Wer will denn heute noch „aus Werken“ gerechtfertigt werden?
In der reformatorischen Auffassung gibt es die sehr grundlegende Unterscheidung zwischen einer Rechtfertigung aus Werken und der aus Gnade durch den Glauben. So formuliert z.B. die Confessio Augustana (Art. 4):
„Weiter wird gelehrt, dass wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht durch unser Verdienst, Werk und Genugtuung erlangen können, sondern dass wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnade um Christi willen durch den Glauben ...“[1]
Oder mit den moderneren Worten des New City Katechismus (Frage 29):
„Wie können wir errettet werden? Allein durch den Glauben an Jesus Christus und an seinen stellvertretenden Sühnetod am Kreuz. … Dies geschieht aus reiner Gnade, ohne unser Zutun oder irgendein Verdienst unsererseits …“[2]
Dafür kämpften die Reformatoren angesichts einer katholischen Kirche, der zufolge der Mensch nach dem Anschub durch eine „erste Gnade“ mit der gelebten Heiligung (also guten Werken) zu seiner Rechtfertigung mitwirkt.[3] Und wer dächte bei diesem Gegensatz zwischen Glauben und Werken nicht auch an Paulus: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28)? Man hat den Unterschied zwischen dem Christentum und den anderen Religionen immer wieder mit der Gegenüberstellung dieser beiden Pole auf den Punkt gebracht:[4] Der Mensch habe das intuitive Empfinden, dass er sich Gottes Gunst erarbeiten muss; dies spiegeln die Religionen auf unterschiedliche Weise wider. Dagegen liegt der Kern des Evangeliums darin, dass der Mensch gerade das nicht kann: Gott geht von sich aus den Weg zu uns – man empfängt das Heil allein aus Gnade oder man empfängt es überhaupt nicht (vgl. Gal 5,4).
Werksgerechtigkeit ade?
Dieser Impuls des Erarbeitenwollens scheint aber auf den Westler des 21. Jahrhunderts nicht mehr so ganz zuzutreffen. Sicherlich, es gibt weiterhin christliche Kreise mit einer Neigung zur Gesetzlichkeit, die den Fokus der Menschen auf ihr Tun lenken. Aber aufs Ganze gesehen:
Wollen wir ernsthaft – sei es von Gott oder auch von Menschen – aufgrund dessen geliebt werden, was wir tun? Scheint uns das nicht eine recht minderwertige, oberflächliche Liebe zu sein, die kaum diese Bezeichnung verdient? Wollen wir nicht vielmehr deshalb geliebt werden, weil wir sind, wer wir sind? Und wenn es schon schwer ist, solche Liebe unter den Menschen zu finden, deren Blick so oft an unserer Leistung hängenbleibt – sollte sie nicht gerade bei Gott zu finden sein, der uns durch und durch kennt und der die Liebe in Person ist (vgl. 1Joh 4,8.16)? Mit anderen Worten: Ist Werksgerechtigkeit vielleicht in einem gewissen Sinne out? Dafür spräche jedenfalls, dass sich der generelle Fokus unserer Kultur vom Äußeren auf das Innere verlagert hat. Während sich Menschen früherer Generationen wesentlich als Glied eines größeren Ganzen, als Teil einer politischen, religiösen, wirtschaftlichen Ordnung wahrnahmen, sind derartige Institutionen mittlerweile verdächtig, den Menschen zu verbiegen.
Wer authentisch sein und erfüllt leben möchte, muss in erster Linie sein eigenes Ich sorgfältig wahrnehmen und ausleben.[5] Das bedeutet, dass sich unser Blick vom äußeren, mit irgendwelchen Maßstäben konformen Verhalten weg und nach innen richtet, dass wir das Sein – die Identität – als das wesentliche Element betrachten.
Und tatsächlich zeigt auch die Bibel, dass Gott nicht an unserem bloßen Tun interessiert ist, sondern mehr nach unserem Herzen fragt, das diese Taten lenkt (vgl. 1Sam 16,7; Mk 7,6).
Ich stehe in Gottes Gunst, weil …
Beim Werke-Glauben-Gegensatz ging es wesentlich um die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Oder anders gesagt: Was muss geschehen, damit ich in Gottes Gunst stehe? Und genau diese Frage wird mittlerweile häufig unter Verweis auf unser Sein beantwortet:
„Wir, die Gott als seine Ebenbilder geschaffen hat, sind Kinder Gottes, durch und durch geliebt.“[6]
„Die göttliche Macht liebt uns zuerst, zuvorkommend. … Wir sind willkommen, einfach, weil wir da sind, so wie wir sind.“[7]
„Wie gut du von mir denkst, war mir nicht klar. Lass mich durch deine Augen sehn, erkennen, welchen Mensch du in mir siehst, und mach mir klar: Was du sagst ist wahr!“[8]
Es scheint also neben den Werken und der im Glauben empfangenen Gnade eine dritte Option zu geben: Ich stehe in Gottes Gunst, einfach, weil ich bin, wer ich bin.
„Wir sind so verdorben, dass wir nicht ‚repariert‘ werden können, dass nichts weniger als eine neue Geburt nötig ist.“
Allerdings ist es nicht so, dass diese Verankerung im Sein mit dem offenen Anspruch daherkäme, die Rechtfertigung aus Gnade zu ersetzen. Sie tritt einfach daneben, oft ohne dass die Beziehung zwischen beiden geklärt würde. Und so einleuchtend, wie sie uns nun mal zu sein scheint, zieht sie den Blick auf sich, drängt sich in den Vordergrund.
Etwa: Weil Gott das Gute und Schöne in mir sieht, das er selbst liebevoll in mich hineingelegt hat, hat er eine Gnaden-Lösung für die dunklen Anteile meines Lebens eröffnet, um so mein wahres Potenzial freizusetzen.
Tragfähig?
Aber was, wenn unsere Verderbtheit total ist? Die Überlegung, dass Gott mich aufgrund meines So-gemacht-Seins annimmt, krankt an einer wichtigen Stelle, nämlich daran, dass sie die Sünde unterschätzt. Die Bibel beschreibt schon kurz nach dem Sündenfall das Herz des Menschen als „böse von Jugend auf“ (1Mose 8,12; vgl. 6,5; Mt 15,19; Lk 11,13). Jesus starb nicht, um einige Fehltritte in unserem Leben in Ordnung zu bringen und dadurch unsere schönen Anteile noch heller strahlen zu lassen. Wir sind so verdorben, dass wir nicht „repariert“ werden können, dass nichts weniger als eine neue Geburt nötig ist – das Sterben meines alten Ichs und die Auferstehung als ein neues Geschöpf in Christus (vgl. Joh 3,3.5–6; Röm 6; 2Kor 5,17). Wir sind nicht nur beschädigt, sondern ein Totalschaden.
Das bedeutet: Unser So-geschaffen-Sein besitzt aufgrund unserer Verderbtheit einfach keine Tragfähigkeit mehr. Wir sind so morsch, dass wir das Gewicht unserer Annahme bei Gott nicht mehr daran aufhängen können. Wer das versucht, muss die Sünde kleinreden (sie z.B. auf Sünden reduzieren) und uns besser reden, als wir nach biblischem Zeugnis sind.
„Die Annahme bei Gott ist nichts, was wir schon längst aufgrund unseres Geschöpf-Seins besitzen und nur entdecken müssten.“
Unsere Rebellion gegen Gott ist umfassend (vgl. Röm 1,18–21; 3,9–20). Gott ist eine heilige und gerechte Majestät, vor der „die Menschen Rechenschaft geben müssen am Tage des Gerichts“, und das sogar „von jedem nichtsnutzigen Wort, das sie reden“ (Mt 12,36). Die Person, die die Bibel bei weitem am häufigsten als zornig beschreibt, ist Gott selbst, und sein Zorn richtet sich auf die Ungehorsamen, die Rebellen (z.B. Joh 3,36; Eph 5,6; Ps 11,5–6). Nichts, was wir zu bringen haben, ist mehr als dreckige Lumpen (vgl. Jes 64,5). Die Frage nach der Rechtfertigung – wie bekomme ich einen gnädigen Gott? – ist berechtigt. Wir brauchen einen Erlöser, der das gerechte Verdammungsurteil von uns abwendet. Die Annahme bei Gott ist nichts, was wir schon längst aufgrund unseres Geschöpf-Seins besitzen und nur entdecken müssten.
Der Schritt nach vorn ist einer zurück
Nun würde kaum jemand abstreiten, dass die Begründung von Gottes Gunst allein in der Ebenbildlichkeit nicht reicht, dass wir auch Gnade benötigen – schließlich kennen wir unsere Fehler und Unvollkommenheiten.
Aber „Gnade und …“ war noch nie eine gute Idee. Halbe Gnade gibt es nicht. Die Kombination aus ein bisschen Gnade und ein bisschen in uns selbst liegendem Grund für Gottes Zuwendung bedeutet letztendlich gar keine Gnade. Entweder wird Gott durch etwas in uns Liegendes genötigt, sich uns zuzuwenden – dann ist seine Zuwendung folgerichtig, ebenso wie bei verdienstlichen Werken (was würden wir von einem Gott halten, der diese guten Anteile einfach ignorieren würde?). Oder aber es gibt keinen solchen Faktor in uns – dann haben wir es mit Gottes souverän geschenkter, wirklich absolut unverdienter Gnade zu tun (vgl. Röm 4,4; 11,6).
Man kann nur eines von beiden haben (vgl. Gal 5,4). Wer Gottes Annahme aufgrund seines So-Seins besitzen möchte (was sich aufgrund der Verderbtheit ohnehin als aussichtslos erweist), verliert die Gnade und damit alles. Wenn der souveräne Gott seine Gunst schenkt, bleibt kein Spielraum, mich meiner selbst zu rühmen (vgl. 1Kor 1,27–31).
Entgegen dem Anschein liegen Werksgerechtigkeit und „Seins-Gerechtigkeit“ also nicht weit auseinander. Ob man den Grund für Gottes Gunst in unseren guten Werken oder in unserem So-Sein sucht, in beiden Fällen liegt der Grund in mir. Dagegen betont Gott, dass seine Zuwendung ausschließlich in seiner freien Entscheidung gründet, den zu lieben, den er lieben will (vgl. 5Mose 7,7–8; Röm 9,11–12.21).
Warum tun wir uns nur so schwer damit, uns an seiner Gnade genügen zu lassen (vgl. 2Kor 12,9), die gerade dann groß wird, wenn wir eingestehen, dass in uns selbst nichts als Schwachheit ist? Wir können unser Heil an keinem sichereren Ort verankern als in der Gnade des Gottes, dessen Gnadenzusage einfach deswegen steht, weil er sich dazu entschlossen hat: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig“ (2Mose 33,19; Röm 9,15). Gott sei Dank, es gilt: „Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken [oder sonstigen Vorzügen in uns], damit sich nicht jemand rühme“ (Eph 2,8–9).
1 Das Augsburger Bekenntnis, online unter: https://www.velkd.de/theologie/augsburger-bekenntnis.php (Stand: 18.10.2022).
2 Der New City Katechismus, online unter: https://newcitykatechismus.de/new-city-katechismus#29 (Stand: 18.10.2022).
3 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München, Wien: Oldenbourg, 1993, S. 514–523.
4 Z.B. Werner Gitt, Und die anderen Religionen?, Bielefeld: CLV, 1991, S. 104.
5 Vgl. Carl R. Trueman, The Rise and Triumph of the Modern Self: Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution, Wheaton: Crossway, 2020, S. 43–48.
6 Sam Mail, „Liebt mich Gott wirklich, wie ich bin, woher weiß ich das und warum will er mich dann verändern?“, in: Volkmar Hamp et al. (Hrsg.), Glauben | lieben | hoffen: Grundfragen des christlichen Glaubens verständlich erklärt, 115–117, Witten: SCM R. Brockhaus, 2021, S. 116 (es sei noch angemerkt, dass die Bibel den Begriff „Kinder Gottes“ strikt auf Gläubige anwendet und nicht auf die gesamte Menschheit, vgl. Joh 1,12; Röm 8,14).
7 Christina Brudereck, „Christinas Lied“, in: Eva-Maria Admiral, Annette Friese (Hrsg.), Schön ohne Aber: Wie wir von Körperhass zu Körperliebe finden, 30–41, Holzgerlingen: SCM, 2020, S. 34.
8 Juliane Eva Eberwein, Claus-Peter Eberwein, „Befreit durch deine Gnade“, in: Feiert Jesus! 4, Lied Nr. 158, Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2011.