Die große Verkehrung

Rezension von Hanniel Strebel
18. August 2022 — 8 Min Lesedauer

Alles läuft auf eine Umkehr (oder Abkehr) hinaus

Ich lese regelmäßig gesellschaftskritische Literatur – auch aus christlicher Feder. Nur zu oft beschleicht mich dabei das Gefühl, dass am Schluss nicht ganz klar geworden ist, was den Kern der guten Botschaft ausmacht. Darauf läuft dieses Essay-artig verfasste Werk von Monika Hausammann aber gerade hinaus. „Was sollen wir tun, um zum Glauben zu kommen?“, fragt die Autorin den Leser. Sie lässt dabei keinen Zweifel aufkommen, dass es nicht darum geht, „in eine Art bilateraler Rechtfertigungs- und Erlösungs-Kooperation mit Gott einzutreten“ (S. 133). Auch handle es sich nicht um ein innerweltliches oder innermenschliches Verbesserungsprogramm:

„Wessen es bedarf, ist ebenso umfassend, wie der Bruch es war, das Ausreißen, die Abkehr: etwas Neues. Nicht nur eine Reparatur, eine Wiederherstellung des Alten, sondern eine Neuschöpfung. Keine Neu-Addition gewisser im Bruch verloren gegangener Eigenschaften und Qualitäten, sondern ein neuer Mensch.“ (S. 134)

Diese Umkehr ist auf göttliche Initiative zurückzuführen, wahrgenommen durch göttliche Stellvertretung und Schuldübernahme. „Die einzige Alternative, die es gibt, ist die, dass ein anderer an seiner Stelle in der Fremde bleibt, die Trennung und den Tod akzeptiert, vollzieht und ihn freikauft“ (S. 135). Die biblische Reihenfolge lautet deshalb: Aus dem neuen Leben heraus folgen die entsprechenden Taten.

„Der neue Indikativ, die neue Gabe, der neue Zuspruch und damit der neue Imperativ, die neue Aufgabe, der neue Anspruch – kurz: die neue Schöpfung und damit ein neues Leben. Erst nach diesem Sprung stellt sich überhaupt die Frage ‚Was sollen wir tun?‘“ (S. 137)

Die Autorin, die sich als Nicht-Theologin und Nicht-Philosophin identifiziert und zudem mit dem Anspruch einer „sauberen Deklaration“ des christlichen Ausgangspunktes (S. 10) antritt, bleibt vielleicht gerade durch diese Klarheit bezüglich des Kerns des Evangeliums eine Unterscheidung zweiter Ordnung schuldig. Diese hätte größere Klarheit in die Argumentation gebracht. Abgesehen von seiner rettenden Gnade sorgt der dreieinige Gott durch seine erhaltende Gunst für die Bewahrung vor der restlosen Selbstzerstörung des Menschen. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Durch das in jedem Menschen eingepflanzte Gewissen, das auf das göttliche, in ihre Herzen eingeschriebene Gebot reagiert (vgl. Röm 2,14f) – überwiegend in der Form, dass es Abweichungen bei anderen feststellt (vgl. Röm 1,32) bzw. sich selbst entschuldigt (vgl. Röm 2,15) – bleibt jeder Mensch ohne Ausrede (vgl. Röm 1,21; 2,1). Das Böse wird begrenzt, auch wenn es zu gewissen Zeiten überhandzunehmen scheint. Schon die alttestamentlichen Propheten lebten im Bewusstsein einer „bösen Zeit“ (vgl. Am 5,13; Mi 2,3). Die Unterscheidung zwischen rettender Gnade und erhaltender Gunst ist dann besonders hilfreich und wichtig, wenn es um das Abstecken möglicher gesellschaftlicher Veränderung geht.

„Die biblische Reihenfolge lautet deshalb: Aus dem neuen Leben heraus folgen die entsprechenden Taten.“
 

Hausammann bleibt hierbei ganz beim Einzelnen: Jeder hat in seinem Stand vor Gott seiner Verantwortung nachzukommen und entsprechend zu handeln. Zu keinem Zeitpunkt befindet sich der Mensch in einem Zustand der Bindungslosigkeit (S. 55). Indem er Aufgaben an den Staat auslagert, begibt er sich in eine neue, enge Form der Bindung.

„Wo andere nämlich entscheiden, was das Notwendige sei, und es dann auch gewähren, da bleibt dem einzelnen uniform Vermassten und damit gerade Ent-Personifizierten nur die Unterwerfung unter die privilegierte Kaste jener, welche diese Einsicht zu haben vorgeben.“ (S. 66)

In diesem Zustand flüchtet er sich „in das Pathos des Opfer-Seins, deutet persönliche Verantwortung und Schuld in Schicksal um, belügt sich selbst und versteckt sich vor Gott“ (S. 72).

Die große Verkehrung

Wenden wir uns jetzt dem Titel des Buches zu, welches übrigens klug durch das Cover mit dem schemenhaften Bild einer Stadt auf dem Kopf visualisiert wird. Die fehlende Umkehr wirkt sich in einer Verkehrung aus. Einer nachweislich vom Christentum geprägten Gesellschaft wird dessen Substanz schrittweise entzogen. „Der einzige Plan“ erschöpfe sich „im Niederreißen der alten Mauern“ (S. 13). Dies zeige sich darin, dass „die zeitgeistigen Verlautbarungen und die konkreten Bemühungen der Meinungsindustrie auf ihre Relativierung, ihre Auflösung oder ihre Umkehrung ins Gegenteil hinauslaufen“ (S. 14). Weder Marx noch Nietzsche hätten sich derart schamlos getraut, „in die Quelle zu spucken, aus der unsere ganze Zivilisation getrunken hat“ (S. 15), wie es heute an der Tagesordnung sei. Einen Seitenhieb gegen die kritische Theorie austeilend, schreibt Hausammann: „Die Vernunft, die heute den ‘alten weißen Mann’ bekämpft, mit Mitteln, Zeit und Begriffen, die sie ohne den alten weißen Mann gar nicht kennen, geschweige denn besitzen würde“ (S. 16). Jeder Schritt werde deshalb zum Rückschritt.

„Die fehlende Umkehr wirkt sich in einer Verkehrung aus.“
 

Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort darauf bildet den wohl stärksten Teil dieses Buches. Es geht um die Frage, „wem der Mensch gehöre: sich selber, wie der Humanismus es fordert, Gott, wie die Bibel es bezeugt“ (S. 24). Humanismus und Aufklärung sehen die Person als leeres Gefäß, die kraft der „Vernunft über den Abgrund der postulierten Leere und Sinnleere unserer Existenz“ springe (S. 26). Von dieser falschen Grundannahme aus treten „erbarmungslose Imperative zur Selbstschöpfung an den Menschen heran: ‘Erschaffe dich selbst! Werde ein Ich!’“ (S. 27). Der Mensch als „Wesen von identitätsloser Leere, von tierhafter Unschuld und im Grunde jenseits der Verantwortung“ (ebd.) werde vom Diktat der zeitgeistigen Imperative regiert.

„Der Mensch lebt dann nicht mehr als sich selbst gehörend in der Welt als Forum sich ihm bietender Handlungsoptionen, sondern in einem Unterordnungsverhältnis in einer vom Staat durchregulierten und gebändigten Welt.“ (S. 33)
„Während Identität im klassischen Humanismus auch das Resultat einer Selbstgestaltung aufgrund von Selbsterkenntnis ist, sagt der Zeitgeist, es gäbe vorderhand nichts zu erkennen; der Mensch, wolle er sich erkennen, müsse sich quasi erst selber erfinden, um sich anschließend selber zu erschaffen.“ (S. 114)

Diese Imperative erweisen sich jedoch als große Mogelpackung. „Die Revolution des Selbst ist seine Reduktion. Die Verwirklichung ist Verkümmerung“ (S. 38). Abgekehrt von seinem Stand von Gott sei der Mensch in der Lage „alles, auch die besten Dinge, in diesem Sinn zu vergötzen und damit zu Institutionen der Unfreiheit zu machen“ (S. 80).

Abkehr von der rastlosen Selbsterfindung

Was tut Not? Hierin kehrt Hausammann ein gängiges Vorurteil um, wenn sie betont, der Glaube sei in diesem Sinne eine Flucht. Eine Abkehr von dem, was ihn in permanenter Unsicherheit und Angst fessle. Die Ursache für diese Grundangst ist in unserer Sicht auf die Welt zu suchen, die „dem Menschen ohne Ordnung regellos, chaotisch und völlig unvorhersehbar und damit bedrohlich“ vorkomme (S. 19). „Nur im Verstehbaren können wir leben. Alles andere ist zuerst Unbehagen, dann Angst, dann Wahn“ (S. 20). Gottes ewige, unwandelbare Ordnung „schützt den Menschen vor eigenem falschen Handeln und vor dem falschen Handeln anderer“ (S. 22). Was gilt es zu korrigieren? Zunächst ist die Einsicht nötig, dass „die Vergötzung Gottes durch seine Vermenschlichung und damit im Umkehrschluss die Vergottung des Menschen, … das Überschreiten der heiligen Grenze zwischen Gottebenbildlichkeit und Gottebenbürtigkeit“ bedeutet (S. 42). Der Mensch lebt stets in einer doppelten Beziehung, „einmal im Gehorsam auf seinen Schöpfer und einmal in Verantwortung seiner Handlungen in Bezug auf seine Mitgeschöpfe“ (S. 44 f.). Von diesem soliden Bezugsrahmen aus gilt es zurückzufinden in verantwortliches Handeln, „in der einer es ohne Furcht wagen kann, an den höchsten Punkt dessen zu steigen, was er zu geben, zu leisten und an Verantwortung zu tragen vermag“ (S. 80).

Heimkehr zu den Wurzeln

Dass mit Monika Hausammann (1974) eine Dame den mutigen Versuch einer umfassenden Gesellschaftskritik unternimmt, ist kein Präzedenzfall. Dorothy Sayers (1893–1957), übrigens ebenfalls Krimiautorin und durch ein raues Leben in der Wirklichkeit geschärft, unternahm ähnliches. Hausammann gibt uns eine Schlüsselfrage für unseren zum Opferstatus geneigten Daseinsmodus: „Findet dieser so beschriebene Mensch in der Wirklichkeit statt?“ (S. 28)

Im Schreibstil, aber auch in der Tonalität und den theologischen Argumenten fühlte ich mich wiederholt an Helmut Thielicke (1908–1986) erinnert, dessen theologische Anthropologie Mensch sein – Mensch werden ich als Erweiterung dieses Buches zur Lektüre empfehlen kann. Auch der Einfluss von Walter Lüthi (1901–1982), dem Basler und Berner Pfarrer, der durch seine Predigtreihen zu Bekanntheit gelangt ist, schimmert durch. Sätze wie „Es ist die Freiheit innersten Ich-Seins im äußersten Geliebt-Sein.“ (S. 79) sehe ich der Autorin nach – ich kann nicht zu viel mit ihnen anfangen. Als Vorkoster empfehle ich das Buch als stärkenden Trank gegen den Sog der Anpassung. Der Preis dafür ist langfristig entschieden höher, als heute den Stempel „Systemverweigerer“ zu erhalten.

Buch

Monika Hausammann, Die große Verkehrung: Dem Humanismus mit biblischem Denken begegnen. Eine Ansage, Lüdenscheid: Fontis Verlag, 2022, 144 Seiten, 15 Euro.