Die Schrift kennen
Oft wird gesagt, man könne der Bibel nicht vertrauen, weil man jede nur erdenkliche Position mit ihr begründen kann. Dieser Vorwurf wäre berechtigt, wenn die Bibel nicht das objektive Wort Gottes wäre, sondern einem leicht manipulierbaren Menschen gleichkäme, den man so formen, verdrehen und verzerren kann, dass er die eigenen Vorstellungen lehrt. Der Vorwurf wäre auch berechtigt, wenn es keine Beleidigung gegenüber Gott, dem Heiligen Geist, wäre, etwas in die Schrift hineinzulesen, was dort nicht steht. Die Aussage, die Bibel könne alles lehren, was wir wollen, ist jedoch nicht wahr, wenn wir demütig an die Schrift herangehen und versuchen das zu hören, was die Bibel selbst sagt.
Die Schrift in ein Schema pressen?
Manchmal wird Systematische Theologie abgelehnt, weil sie der Schrift angeblich ein unzulässiges, philosophisches System auferlegt. Sie wird als vorgefertigtes Gebilde gesehen, als Prokrustesbett, in das man die Schrift hineinzwängt. Damit sie hineinpasst, muss man ihr die Gliedmaßen abhacken. Die angemessene Vorgehensweise an die Systematische Theologie erkennt jedoch an, dass die Bibel selbst ein System enthält. Aufgabe des Theologen ist es, der Bibel kein System aufzuzwingen, sondern eine Theologie zu formulieren, indem er das System versteht, das die Bibel lehrt.
„Wir sollen die Schrift schriftgemäß auslegen. Der höchste Schiedsrichter bei der Auslegung eines bestimmten Verses der Schrift ist die gesamte Lehre der Bibel.“
Um die ungezügelten, spekulativen und phantasievollen Auslegungen der Schrift zur Zeit der Reformation zu beenden, stellten die Reformatoren das grundlegende Prinzip auf, das alle biblische Auslegung beherrschen soll. Es wird „die Analogie des Glaubens“ genannt, was grundsätzlich bedeutet, dass die Heilige Schrift sich selbst auslegt. Anders ausgedrückt: Wir sollen die Schrift schriftgemäß auslegen. Der höchste Schiedsrichter bei der Auslegung eines bestimmten Verses der Schrift ist die gesamte Lehre der Bibel.
Übereinstimmung als Kleinlichkeit?
Dem Prinzip der Analogie des Glaubens geht die Gewissheit voraus, dass die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist. Wenn sie Gottes Wort ist, dann muss sie widerspruchsfrei und in sich stimmig sein. Zyniker sagen jedoch, auf die Kohärenz zu pochen sei nur Spitzfindigkeit und Haarspalterei. Wenn das wahr wäre, dann müssten wir Gott selbst den spitzfindigsten aller Haarspalter nennen. Die innere Übereinstimmung der Bibel ist jedoch keine Spitzfindigkeit oder Kleinigkeit. Wenn die Bibel das Wort Gottes ist, dann kann man vollkommen zu Recht erwarten, dass die ganze Bibel widerspruchsfrei, verständlich und in sich stimmig ist. Wir nehmen an, dass Gott sich wegen seiner Allwissenheit niemals selbst widersprechen würde. Es ist daher eine Beleidigung gegen den Heiligen Geist, eine Auslegung eines bestimmten Abschnitts zu wählen, welche diesen Abschnitt unnötig in Konflikt mit dem bringt, was Gott an anderen Stellen offenbart hat. Das beherrschende Prinzip der reformierten Hermeneutik bzw. Auslegung ist die Analogie des Glaubens.
„Sie legen die Bibel doch nicht wörtlich aus?“
Ein zweites Prinzip, das für eine objektive Auslegung der Schrift maßgeblich ist, heißt sensus literalis. Oft haben Menschen mich ungläubig gefragt: „Sie legen die Bibel doch sicher nicht wörtlich aus, oder?“ Ich antworte darauf immer mit: „Sicher, wie anders könnte man die Bibel denn auslegen?“ Mit sensus literalis ist nicht gemeint, dass jeder Text der Schrift „hölzern wörtlich“ ausgelegt werden soll, sondern dass wir die Bibel in dem Sinne auslegen, in dem sie geschrieben ist. Gleichnisse werden als Gleichnisse ausgelegt, Symbole als Symbole, Poesie als Poesie, Lehrschriften als Lehrschriften, historische Berichte als historische Berichte, einzelne Briefe als einzelne Briefe. Dieses Prinzip der wörtlichen Auslegung ist dasselbe Prinzip, das wir bei der verantwortungsvollen Auslegung jeder Art von schriftlichen Quellen verwenden.
„Mit sensus literalis ist nicht gemeint, dass jeder Text der Schrift „hölzern wörtlich“ ausgelegt werden soll, sondern dass wir die Bibel in dem Sinne auslegen, in dem sie geschrieben ist.“
Das Prinzip der wörtlichen Auslegung führt zu einer weiteren Regel, nämlich dass die Bibel in gewisser Hinsicht so gelesen werden soll wie jedes andere Buch. Die Bibel ist nicht wie jedes andere Buch, weil sie durch ihre Inspiration Gottes Autorität besitzt. Trotzdem verwandelt die Inspiration des Heiligen Geistes Verben nicht in Substantive und Substantive nicht in Verben. Keinem Text wohnt nur deshalb eine besondere, geheime, verborgene, esoterische Bedeutung inne, weil er von Gott inspiriert wurde. Genauso wenig gibt es ein „Griechisch des Heiligen Geistes“. Nein, die Bibel soll gemäß den gewöhnlichen Regeln der Sprache ausgelegt werden.
Welche Textstellen legen welche Textstellen aus?
Ganz eng verwandt mit diesem Punkt ist das Prinzip, dass das Implizite durch das Explizite ausgelegt werden muss – und nicht das Explizite durch das Implizite. Gegen diese Auslegungsregel wird ständig verstoßen. Wir lesen zum Beispiel in Johannes 3,16, dass „jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben habe“. Viele von uns ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass die Bibel lehrt, dass jeder ohne das erneuernde Werk des Heiligen Geistes Glauben haben kann, da sie lehrt, dass jeder, der glaubt, gerettet werden soll. Das heißt: Da jeder aufgerufen wird zu glauben, impliziert das, dass jeder die natürliche Fähigkeit hat, dem Ruf zu folgen. Derselbe Autor des Evangeliums berichtet jedoch, wie Jesus uns drei Kapitel später erklärt, dass niemand zu Jesus kommen kann, es sei denn, es ist ihm von Vater gegeben (vgl. Joh 6,65). Das heißt: Es wird explizit und spezifisch gelehrt, dass uns ohne die souveräne Gnade Gottes die moralische Fähigkeit fehlt, zu Christus zu kommen. Daher müssen alle Implikationen, die etwas anderes andeuten, der expliziten Lehre untergeordnet werden, anstatt der expliziten Lehre Gewalt anzutun, damit sie zu den Implikationen passt, die wir aus dem Text ziehen.
„Zahlreiche Irrlehren haben sich entwickelt, weil Menschen Abschnitten Gewalt antun, um sie an unklare Abschnitte anzupassen, anstatt sich an klaren Abschnitten zu orientieren.“
Schließlich ist es immer wichtig, unklare Abschnitte mithilfe von klaren Abschnitten auszulegen. Obwohl wir die grundsätzliche Klarheit der heiligen Schrift bekräftigen, sagen wir damit nicht, dass alle Abschnitte gleichermaßen klar sind. Zahlreiche Irrlehren haben sich entwickelt, weil Menschen Abschnitten Gewalt antun, um sie an unklare Abschnitte anzupassen, anstatt sich an klaren Abschnitten zu orientieren. Dadurch wurde die ganze Botschaft der Schrift verzerrt. Wenn etwas in einem Teil der Schrift unklar ist, dann wird es wahrscheinlich an einer anderen Stelle der Schrift geklärt. Wenn man zwei Abschnitte in der Schrift hat, die man unterschiedlich auslegen kann, dann wollen wir die Bibel immer auf eine Weise auslegen, welche nicht das grundlegende Prinzip der Einheit und Wahrhaftigkeit der Schrift verletzt.
Das sind nur einige der grundlegenden, praktischen Prinzipien der Bibelauslegung, die ich vor Jahren in meinem Buch Knowing Scripture[1] vorgelegt habe. Ich erwähne das Buch deshalb an dieser Stelle, weil mir so viele Menschen gesagt haben, was für ein hilfreicher Wegweiser zu einer verantwortungsvollen Praxis der Auslegung der Bibel es für sie war. Es ist außerordentlich hilfreich, wenn man die Prinzipien der Auslegung als Wegweiser für das eigene Bibelstudium erlernt.
[1] Auf Deutsch erschienen unter dem Titel Bibelstudium für Einsteiger: Eine Einführung in das Verstehen der Heiligen Schrift, Oerlinghausen: Betanien, 2009, 140 Seiten.