Das Evangelium der Wirklichkeit

Artikel von Gene Edward Veith
16. August 2022 — 5 Min Lesedauer

Mit Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geben sich heutzutage viele nicht mehr zufrieden. Auf ihrer Suche nach einem passenderen Jesus berufen sich Schriftsteller wie der Da Vinci Code-Autor Dan Brown, feministische Theologen wie Elaine Pagels und Konsorten auf die Apokryphen früher Irrlehrer. Diesen wird nachgesagt, sie würden eine andere gültige Form des frühen Christentums aufzeigen – eine, mit der man den heutigen moralischen Wandel und den Feminismus rechtfertigen könne. Wenn man diese Apokryphen aber mit den Evangelien des Neuen Testaments vergleicht, die Jahrzehnte vorher geschrieben wurden, sieht man deutlich, dass nur sie zuverlässige historische Berichte sind.

Verdrehte Wahrheit

Vielleicht erinnerst du dich daran, wie die Entdeckung des antiken Manuskripts des Judas-Evangeliums vor einigen Jahren für Aufruhr sorgte? In den Medien wurde berichtet, Judas sei eigentlich ein netter Kerl gewesen, der Jesus nur verraten habe, weil dieser ihn dazu aufgefordert hatte. Es wurde so dargestellt, als habe die Kirche sich jahrhundertelang getäuscht, als sei Judas kein übler Verräter, sondern ein vorbildlicher Jünger, dem Jesus besonderes Wissen offenbart hätte. Als müsse die Kirche ihr Bild von Jesus überdenken. Die Übersetzung des Manuskripts wurde zu einem Beststeller und National Geographic, die für die Veröffentlichung verantwortlich war, produzierte eine TV-Dokumentation zu dem Thema.

Aber kennst du auch den Rest der Geschichte? Die Medien, die das Judas-Evangelium anpriesen, berichteten nur am Rande über Wissenschaftler, die all diese Behauptungen widerlegten, bis hin zu dem Punkt, dass sie National Geographic„wissenschaftliches Fehlverhalten“ vorwarfen. Die Zeitung The Chronicle of Higher Education zeigte auf, wie die Wissenschaft von Sensationslust, Oberflächlichkeit und Kommerz vereinnahmt wurde.

Die Medien verschwiegen die kleine Nebensächlichkeit, dass Jesus in dem Manuskript nicht von Judas verraten wird, um für die Sünden der Welt zu bezahlen. Stattdessen ist Judas hier darauf aus, Jesus einem Dämon namens Saklas zu opfern. So viel zum Thema, man habe es mit einer Form des Christentums zu tun.

Das größte Problem jedoch ist: Das Manuskript wurde nicht richtig übersetzt. Was National Geographic mit „Geist“ übersetzt (Judas sei der „13. Geist”), müsste eigentlich „Dämon” heißen (Judas ist der „13. Dämon”). In dem Bestseller heißt es außerdem, Judas sei „ausgesondert für die heilige Generation“. Die korrekte Übersetzung müsste aber so lauten: „abgesondert von der heiligen Generation“. Der vermutlich eklatanteste Fehler ist das Auslassen einer Negation: Judas „würde aufsteigen zu der heiligen Generation“. In dem Manuskript steht eigentlich: Judas „würde nicht aufsteigen zu der heiligen Generation“.

Die Übersetzer der National Geographic drücken also das Gegenteil dessen aus, was der Text eigentlich sagt. Offenbar hielten sogar die gnostischen Häretiker, die ihn schrieben, nicht viel von Judas.

Aber in unserer heutigen Kultur hat alles Gnostische einen besonderen Reiz. Die Gnostiker glaubten, die materielle Welt sei eine Illusion und es gehe nur um die Seele. Demzufolge habe unser Körper und der Umgang mit ihm keinerlei Bedeutung. Für moderne Theologen bedeutet das: Ob man männlich oder weiblich ist, spielt keine Rolle – diese Merkmale des Körpers haben keinerlei geistliche Bedeutung. Das führt dazu, dass Hollywoodstars, bekannt für ihre sexuelle Freizügigkeit und ihren Drogenmissbrauch, davon sprechen, wie „spirituell“ sie seien.

Kritikern zufolge sei der Gnostizismus von Patriarchen als Irrlehre abgestempelt worden, damit sie Frauen unterdrücken und mithilfe der orthodoxen Lehre Macht ausüben konnten. Die Gnosis ist aber weit davon entfernt, eine legitime christliche Tradition darzustellen – stattdessen bildet sie das Gegenteil des Christentums.

Einheitlich und realistisch

„Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind realistische, historische Texte.“
 

Die eigentlichen Evangelien machen den Unterschied deutlich. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind realistische, historische Texte. Sie sind nicht im Versmaß geschrieben, wie die mythischen Erzählungen von Homer und Vergil, sondern in der Prosaform, dem Stil, der für historische Berichte verwendet wurde. So stellte C.S. Lewis bereits fest: Wären die Evangelien fiktiv, wäre das an sich schon ein Wunder, denn solche realistische Prosaliteratur wurde erst sechzehn Jahrzehnte später erfunden. Die gnostischen Evangelien dagegen, wie die von Maria Magdalena, Philipp und Judas, sind größtenteils philosophische Dialoge im Stile Platons. Die biblischen Evangelien stellen außerdem Bezüge zur echten, physischen Welt her: Futterkrippen, Hochzeiten, Lilien auf dem Feld. Die Gnostiker lehnten diese ab.

Die kanonischen Evangelien zeichnen ein einheitliches Bild von Jesus. Seine Persönlichkeit ist in allen erkennbar und konsistent, sogar im stark anders geschriebenen Johannesevangelium. Das Bild, das in den gnostischen Evangelien vermittelt wird, ist dagegen ein anderes. Von den Kauderwelsch-Dialogen in mystisch-philosophischer Sprache mal abgesehen, wird Jesus als bockiges Kind beschrieben, das die Bösen mit seinen Superkräften besiegt.

Die Berichte der Auferstehung in den vier Evangelien sind besonders aussagekräftig. Auf den ersten Blick wirken sie widersprüchlich, aber schau einmal genau hin: Sie sind aus der Perspektive verschiedener Einzelpersonen erzählt, sodass wir die Situation aus dem Blickwinkel der Maria Magdalena, des Petrus oder der Emmaus-Jünger wahrnehmen. Mit anderen Worten: Wir haben es mit Augenzeugenberichten zu tun.

„Wir haben es mit Augenzeugenberichten zu tun.“
 

Jesus – dessen auferstandener Körper Fisch zu sich nahm und dessen Narben berührt werden konnten – ist der fleischgewordene Sohn Gottes, der durch Folter starb und dann auferstand, um uns von unseren Sünden zu erlösen. Das ist eine historische Tatsache. Die falschen Evangelien und die Wissenschaft, die sie unterstützt, sind bloße Märchen.