Biblische Gemeindewachstumsstrategien, die funktionieren

Artikel von Sascha Bär
21. Oktober 2022 — 10 Min Lesedauer

Die Landeskirchen verzeichnen einen Mitgliederschwund in Rekordhöhe. Allein im Jahr 2021 waren es ca. 640.000 Kirchenaustritte[1]. In den Freikirchen sind die Mitgliederzahlen vielleicht (noch) nicht rückläufig, aber auch hier stagniert das Wachstum. Zwei Jahre Coronamaßnahmen sind an den Kirchen nicht spurlos vorbeigegangen und haben die Entfremdung zur Gemeinde und zum wöchentlichen Gottesdienst beschleunigt. Gepaart mit dem grassierenden Individualismus und dem Konsumdenken unserer Gesellschaft ergibt sich daraus ein Cocktail, der die verbindliche Gemeindezugehörigkeit meidet und den bequemen Livestream-Gottesdienst von der heimischen Couch aus bevorzugt.

Viele Gemeinden versuchen verzweifelt ihre Verluste zu minimieren, indem sie sich dem „Verbraucher“ anpassen, um relevant zu werden. Die Landeskirche kapituliert auf der ethisch-moralischen Ebene und lässt sich vom Zeitgeist der Welt wie eine Fahne im Wind drehen. Auch Freikirchen tendieren zum Pragmatismus: Der Gottesdienst wird zum Event, die Predigten zur Motivationsrede und Evangelisation zur Werbeveranstaltung. Jüngerschaft beschränkt sich darauf, dem Social-Media-Kanal der Gemeinde zu „followen“ und christliche Gemeinschaft wird auf gemeinsame Ausflüge und Hobbys reduziert.

Gemeinden in Westeuropa haben in den letzten 20 Jahren vermehrt Wachstumsstrategien aus der Wirtschaft übernommen. Dabei versprechen sie sich schnelles und exponentielles Wachstum. Die Gemeinde gleicht dabei einem Geschäft. Das Evangelium wird zum Produkt, der Pastor zum Geschäftsführer, der Gottesdienstbesucher zum Kunden – und der Kunde ist bekanntermaßen König. Das ist keine nachhaltige und beständige Gemeindewachstumsstrategie, denn sie ist reaktionär und muss sich laufend an die Vorlieben der „Zielgruppe“ anpassen.

Damit Gemeinden gesund wachsen, braucht es einen Paradigmenwechsel. Kurzlebige pragmatische Ansätze müssen in den Hintergrund gerückt und alt-bewährte biblische Prinzipien – wie die folgenden vier – wiederentdeckt werden:

1. Vertraue auf Gottes Wirken

„Wenn der HERR nicht das Haus baut, dann arbeiten umsonst, die daran bauen.“ (Ps 127,1)

Das A und O des Gemeindewachstums ist das A und O, nämlich Gott selbst. Ohne sein Wirken wird die Gemeinde nicht entstehen, wachsen oder bestehen. Gott ist Architekt und Baumeister. Wir sind lediglich Werkzeuge in seiner Hand, mit denen er sein globales Gemeindebauprojekt verwirklicht.

„Das A und O des Gemeindewachstums ist das A und O, nämlich Gott selbst.“
 

Weder unsere Gelehrtheit noch unsere Sozialkompetenzen, weder unsere Teamstruktur noch unsere Führungsqualitäten können garantieren, dass das Haus gebaut wird. Wir können uns noch so anstrengen und unendliche Mittel zur Verfügung haben, doch wenn der Herr das Haus nicht baut, ist das ganze Unterfangen zum Scheitern verurteilt.

Diese Realität verändert unsere Einstellung. Wir verabschieden uns von einer arroganten und selbstsicheren „Wir schaffen das“-Mentalität und nehmen eine demütige und abhängige „Gott schafft das“-Haltung an. Der Herr Jesus selbst ist es, der seine Gemeinde baut, sodass selbst die Pforten der Hölle nichts dagegen ausrichten können (vgl. Mt 16,18). Der Herr Jesus ist der Eckstein, auf dem die Gemeinde gegründet ist, und auch der Schlussstein, zu dem die Gemeinde emporwächst. Der Heilige Geist ist derjenige, der die Gemeinde wachsen lässt, sodass niemand sich rühmen kann. Wer im Gemeindewachstum pflanzt oder begießt, ist nebensächlich. Entscheidend ist nur Gott, der das Gedeihen gibt (vgl. 1Kor 3,7).

2. Verteile die Last auf mehrere Schultern

„Und Er hat etliche als Apostel gegeben, etliche als Propheten, etliche als Evangelisten, etliche als Hirten und Lehrer, zur Zurüstung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes des Christus.“ (Eph 4,11–12)

Gemeindebau ist keine Ein–Mann–Show, sondern ein gemeinsames Unterfangen. Selbst der Apostel Paulus war sich bewusst, wie unverzichtbar zuverlässige Mitarbeiter für seinen Dienst waren. Barnabas und Silas begleiteten ihn auf den langen Missionsreisen. Timotheus und Titus waren seine geistlichen Ziehsöhne. Aquila und Priscilla bezeichnet er als „meine Mitarbeiter in Christus Jesus“ (vgl. Röm 16,3).

Wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft. Wenn eine Arbeit erledigt werden soll, überlassen wir das dem Profi. Der Handwerker kommt vorbei, um die Küche einzubauen, und der Steuerberater erledigt unseren Lohnsteuerausgleich. Diese Mentalität führt zu einem Konsumentendenken, das wir gerne in die Gemeinde übertragen. Wir nehmen an, dass der Pastor dafür bezahlt wird, alle Dienste in der Gemeinde zu verrichten – schließlich ist er der „Profi“. Das entspricht jedoch nicht dem biblischen Prinzip des Leibes Christi, in dem jedes Glied seine Gaben für die Erbauung der Gemeinde einbringt.

„Du bist austauschbar und das ist gut so. Christus ist das Haupt der Gemeinde, nicht du.“
 

Die Aufgabe der Hirten ist nicht, alles selbst zu machen, sondern die Heiligen für das Werk des Dienstes zuzurüsten, damit der Leib Christi erbaut wird und zur Einheit des Glaubens zu gelangen (vgl. Eph 4,11–12). Die Gaben aller Gemeindeglieder sind für die Erbauung der Gemeinde unverzichtbar. Damit Gemeindebau gelingen kann, muss der gesamte Leib Christi als ein Organismus an einem Strang ziehen und in dieselbe Richtung unterwegs sein.

Wer im vollzeitlichen Dienst steht, kommt in die Versuchung, alles selbst zu tun und überall seine Finger im Spiel zu haben. Natürlich müssen Pastoren leiten, führen und zurüsten. Das heißt jedoch nicht, dass sie alles bis ins letzte Detail selbst entscheiden sollen. Vielmehr müssen sie lernen, Verantwortung an vertrauenswürdige Gemeindeglieder zu delegieren. Pastor! Es hängt nicht alles von dir ab. Gemeindegründer! Christus wird seine Gemeinde bauen, selbst wenn du aus dem Dienst ausscheiden solltest. Du bist austauschbar und das ist gut so. Christus ist das Haupt der Gemeinde, nicht du. Verteile den Dienst in der Gemeinde auf viele Schultern, damit die Gemeinde Christi erbaut wird und zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes gelangt.

3. Verachte nicht die geringen Anfänge

„Denn wer ist’s, der den Tag geringer Anfänge verachtet?“ (Sach 4,10)

Die Anfänge des Gemeindebaus sind alles andere als beeindruckend. Ein zusammengewürfelter Haufen, eine Handvoll Menschen die sich Sonntag für Sonntag in einem Wohnzimmer zum Gottesdienst treffen. Das wird keine Schlagzeilen machen. Dafür wird niemand Beifall klatschen.

Die Welt verachtet diese geringen Anfänge des Reiches Gottes, und diese Haltung kann auch auf die abfärben, die im Gemeindebau tätig sind. Die Anfangseuphorie einer Gemeindegründung ebbt ab und schwingt allmählich in Alltagsernüchterung um. Wenn man gefühlt nur auf der Stelle tritt und messbares Wachstum ausbleibt, dann weicht Begeisterung der Verachtung. Man wird zynisch und entmutigt.

Im Reich Gottes ist allerdings jeder Anfang klein und unspektakulär. Beim Wiederaufbau des Tempels nach dem babylonischen Exil kam es zwischen Grundsteinlegung und Fertigstellung zu einem etwa 16–jährigen Baustopp. Ein kleiner und unbedeutender Neuanfang, für den man – menschlich gesehen – nur Verachtung übrighaben konnte. Gott stellt durch den Propheten Sacharja aber die rhetorische Frage: „Wer ist’s, der den Tag geringer Anfänge verachtet?“ (Sach 4,10). Die Antwort auf die Frage ist natürlich: „Keiner!“, denn selbst der Herr verachtet den Tag der geringen Anfänge nicht. Im Gegenteil verspricht er, nicht durch Macht oder Kraft, sondern durch seinen Geist den Berg zu einer Ebene zu machen und den Schlussstein des Tempelbaus zu setzen (vgl. Sach 4,6–7).

„Verachte nicht den Tag der geringen Anfänge, denn der Herr hat bestimmt, seine Gemeinde durch unscheinbare Anfänge und unbedeutende Menschen zu bauen.“
 

Jesus vergleicht das Reich Gottes mit einem Senfkorn, das als kleinstes Samenkorn gesät wird, aber zur größten Gartenpflanze heranwächst (vgl. Mk 4,30–34). Das Senfkorn der Gemeinde, welches am Pfingstsonntag in Jerusalem gekeimt hat, ist zwei Jahrtausende später zu einer Gartenpflanze herangewachsen, die den gesamten Globus umspannt. Gottes Reich wird stetig wachsen, bis das Haupt der Gemeinde, unser Herr Jesus, wiederkommt.

Die geringen Anfänge sollten uns nicht überraschen. In den Augen der Welt ist die Gemeinde eine Torheit, aber in Gottes Augen ist sie seine mannigfaltige Weisheit (vgl. Eph 3,10). Verachte nicht den Tag der geringen Anfänge, denn der Herr hat bestimmt, seine Gemeinde durch unscheinbare Anfänge und unbedeutende Menschen zu bauen.

4. Verkündige das Wort

„[Wir verkündigen] Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, sowohl Juden als auch Griechen, verkündigen wir Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ (1Kor 1,23)

Wir leben im digitalen Zeitalter. Tagtäglich nehmen wir unzählige visuelle Eindrücke wahr. Die Reizüberflutung führt zu kürzeren Aufmerksamkeitsspannen und verringerter Aufnahmefähigkeit für neue Informationen.

Kann ein 45–minütiger Monolog da überhaupt noch mithalten? Ist die Verkündigung von Gottes Wort im digitalen Zeitalter noch zeitgemäß? Sollten Gemeinden sich nicht einfach den Zeiten anpassen und die Predigt zu einem visuellen Erlebnis umgestalten oder ganz darauf verzichten?

Menschlich gesehen ist die Verkündigung überholt und wirkungslos, aber in Wirklichkeit ist sie lebendig und wirksam, denn in der Verkündigung wird Gottes Wort freigesetzt. Wenn der lebendige und souveräne Gott spricht, dann ist sein Wort immer zeitgemäß, relevant und wirkungsvoll. Gottes Wort wird nicht leer zurückkehren, sondern ausrichten, was ihm gefällt (vgl. Jes 55,11). Deswegen kann Paulus so zuversichtlich behaupten, dass er sich des Evangeliums nicht schämt, „denn es ist Gottes Kraft zur Errettung für jeden, der glaubt“ (Röm 1,16). Die Sprengkraft einer Predigt ist die Verkündigung von Christus – gekreuzigt und auferstanden.

Wenn Prediger von der Kanzel nur Lebensweisheiten weitergeben, Gesellschaftstrends analysieren, politische Stellungnahmen machen, persönliche Geschichten erzählen oder lustige Witze reißen, werden sie ihre Zuhörer beeindrucken oder unterhalten. Sie werden jedoch niemanden zum Glauben führen, denn das Evangelium – die einzige Kraft zur Errettung – erschallt nie von ihren Lippen.

Im zweiten Korintherbrief liefert der Apostel Paulus den zweifelnden Korinthern ein schlagkräftiges Argument für die Notwendigkeit der Verkündigung: „Denn Gott, der dem Licht gebot, aus der Finsternis hervorzuleuchten, er hat es auch in unseren Herzen licht werden lassen“ (2Kor 4,6a). Dasselbe kraftvolle Wort Gottes, welches die schöpferische Kraft hatte, unsere Sonne zum Leuchten zu bringen, wirkt in der Finsternis des menschlichen Herzens, „damit wir erleuchtet werden mit der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ (2Kor 4,6b).

Wenn wir Gemeinde bauen, Gemeindewachstum erleben und Erweckung oder Reformation erfahren wollen, dann müssen wir uns Paulus anschließen und mit voller Überzeugung bekennen: „[W]ir verkündigen nicht uns selbst, sondern Christus Jesus“ (2Kor 4,5). Gegründet auf unserem Herrn Jesus Christus kann die unbedeutende Gemeinde durch die Verkündigung des kraftvollen Evangeliums erbaut und vereint werden, bis wir „heranwachsen in allen Stücken zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus“ (Eph 4,15).

Lasst uns unserem gnädigen Gott im inbrünstigen Gebet darum bitten, dass er Gemeinden gedeihen lässt. Er wird unsere Gebete sicherlich erhören.

„Dem aber, der weit über die Maßen mehr zu tun vermag als wir bitten oder verstehen, gemäß der Kraft, die in uns wirkt, ihm sei die Ehre in der Gemeinde in Christus Jesus, auf alle Geschlechter der Ewigkeit der Ewigkeiten! Amen.“ (Eph 3,20–21)

[1] Statista Research Department, „Anzahl der Kirchenaustritte in Deutschland nach Konfessionen von 1992 bis 2021“, Statista GmbH Times, 27.06.2022, online unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4052/umfrage/kirchenaustritte-in-deutschland-nach-konfessionen/ (Stand: 31.08.2022).