(Wieder)entdeckt: der Hebräerbrief

Artikel von Sinclair B. Ferguson
19. September 2022 — 5 Min Lesedauer

Unter allen Briefen des Neuen Testamentes gibt es wohl kaum einen Brief, der vielen Christen so seltsam und fremd erscheint wie der Hebräerbrief. In ihm treten wir ein in die Welt von Melchisedek und Aaron, Engeln und Mose, Opfern und Priestern. Für uns klingt das alles sehr alttestamentlich, äußerst kompliziert und möglicherweise sogar verwirrend.

Wenn es dir auch so geht, dann ist es an der Zeit, den Hebräerbrief (wieder)zuentdecken. Doch wie?

Das große Ganze erkennen

Wenn wir ein biblisches Buch lesen, sollten wir zunächst versuchen, „das große Ganze“ zu erfassen. Die zu diesem Zweck zweiteinfachste (aber in der Regel am besten geeignete) Methode ist, das Buch mit Augenmerk auf die natürliche Gliederung zu überfliegen, dabei die Hauptthemen zu identifizieren und kurz den Gedankengang bzw. den Handlungsablauf stichwortartig zu notieren.

Die einfachste (aber eigentlich zweitbeste!) Methode ist – selbstverständlich –, die Reformations-Studienbibel zur Hand zu nehmen. Dort findet man mühelos einen kurzen Überblick über das jeweilige biblische Buch.

Zu Beginn könnte folgende Methode ein guter Kompromiss sein: Du versuchst selbst, den Inhalt des Buches kurz zusammenzufassen, und nimmst dann die Übersicht in der Studienbibel hinzu, um sie mit deinen eigenen Notizen zu vergleichen.

Das Hauptthema des Hebräerbriefes ist eigentlich ziemlich offensichtlich. In einfachen Worten: „Jesus ist der Größte.“

Jesus ist: größer als die Engel (vgl. Hebr 1–2), größer als Mose (vgl. Hebr 3,1–4,13), größer als alle Priester und Hohepriester (vgl. Hebr 4,14–7,28) und größer als alle Opfer des Alten Testaments (vgl. Hebr 8–10).

Weil das so ist, sollen wir – wie diese Helden des Glaubens, die sich auf das Kommen des Messias freuten – unsere Augen beständig auf Jesus richten, während wir im Glauben ausharren (vgl. Hebr 11–12) und gemeinsam als Gemeinschaft des neuen Bundes leben (vgl. Hebr 13).

Wenn wir uns in Details verlieren, erweckt der Hebräerbrief in uns den Eindruck eines langen, labyrinthartigen Buches. Doch wenn wir das Gesamtbild erfassen, erkennen wir, warum der Autor meinte, er habe „mit wenigen Worten geschrieben“ (Hebr 13,22).

Glitzernde Diamanten

Innerhalb dieses Gesamtbildes kann man so manchen kostbaren Schatz entdecken. Als Beispiele seien fünf Juwelen genannt:

Erstens ist der Hebräerbrief ein Brief, der völlig von Jesus durchdrungen ist und uns seine Herrlichkeit zeigt. Je öfter wir diesen Brief lesen, desto mehr merken wir, dass es hier eigentlich nicht um Engel, Mose, Melchisedek, Aaron oder die Anbetung im Alten Bund geht. Letztlich geht es darum, dass Gott den Lauf der Heilsgeschichte so geordnet hat, dass es in allem um Jesus geht.

„Der Hebräerbrief ist völlig von Jesus durchdrungen und zeigt uns seine Herrlichkeit.“
 

Zweitens hilft uns der Hebräerbrief zu erkennen, dass die Beziehung zwischen Altem und Neuem Bund sowohl durch Einheit als auch durch Verschiedenheit gekennzeichnet ist. Der Autor sagt uns das gleich zu Beginn: „In vergangenen Zeiten“ redete Gott vielfältig und auf vielerlei Weise zu den Vätern; das tat er jedoch durch die Propheten (Hebr 1,1). „In diesen letzten Tagen“ hat Gott zu uns geredet, nun durch den Sohn (Hebr 1,2). In diesen beiden Aussagen ist die gesamte Botschaft der Bibel zusammengefasst: Die alttestamentliche Offenbarung ist bruchstückhaft und vielfältig; Jesus ist vollständig und endgültig. Er offenbart Gott auf perfekte Weise, denn er ist „die Ausstrahlung seiner [Gottes] Herrlichkeit und der Ausdruck seines Wesens“ (Hebr 1,3).

Im Alten Testament finden wir eine Vielzahl von Abbildern und Schatten (vgl. Hebr 9,23; 10,1). Jesus ist das Original und die Wirklichkeit.

Drittens beschreibt der Hebräerbrief auf bewegende Weise die Realität der Menschlichkeit Jesu. Da uns das levitische System so wenig vertraut ist und wir uns leicht darin verlieren, mögen wir das auf Anhieb vielleicht gar nicht sehen. Doch bei wiederholtem Lesen wird das deutlich werden.

Der Sohn Gottes hat als Mensch Anteil gehabt an unserer Schwachheit und hat eben diese Menschlichkeit, in welcher er unsere Schwachheit geschmeckt hat, mit in den Himmel genommen. Durch ihn können wir mit Freimütigkeit vor Gottes Thron treten, in dem Wissen, dass dort Barmherzigkeit für unsere Schwäche und Gnade für unsere Sündhaftigkeit zu finden ist (vgl. Hebr 4,14–16).

Der Sohn Gottes wurde zu einem Mann des Gebets und der Tränen. Seinen Gehorsam hat er im Leiden geübt. Wir können ihm als dem Urheber unserer Errettung vertrauen (vgl. Hebr 5,7–9).

Viertens entfaltet der Hebräerbrief auf wundervolle Weise die Herrlichkeit Jesu. Jedes Kapitel weist darauf hin. Es lohnt sich, sich die Zeit zu nehmen, um einmal die zentralen Textstellen zu lesen. Hierzu gehören Hebräer 1,3; 2,9; 3,3; 4,14; 5,9; 6,20; 7,22; 8,1; 9,15; 10,12; 11,40–12,2 und 13,8. Jesus ist „derselbe gestern und heute und auch in Ewigkeit“, das heißt, er ist der Eine, der im alten Bund bruchstückhaft und vorläufig offenbart wurde, im neuen Bund vollständig offenbart worden ist, und im Eschaton (am Ende der Tage) endgültig offenbart werden wird.

Fünftens spricht der Hebräerbrief mit einem hohen seelsorgerlichen Einfühlungsvermögen zu uns. Er ist schließlich ein „Wort der Ermahnung“ bzw. Ermutigung. Was Leid, die Angst vor Verfolgung, die Gefahr der Entmutigung und unsere Kämpfe gegen die Sünde angeht, ist er realistisch. Ebenso realistisch ist er im Hinblick auf die Möglichkeit, dass Menschen vom Glauben abfallen, auf die durch die verdammende Stimme des Gewissens hervorgerufene geistliche Lähmung und hinsichtlich der Möglichkeit, dass es uns an Gewissheit mangeln könnte.

Das Heilmittel des Hebräerbriefs gegen jede Art von geistlichen Beschwerden ist in einer Theologie zu finden, die gleichzeitig von großer Einfachheit und reicher Komplexität geprägt ist: Richte deinen Blick auf Jesus, den Apostel und Hohenpriester unserer Berufung (vgl. Hebr 3,1), den Begründer und Vollender unseres Glaubens (vgl. Hebr 12,2). Betrachte alles im Lichte dessen, wer Jesus ist, was er getan hat und was er heute noch immer tut. Wenn du das tust, kannst du nicht falsch liegen.