Die seelenformende Wirklichkeit des Evangeliums

Artikel von David F. Wells
5. Oktober 2022 — 7 Min Lesedauer

Tabletalk: Welches war neben der Bibel das einflussreichste Buch, das Sie im vergangenen Jahr gelesen haben?

David Wells: Die meisten Politiker beantworten eine etwas andere Frage als die, die ihnen gestellt wurde – ich hoffe, dass ich das auch tun darf? Das Buch, von dem ich mir wünsche, dass es das einflussreichste des Jahres wird, ist J.I. Packers und Gary Parretts Grounded in the Gospel: Building Believers the Old-Fashioned Way. Die Autoren argumentieren, dass unsere Gemeinden Katechese betreiben sollten, weil diese Art der Unterweisung – insbesondere bei unseren jungen Leuten – die Lehre bewahrt. Biblische Lehre ist das, was die Gemeinde zur Gemeinde macht. Wir haben Schwierigkeiten damit, die zentralen Lehren des Glaubens weiterzugeben. Das ist auch der zentrale Schwachpunkt der heutigen Gemeinde.

„Biblische Lehre ist das, was die Gemeinde zur Gemeinde macht.“
 

Tabletalk: Wenn Sie sich die evangelikale Landschaft anschauen, was ist Ihrer Meinung nach die größte Bedrohung für die Gemeinde?

Wells: Jede Studie über das Innenleben der Gemeinden zeigt, dass es einen wachsenden biblischen Analphabetismus gibt. Damit schwindet unsere Fähigkeit zu beurteilen, in welchen Bereichen die Kultur um uns herum schädlich für unsere Seelen werden kann. Eine Gemeinde, die die Kultur lediglich nachahmt, anstatt eine biblische Alternative zu ihr zu bieten, ist auf dem besten Weg, in Bedeutungslosigkeit zu versinken. Tatsächlich ist das in vielen westlichen Ländern schon geschehen, wo nicht mehr als zwei bis fünf Prozent am Sonntagmorgen überhaupt in irgendeinen Gottesdienst gehen. Die heutige Situation in Europa könnte das sein, was uns (in den USA, Anm. d. Red.) in den kommenden Jahren bevorsteht.

Tabletalk: Der Westen tritt in eine eindeutig postchristliche Ära ein. Wie kann die Gemeinde dennoch ein wirksames Zeugnis aufrechterhalten?

Wells: Wir brauchen hier die richtige Perspektive. Unsere Situation in den USA ist im Vergleich zu Christen in anderen Ländern nicht außergewöhnlich schwierig. Es stimmt, dass die Zeiten zunehmend vorbei sind, in denen das Christentum eine gewisse kulturelle Akzeptanz genossen hat. Man denke nur daran, wie populär es war, „wiedergeboren“ („born again“) zu sein. Aber vergessen wir nicht, dass es außerhalb der USA Christen gibt, die zum Beispiel unter islamischer Tyrannei, in extremer Armut oder umgeben von schrecklicher politischer Korruption leben, oder auch Opfer von blindwütigen Verbrechen sind. Unsere Situation ist lange nicht so schlimm! Wir müssen von der biblischen Wahrheit überzeugt sein, unsere Kultur klug durchschauen und das Rückgrat haben, unsere Identität als Christen beizubehalten – das ist es, was wir brauchen. Die Versuchung ist groß, zu denken, dass wir, wenn wir nur nett und entgegenkommend sind, das christliche Evangelium in eine großartige kleine Ergänzung verwandeln können, die jeder für sein Leben haben möchte. Aber das Evangelium ist keine großartige kleine Ergänzung. Es ist eine seelenerschütternde, kostspielige und anspruchsvolle Realität. Diese Tatsache darf die Gemeinde nicht verschweigen! Beim Evangelium geht es nicht um Selbsttherapie. Trotz unserer unter Druck stehenden, angespannten, nervenaufreibenden Zeit ist die christliche Botschaft nicht dazu da, dass wir uns besser fühlen oder besser zurechtkommen. Es geht darum, vor unseren großen Gott und Erlöser zu treten, unsere Sünden zu bekennen, uns ihm anzuvertrauen und unsere Ansprüche an uns selbst an ihn abzutreten. Was wir am meisten brauchen – und woran es der Gemeinde am meisten mangelt – ist der Mut, unsere Botschaft von Selbsthilfetherapien und Marketingstrategien abzugrenzen. Unser Problem ist nicht, dass uns die richtige Technik fehlt. Unser Problem ist, dass wir oft keine echte Alternative bieten.

„Das Evangelium ist keine großartige kleine Ergänzung. Es ist eine seelenerschütternde, kostspielige und anspruchsvolle Realität.“
 

Tabletalk: Haben Sie einen Rat für Christen, die eine akademische Karriere anstreben?

Wells: Wie viele andere Berufszweige hat sich auch die akademische Welt professionalisiert. Das bedeutet, dass der Zugang zu ihr sorgfältig bewacht wird – man muss die richtigen Abschlüsse haben – und der Aufstieg in ihr sorgfältig reguliert ist. In der Praxis bedeutet das, dass sich Akademiker auf ihrem Weg durch politische Minenfelder bewegen müssen und mit ziemlicher Sicherheit beginnen werden, ihre Arbeit unter dem Aspekt der Karriere zu betrachten. Karriere zu machen bedeutet, Strategien zu entwerfen, um beim Sprung von einer Stufe der Karriereleiter auf die nächste zu Ansehen, Macht und vielleicht Reichtum zu gelangen. All das ist für den christlichen Glauben einfach tödlich. Die Anforderungen und Horizonte des Berufes ersetzen die des Reiches Gottes. Das ist unweigerlich so – es sei denn, wir sind wirklich darauf bedacht, unseren Platz in Gottes Welt nicht nur als Karrieremenschen, sondern als seine Diener und als seine Zeugen des Evangeliums Christi zu bewahren. Wie leicht ist es, dies zu gefährden, um unsere Karriere voranzutreiben.

Tabletalk: Wie hat das Konsumdenken zu dem Zustand beigetragen, in dem sich die Gemeinde heute befindet?

Wells: Wir haben den Rhythmus des Kaufens und Verkaufens in die Gemeinde importiert: Wir machen ein Produkt attraktiv und locken damit potenzielle Käufer an – und um diesen Prozess zu unterstützen, verändern wir die Atmosphäre des Gottesdienstes, um diesen angenehm unterhaltend zu machen. Das Produkt, das wir meinen zu verkaufen, ist das Evangelium und – darin eingeschlossen – der Gott des Universums. Wenn man es ausdrückt, klingt das ziemlich absurd, oder? Aber in Anbetracht unserer Erfolgsvisionen – Heiligtümer vollgepackt mit potenziellen Käufern – erscheint uns nichts absurd, unangemessen oder unzulässig zu sein. Offenbar sind wir bereit, alles zu tun, was wir für nötig halten, egal wie unangemessen es ist.

Tabletalk: Wenn Sie heute No Place For Truth schreiben würden, gäbe es da etwas, das Sie im Buch ändern, hinzufügen oder weglassen würden?

Wells: Es ist nun fast drei Jahrzehnte her, dass ich mit den Recherchen für No Place for Truth begonnen habe. Als das Buch dann 1993 herauskam, gab es überall einen Aufschrei. Einige meinten, dass ich sicherlich übertreibe. Aber was ich damals argumentiert habe, ist heute zu einer Beobachtung geworden, die viele nachvollziehen können. Meine These war, dass der Evangelikalismus durch seine vielen kulturellen Kompromisse seine biblisch-theologische Seele verliert. Dieser Prozess hat sich nur beschleunigt. Ich bin jedoch ermutigt, dass es jetzt mehr Menschen gibt, die sich dessen bewusst sind; mehr Menschen, die wirklich authentisch sein wollen; mehr Menschen, die weder von einem psychologisierten Glauben noch von einem vermarkteten Evangelium beeindruckt sind; und mehr Menschen, die sich nach einer echten, lebendigen Orthodoxie sehnen. Was ich also ändern würde, wäre nur dieser Zusatz – dass in dem Maße, wie der Evangelikalismus weiter ausfranst und sich auflöst, jetzt mehr Menschen nach etwas viel Besserem suchen.

Tabletalk: Gott hat Sie sicherlich viele Lektionen gelehrt. Gibt es eine, die Sie mit uns teilen möchten?

Wells: Ich werde zunehmend an die Zerbrechlichkeit des Lebens erinnert, weil ich so viele kenne, deren Tod scheinbar zu früh kam. Das erinnert mich an John Donnes Zeilen: „Und darum verlange nie zu wissen, / Wem die Stunde schlägt; / Sie schlägt für dich.” Herr, hilf mir, meine Tage richtig zu zählen, damit ich ein weises Herz erlange (vgl. Ps 90,12)! Diese Zerbrechlichkeit ist in unserem geistlichen Leben noch offensichtlicher. Wie hauchdünn ist selbst unsere beste Frömmigkeit! Wie tückisch kann das Leben sein! Ich denke an die Vielen – selbst Leute, die im Dienst standen –, die sich verirrt haben und vom Weg abgekommen sind. Jeder Tag ist ein Tag, an dem ich Gott für das große Geschenk des Lebens danke; und jeder Tag, an dem ich ihm weiter nachfolge, ist ein Tag, an dem ich daran denke, was ich alles seiner Gnade verdanke. Ja, ohne die Gnade Gottes kann ich nicht leben!

„Jeder Tag ist ein Tag, an dem ich Gott für das große Geschenk des Lebens danke; und jeder Tag, an dem ich ihm weiter nachfolge, ist ein Tag, an dem ich daran denke, was ich alles seiner Gnade verdanke.“
 

Tabletalk: An welchen Projekten arbeiten Sie derzeit?

Wells: Ich hoffe, fünf kleine, erstklassige Filme über die fünf Themen aus meinem Buch The Courage to be Protestant zu drehen. Zu diesen Filmen wird es begleitendes Studienmaterial für Kleingruppen und Sonntagsschulklassen geben. Die Filme werden die Themen des Buches aufgreifen: Wie der christliche Glaube mit unserer Kultur in Bezug auf Wahrheit, Selbst, Gott, Christus und Gemeinde in Berührung kommt und kommen sollte. Die Wirtschaftslage hat uns bei der Finanzierung dieses Projekts nicht gerade geholfen, aber ich bin zuversichtlich, dass wir im Herbst mit der Arbeit beginnen können.