Ist „Sei dir selbst treu“ ein guter Rat?

Buchauszug von Brian Rosner
24. August 2022 — 11 Min Lesedauer

Das Selfmade-Ich

Man muss heutzutage nicht lange suchen, um festzustellen, dass persönliche Identität ein Do-it-yourself-Projekt ist. Ein Fitnessstudio in der Nähe meines Wohnortes wirbt mit dem Slogan: „Be Fit. Be Well. Be You“ („Sei fit. Sei gesund. Sei Du“). Und direkt um die Ecke trägt ein neuer Apartmentkomplex, in dem hochwertiges Luxusdesign angeboten wird, die Überschrift: „An Unlimited You“ („Ein unbegrenztes Du“). Die Menschen, so scheint es, denken ständig über sich selbst nach – und das mit hohen Erwartungen!

Auch Schulen sind mit von der Partie. Der Werbeslogan einer Schule gab den derzeitigen und zukünftigen Schülern folgenden Ratschlag: „Be Inspired. Be Challenged. Be Excellent. Be You“ („Sei motiviert. Sei herausgefordert. Sei genial. Sei Du“). Man könnte sagen, dass es das Ziel eines jeden Schülers ist, die Schule mit dem bekannten Lied aus The Greatest Showman auf den Lippen zu verlassen: „Look out ’cause here I come“ („Aufgepasst, denn hier komme ich“). Der Text, eine regelrechte Hymne für Millennials und die Generation Z, handelt davon, dass man unbeirrt seinen Weg geht und der Welt stolz verkündet, wer man wirklich ist.

In der Popkultur wird dieses Streben nach Selbsterkundung und Selbstdarstellung regelmäßig aufgegriffen. Man denke nur an den jahrzehntelangen Erfolg von Madonna – Sängerin, Songschreiberin, Schauspielerin und Geschäftsfrau –, die genau diese Herangehensweise an Identität verkörpert. Madonna ist dafür bekannt, dass sie nicht nur ihre Musik, sondern auch ihr Image regelmäßig neu erfindet. So überrascht es nicht, dass ihre sechste große Konzerttournee den Titel „Reinvention World Tour“ („Neuerfindungs-Welttournee“) trug. Bei der persönlichen Identität geht es heute vor allem um Selbstdefinition und Selbstdarstellung.

In der Vergangenheit war die Identität eines Menschen mehr oder weniger festgelegt und vorhersehbar. Viele der großen Fragen des Lebens standen im Grunde schon vor der Geburt fest: Wo sollte man leben? Was würde man tun? Wen würde man heiraten? Welche grundlegenden Überzeugungen sollte man vertreten? Und so weiter. Natürlich durfte man gewisse Dinge selbst entscheiden, aber der grundlegende Verlauf des Lebens war von Beschränkungen gekennzeichnet und beinhaltete kaum Wahlmöglichkeiten. Heute sind wir dagegen für alle Möglichkeiten offen. Uns selbst zu finden, zu definieren und sogar zu erfinden, gehört wie selbstverständlich zum Pflichtprogramm.[1] An ganz vielen Stellen hört man Ratschläge wie „Sei dir selbst treu“, „Folge deinem Herzen“ und – die neueste und angesagteste Version – „You Do You“ („Sei du selbst“).[2]

Viele Menschen haben heutzutage ein, wie Soziologen es ausdrücken, „gepuffertes Selbst“ („buffered self“), ein Ich also, das von innen heraus und unter Ausschluss von äußeren Rollen und Bindungen definiert und geformt wird. Wir finden unser wahres Selbst, indem wir uns von äußeren Einflüssen wie Herkunft, Familie, Religion und Tradition abgrenzen und dadurch selbst bestimmen, wer wir sind. Das „gepufferte Selbst“ steht im Gegensatz zum „porösen Selbst“ („porous self“), das sich vor allem in kollektivistischen Gesellschaften findet – z.B. in Teilen Asiens und Afrikas – und bei dem äußere soziale Bindungen und Rollen ausschlaggebend für die eigene Identität sind. Beim „porösen Selbst“ findet man sich selbst, indem man in seine familiären und gemeinschaftlichen Rollen hineinwächst.

Selbstbestimmung liegt heute in der Verantwortung eines jeden Einzelnen und ist nicht mehr, wie es am Ende des Ersten Weltkrieges der Fall war, ein Prinzip der Nationen. In unserer Zeit ist Selbstdefinition der kulturell geförderte Weg zur Identitätsbildung. Wir haben heute ein Do-it-yourself-Ich oder ein Selfmade-Ich, das nur nach innen schaut, um sich selbst zu finden. Akademiker bezeichnen dies als expressiven Individualismus („expressive individualism“).

Die Hauptgrundsätze des expressiven Individualismus lassen sich in sieben Punkten zusammenfassen:

  • Der beste Weg, dich selbst zu finden, ist der Blick nach innen.
  • Glück ist das höchste Ziel im Leben.
  • Alle moralischen Urteile sind lediglich Ausdruck von Gefühlen oder persönlichen Vorlieben.
  • Formen der äußeren Autorität sind abzulehnen.
  • Die Welt wird sich in dem Maße dramatisch verbessern, in dem der Spielraum für individuelle Freiheit wächst.
  • Das Streben eines jeden nach Selbstverwirklichung sollte gefeiert werden.
  • Bestimmte Aspekte der Identität eines Menschen – wie etwa sein Geschlecht, seine ethnische Zugehörigkeit oder seine Sexualität – sind von größter Bedeutung.

Diese sieben Punkte bilden eine kohärente Weltanschauung, erzählen eine überzeugende Geschichte und (was für unsere Zwecke am wichtigsten ist) legen eine Strategie zur Herausbildung der persönlichen Identität fest.

„Die größte Angst besteht zudem darin, sich selbst nicht treu bleiben zu können.“
 

Der erste Punkt ist der wichtigste. Eine Umfrage aus dem Jahr 2015 ergab, dass 91 Prozent der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten der Meinung sind, dass man dann am besten zu sich selbst findet, wenn man in sich selbst hineinschaut.[3] Alles andere ergibt sich aus dieser Überzeugung: Man denkt, dass man, wenn man nicht nach innen schaut, unter die Kontrolle derer gerät, die einen unterdrücken wollen. Man befürchtet, dann nicht sein volles Potenzial ausschöpfen zu können. Die größte Angst besteht zudem darin, sich selbst nicht treu bleiben zu können. Das ist die Botschaft, die in unserer heutigen Welt aus allen Richtungen laut und deutlich zu hören ist. Francis Fukuyama schreibt:

„Das therapeutische Modell ging direkt aus zeitgenössischen Identitätsbegriffen hervor. Es postulierte, dass wir tiefe innere Räume besitzen, deren Potenzial nicht verwirklicht wird, weil die externe Gesellschaft uns durch Vorschriften, Rollen und Erwartungen zurückhält.“[4]

Der Philosoph Andrew Potter argumentiert, dass „viele von uns, wenn es um persönliche Entfaltung geht, die Auffassung vertreten, dass das Selbst ein Akt künstlerischer Schöpfung ist.“[5] Der Soziologe Anthony Elliott stimmt dem zu: „Wir reagieren auf die Instabilität der Globalisierung, indem wir uns neu erfinden.“[6] Und Dale Kuehne bemerkt:

„In der iWorld [gemeint ist die individualistische postmoderne Welt] ist Identität etwas, das wir auswählen oder erschaffen sollen. Wenn wir das, was wir sind, nicht mögen oder uns damit nicht wohlfühlen, werden wir ermutigt, uns – im Rahmen unserer und der wissenschaftlichen Möglichkeiten – entsprechend umzugestalten.“[7]

Eines der meistverkauften Lieder aller Zeiten wird von Elsa gesungen, einer Figur aus dem Film Frozen. Es ist so etwas wie eine Hymne für die Generation Z und wurde auf YouTube über 1,5 Milliarden Mal angesehen: „Was ich wohl alles machen kann / Die Kraft in mir treibt mich voran / Was hinter mir liegt ist vorbei, endlich frei!“ („It’s time to see what I can do / To test the limits and break through / No right, no wrong, no rules for me / I’m free!“)

Wie Tim Keller erklärt, ist die Stimmung des Songs

„ein gutes Beispiel für den „expressiven Individualismus“ ... Wir finden unsere Identität nicht dadurch, dass wir unsere persönlichen Wünsche für das Wohl unserer Familie und Gesellschaft hintanstellen, sondern nur dadurch, dass wir sie gegen unsere Umgebung durchsetzen; es gilt, seine Gefühle auszudrücken und seine Träume zu erfüllen, egal, was die anderen sagen.[8]

Die Begleiterscheinung dieses Selbsterkennens ist der Ratschlag, sich selbst treu zu sein, was heutzutage so ziemlich das Hilfreichste ist, das man jemandem sagen kann. Im Jahr 2008 interviewte der Filmemacher und Fotograf Andrew Zuckerman „einige der bedeutendsten Ältesten der Welt“, darunter Nelson Mandela, Madeline Albright, Billie Jean King, Judi Dench, der Dalai Lama und Buzz Aldrin. In einer fünfbändigen Buchreihe, die einfach nur den Titel Weisheit trug, wurden ihre Bilder und Ratschläge festgehalten. Schlägt man das erste Buch auf, findet man auf der ersten Doppelseite in großer, fetter Schrift ein Destillat ihrer klugen Ratschläge – es lautet: „Niemand kann mir beibringen, wer ich bin.“[9] Wenn es darum geht, zu wissen und zu werden, wer man ist, liegt der Ball ganz bei einem selbst.

„Eine wichtige Triebkraft des expressiven Individualismus ist der Wunsch, ein authentischeres Leben zu führen.“
 

Eine wichtige Triebkraft des expressiven Individualismus ist der Wunsch, ein authentischeres Leben zu führen. Sich selbst treu zu sein „erfasst das Ausmaß unseres Engagements für Authentizität als moralisches Ideal.“[10] Dies spiegelt sich in der Art und Weise wider, in der persönliche Autonomie heute in fast jeder ethischen Debatte das letzte Wort hat. Ob es um Geschlecht, Sexualität, Abtreibung oder Sterbehilfe geht, die Wahrung der individuellen Entscheidungsfreiheit steht im Vordergrund. Leslie Cannold stellt fest:

„Der zentrale moralische Wert in einer modernen multikulturellen Gesellschaft ist die Autonomie, das Recht des Einzelnen, den Verlauf seines Lebens nach seinen eigenen Bedürfnissen und Werten zu bestimmen.“[11]

Das Selfmade-Ich evaluieren

Wie neuartig ist diese Herangehensweise an Identität? Meine Antwort lautet, dass sie nahezu beispiellos ist, es sich also um eine junge Entwicklung in der Geschichte der Menschheit handelt. Angesichts der Tatsache, dass es sich um eine unerprobte Innovation handelt, ist die Stärke des Engagements für den expressiven Individualismus in so vielen Bereichen der Gesellschaft und seine unbestrittene Vorherrschaft bemerkenswert.

Der Anthropologe Clifford Geertz drückt es gut, wenn auch etwas abstrus, aus:

„Die abendländische Vorstellung von der Person als einem fest umrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewußtseins, Fühlens, Urteilens und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und natürlichen Hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee.“[12]

Geertz’ Bewertung wirft drei drängende Fragen zur persönlichen Identität auf.

Erstens: Ist das Selfmade-Ich belastbar? Die Idee einer „abgepufferten“ und abgegrenzten Person mag in unserer Gesellschaft großen Anklang finden und selbstverständlich erscheinen, aber es ist noch unklar, wie tragfähig dieser Weg für eine dauerhafte und sinnvolle Identitätsbildung ist.

Zweitens: Funktioniert das Selfmade-Ich? Zweifellos hat das „gepufferte“ Selbst die Tür für unendliche Entscheidungen und Möglichkeiten geöffnet. Aber führt der expressive Individualismus tatsächlich zu guten Ergebnissen für den Einzelnen? Führt er zu guten Ergebnissen für die Gesellschaft als Ganzes? Führt er zu dem, was wir als „das gute Leben“ bezeichnen würden?

Drittens: Ist das selbstgemachte Ich unverbesserlich? Auch wenn uns der expressive Individualismus – der den unteren Teil unseres kulturellen Eisbergs bildet und somit nicht bewusst von uns wahrgenommen wird – heute als natürlich erscheinen mag, wirft seine historische Eigentümlichkeit die Frage auf, ob wir es hier wirklich mit dem sinnvollsten und besten Weg zu tun haben, ein Gespür für sich selbst zu entwickeln.

Die Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft, die sich aus der Umsetzung einer so grundlegenden Idee ergeben – nämlich der Art und Weise, wie wir unsere Identität formen –, werden sich erst in Jahrzehnten herauskristallisieren und bewerten lassen. Wir sind jetzt seit mindestens zwanzig Jahren auf diesem Weg. Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und das Ganze einer Prüfung zu unterziehen.

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Dieser Buchauszug stammt aus How to Find Yourself: Why Looking Inward Is Not the Answer von Brian S. Rosner.


[1] Sarah-Jayne Blakemore z.B. betitelt ihr Buch über das Jugendalter folgendermaßen: Inventing Ourselves: The Secret Life of the Teenage Brain, London: Transworld, 2018.

[2] Das Urban Dictionary definiert „you do you“ als „sei einfach du selbst“.

[3] David Kinnaman/Gabe Lyons, Good Faith: Being a Christian When Society Thinks You’re Irrelevant and Extreme, Grand Rapids, MI: Baker, 2016, S. 58.

[4] Francis Fukuyama, Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg: Hoffmann und  Campe Verlag, 2019, S. 87.

[5] Andrew Potter, The Authenticity Hoax: Why theRealThings We Seek Don’t Make Us Happy, New York: Harper, 2011, S. 3.

[6] Berichtet von Bella Ellwood-Clayton, „Changing partners—Love actually“, Sun Herald, 28.06.2009.

[7] Dale S. Kuehen, Sex and the iWorld: Rethinking Relationship Beyond an Age of Individualism, Grand Rapids, MI: Baker, 2009, S. 139.

[8] Timothy Keller, Predigen: Damit Gottes Wort Menschen erreicht, Gießen: Brunnen Verlag, 2017, S. 126.

[9] Chinua Achebe, zitiert in Andrew Zuckerman, Wisdom, rev. Ed., New York: Harry N. Abrams, 2011.

[10] Andrew Potter, The Authenticity Hoax, S. 18.

[11] Leslie Cannold, „In the end, we should have faith in our right to choose“, Sun Herald, 26.09.2010.

[12] Clifford Geertz, „‚Aus der Perspektive der Eingeborenen‘. Zum Problem des ethnologischen Verstehens“, in: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 294.