dass Luther sich des Himmels nicht sicher sein konnte. Sich seines Platzes im Himmel gewiss zu sein, wurde als irrige Anmaßung angesehen. Es war eine der Anklagen, die 1431 gegen Jeanne d’Arc erhoben wurden. Die Richter befanden:

„Diese Frau sündigt, wenn sie sagt, sie sei so sicher, ins Paradies aufgenommen zu werden, als ob sie bereits der Herrlichkeit teilhaftig wäre, denn auf dieser irdischen Reise weiß kein Pilger, ob er der Herrlichkeit oder der Strafe würdig ist. Das kann allein der souveräne Richter sagen.“

Innerhalb der Logik des Systems war dieses Urteil schlüssig. Wenn wir nur in den Himmel kommen können, weil wir (durch Gottes befähigende Gnade) persönlich dessen würdig geworden sind, dann gibt es natürlich für niemanden Gewissheit. Gemäß dieser Argumentation kann ich nur dann des Himmels sicher sein, wenn ich meiner eigenen Sündlosigkeit sicher bin.

„Wenn wir nur in den Himmel kommen können, weil wir persönlich dessen würdig geworden sind, dann gibt es natürlich für niemanden Gewissheit.“
 

Genau das war der Grund, warum der junge Martin Luther vor Furcht schrie, als ihn als Student in einem Gewitter fast der Blitz traf. Er hatte Angst vor dem Tod, denn er wusste nicht, dass Christus barmherzig ist und die Errettung durch ihn ausreicht. Er wusste nichts von der Rechtfertigung durch den Glauben allein. Er hatte keine Hoffnung auf den Himmel.

Als er in der Schrift die Rechtfertigung allein durch den Glauben wiederentdeckte, war ihm, als sei er durch weit geöffnete Tore in das Paradies eingetreten. Anstatt in Angst und Schrecken zu leben, konnte er nun schreiben:

„Wenn uns nun der Teufel einmal unsere Sünden vorhält und uns des Todes und der Hölle schuldig spricht, dann müssen wir so sagen: ‚Ich bekenne mich zwar des Todes und der Hölle schuldig, aber was dann weiter? Wirst Du (mich) deshalb in Ewigkeit verdammen? Ganz und gar nicht! Denn ich weiß einen, der für mich gelitten und Genugtuung erworben hat, er heißt Jesus Christus, Gottes Sohn. Wo er bleibt, werde auch ich bleiben.‘“[4]

Deshalb brachte die Reformation die Leute so sehr auf den Geschmack, was Predigten und Bibellesen anging. Dass sie das Wort Gottes lesen konnten und darin diese gute Nachricht vorfanden, dass Gott Sünder errettet – und das nicht aufgrund der Gründlichkeit ihrer Reue, sondern allein durch seine Gnade – das war, als sei eine mediterrane Sonne über der grauen Welt religiöser Schuld aufgegangen.

Eine gute Botschaft bis heute

Auch über 500 Jahre später haben die Erkenntnisse der Reformation nichts an Wert oder Relevanz eingebüßt. Die Antworten auf die unveränderten Kernfragen machen immer noch den Unterschied zwischen menschlicher Hoffnungslosigkeit und Glück aus. Was geschieht mit mir nach dem Tod? Wie kann ich Gewissheit bekommen? Bedeutet Rechtfertigung, dass mir der Status der Unschuld geschenkt wird (wie die Reformatoren sagten) oder ist sie ein Prozess, in dem ich zunehmend heiliger werde (wie Rom behauptete)? Kann ich mich für meine Rettung zuversichtlich allein auf Christus verlassen, oder hängt sie auch von meinen eigenen Bemühungen um Heiligkeit und deren Erfolg ab?

Die Annahme, dass die Reformation nur ein geschichtliches Ereignis war, das wir hinter uns lassen können, beruht auf der Vorstellung, dass sie lediglich eine Reaktion auf ein zeitgeschichtlich bedingtes Problem war. Aber je mehr wir uns damit beschäftigen, desto klarer wird: Die Reformation war nicht nur eine Anti-Bewegung, weg von Rom und seiner Korruption, sondern eine positive Bewegung hin zum Evangelium. Und genau das macht den Wert und die Gültigkeit der Reformation für uns heute aus. Wäre die Reformation eine bloße Reaktion auf eine historische Situation vor 500 Jahren gewesen, könnten wir sie zu den Akten legen. Aber als Programm, das uns fortwährend näher zum Evangelium bringen soll, können wir nicht auf sie verzichten.

Ein weiterer Einwand ist, dass die heutige Kultur der Positivität und des Selbstwerts dazu geführt hat, dass Sünder kein Bedürfnis nach Rechtfertigung mehr verspüren. Heute gibt es nicht mehr viele, die härene Hemden tragen oder in eisiger Kälte ganze Nächte hindurch Gebetswache halten, um Gottes Gunst zu erlangen. Luthers Problem der Gewissensqualen im Blick auf den göttlichen Richter wird als ein Problem des 16. Jahrhunderts angesehen, und deswegen erscheint uns auch seine Lösung – die Rechtfertigung allein aus Glauben – überflüssig und verzichtbar.

„Wir wollen uns durch die Treue der Reformatoren ermutigen lassen und das unveränderte, wunderbare Evangelium hochhalten. Es hat weder seine Herrlichkeit eingebüßt noch seine Kraft verloren, unsere Dunkelheit zu vertreiben.“
 

Und doch ist Luthers Lösung gerade im heutigen Kontext eine so frohe und relevante Botschaft. Denn nachdem wir die Idee verworfen haben, dass wir schuldig vor Gott sein könnten und deswegen seiner Rechtfertigung bedürften, hat unsere Kultur das alte Problem der Schuld in einer subtileren Form wieder aufgegriffen. Eine Lösungsmöglichkeit dafür fehlt aber. Wir werden heute alle mit der Botschaft bombardiert, dass wir uns attraktiver machen müssen, um mehr geliebt zu werden. Auch wenn darin kein Bezug zu Gott besteht, handelt es sich immer noch um eine Religion der Werke, die ganz tief verankert ist. Dafür hat die Reformation eine wunderbare Botschaft. Luthers Worte durchschneiden die Dunkelheit mit dem herrlichen Glanz eines vollkommen unvermuteten Sonnenstrahls:

„Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt. [Anders als in der aristotelischen] Philosophie … gibt … die Liebe Gottes [anstatt dass] sie nimmt. ... Darum nämlich, weil sie geliebt werden, sind die Sünder schön, nicht aber werden sie geliebt, weil sie schön sind.“[5]

Und wieder ist die Zeit reif

500 Jahre später ist die katholische Kirche immer noch nicht reformiert. All die warmen ökumenischen Worte vieler Protestanten und Katholiken ändern nichts daran, dass Rom die Rechtfertigung allein aus Glauben immer noch nicht anerkennt. Die römisch-katholische Kirche meint, sich das erlauben zu können, weil die Heilige Schrift für sie nicht die höchste Autorität ist, unter die sich Päpste, Konzilien und Lehrsätze beugen müssen. Und weil die Heilige Schrift vernachlässigbar ist, wird das Lesen der Bibel nicht gefördert und Millionen bedauernswerter Katholiken immer noch vom Licht des Wortes Gottes ferngehalten.

Auch außerhalb des römischen Katholizismus weicht man der Beschäftigung mit der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben aus. Man findet sie irrelevant, verquer oder konfus. Neue Perspektiven auf die Bedeutung der Rechtfertigung bei Paulus haben für zusätzliche Verwirrung gesorgt, vor allem wenn sie die Betonung von der Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung entfernten. So geschah genau das mit dem Artikel, der für Luther unverzichtbar war und bei dem es für ihn keinen Kompromiss gab: Er wurde entbehrlich oder kompromittiert.

„Es ist jetzt nicht die Zeit zurückzuweichen. Wir müssen an der Rechtfertigung aus Glauben und ihrer Verkündigung unter der absoluten Autorität der Heiligen Schrift festhalten.“
 

Es ist jetzt nicht die Zeit zurückzuweichen. Wir müssen an der Rechtfertigung aus Glauben und ihrer Verkündigung unter der absoluten Autorität der Heiligen Schrift festhalten. Die Rechtfertigung allein aus Glauben ist kein historisches Relikt. Bis heute ist sie die einzige Botschaft, die uns endgültig frei macht. Sie ist die Botschaft mit der tiefsten Kraft, Menschen zur Entfaltung und zum Blühen zu bringen. Sie verschafft uns Gewissheit vor unserem heiligen Gott. Sie verwandelt Sünder, die versuchen Gott zu bestechen, in Heilige, die ihn lieben und fürchten.

Und welche Gelegenheiten haben wir doch heute, um diese gute Nachricht zu verbreiten! Vor 500 Jahren konnte sich durch Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse das Licht des Evangeliums in einer Geschwindigkeit verbreiten wie nie zuvor. Tyndales Bibeln und Luthers Flugschriften kamen zu Tausenden unters Volk. Heute erleben wir etwas Ähnliches durch die digitale Technologie. Dieselbe Botschaft kann heute in einem Tempo verbreitet werden, das für Luther schlicht unvorstellbar war.

Sowohl das Bedürfnis wie auch die Möglichkeiten sind noch genauso groß wie vor 500 Jahren – ja, sogar noch größer. Wir wollen uns durch die Treue der Reformatoren ermutigen lassen und das unveränderte, wunderbare Evangelium hochhalten. Es hat weder seine Herrlichkeit eingebüßt noch seine Kraft verloren, unsere Dunkelheit zu vertreiben.


[1] Martin Luther, Vorrede zu Band I der lateinischen Schriften, in: Kurt Aland (Hrsg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. 2. Bd.: Der Reformator, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1981, S. 20.

[2] Martin Luther, EA,XXXI,237.

[3] David C. Steinmetz, Luther in Context, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2002, S. 2.
Dieses Zitat wurde ins Deutsche übersetzt.

[4] Ein Trostbrief von Martin Luther aus dem Jahr 1530 an seinen Freund und Weggenossen, den Freiberger Reformator und Dozenten Hieronymus Weller, zu finden in: Gerhard Blail, Vom getrosten Leben. Martin Luthers Trostbriefe, Stuttgart: J.F. Steinkopf, 1982, S. 49.

[5] J.K.F. Knaake (Hrsg.), Werke. Kritische Gesamtausgabe. Schriften, 1. Bd., Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1883, S. 365 (WA 1,365,XXVIII).
In der WA sind die 28 Thesen Luthers in der Heidelberger Disputation auf Latein angegeben. Das Zitat wurde hier übersetzt und sprachlich leicht angepasst.