Die zwei Zeitalter

Artikel von Benjamin Gladd
5. August 2022 — 12 Min Lesedauer

Ein besseres Eden

Die Formulierung „zwei Zeitalter“ bezeichnet zwei verschiedene Epochen der biblischen Geschichte. Die erste Epoche könnte man als die Zeit der „Verheißungen“ bezeichnen: Gott verspricht, bei seinem Volk zu wohnen, die Ankunft des Messias herbeizuführen, das Reich zu errichten, die Vergebung der Sünden anzubieten, die Heiligen von den Toten aufzuerwecken und so weiter. Die zweite Epoche ist das Zeitalter der Erfüllung und findet in dem Zeitraum statt, der als „letzte Tage“ oder „Endzeit“ bekannt ist. An dieser Stelle kommt die Eschatologie ins Spiel. Der Begriff „Eschatologie“ setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen: eschatos („zuletzt“) und logos („Wort“). Eschatologie ist also die „Lehre von den letzten Dingen“. Da die letzte Phase der Erlösung ganz am Ende der Geschichte stattfindet, sollten wir sie als „eschatologisch“ betrachten. Die alttestamentlichen Ausdrücke „letzte Tage“ oder „Ende der Tage“ beziehen sich auf diesen letzten Abschnitt der Geschichte Israels (z.B. 1Mose 49,1; 4Mose 24,14; Dan 2,28–29.45). Alle Ereignisse in diesem Zeitraum – seien es Akte des Gerichts oder der Wiederherstellung – sind „eschatologisch“.

Auch wenn manche meinen, dass diese beiden Zeitalter erst im letzten Teil des Alten Testaments erkennbar werden, können wir bereits in 1. Mose 1–3 eschatologische Hinweise finden. Obwohl die Schöpfung als „gut“ (1Mose 3,10.18.21.25) und Adam und Eva als „sehr gut“ (1Mose 1,31) bezeichnet werden, bleibt ein Element der Unvollkommenheit bestehen. So können etwa Adam und Eva, während sie vollkommen nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden, dennoch sündigen. Auch kann die Sünde immer noch in die geschaffene Ordnung eindringen. Gott hat den Kosmos als gigantischen, kosmischen Tempel geschaffen, um diesen zu bewohnen und innige Gemeinschaft mit seiner Schöpfung zu pflegen. Hätten Adam und Eva Gottes Auftrag in 1. Mose 1,28 und sein Gesetz in 2,16–17 befolgt – hätten sie also gottesfürchtige Nachkommen gezeugt, die Grenzen Edens erweitert und die Erde mit Gottes Herrlichkeit erfüllt, seine Gebote gehalten und das Böse unterdrückt –, dann wäre die Erde in eine unvergängliche Schöpfung verwandelt und das Böse abgeschafft worden. Die Menschheit hätte einen unvergänglichen Körper ererbt und Gott wäre auf die Erde herabgestiegen, um zu herrschen und für alle Ewigkeit bei den Menschen zu wohnen. Dies sind zukünftige Realitäten, die von vollkommenem Gehorsam abhängen. Das ist die Erwartung von 1. Mose 1–2.

„Die Zeit der ‚letzten Tage‘ ist nicht losgelöst vom Rest des Alten Testaments. Sie ist der Höhepunkt der Geschichte Israels.“
 

Diese Erwartungen haben viel mit dem zu tun, was in den „letzten Tagen“ geschehen wird. Wie ein Samenkorn, das keimt, sprießt und schließlich zu einem Baum heranwächst, beginnen die alttestamentlichen Schriften in 1. Mose 1–3 mit einem eschatologischen Samenkorn und entwickeln sich zum Ende des Kanons hin zu einem großen Baum. Die Zeit der „letzten Tage“ ist nicht losgelöst vom Rest des Alten Testaments. Sie ist der Höhepunkt der Geschichte Israels.

Ein besseres verheißenes Land

Die Schreiber und Propheten des Alten Testaments sahen eine Zeit voraus, in der die endgültige Erlösung des Gottesvolkes und der Schöpfung eintreten würde. Diese zweite Epoche in Israels Laufbahn sollte am Ende der Geschichte anbrechen. Diese Zeit markiert einen unumkehrbaren Bruch mit den vorangehenden Ereignissen. Im Alten Testament wird nicht Zeile für Zeile beschrieben, wie genau sich diese Ereignisse abspielen werden. Je nach Zielsetzung ihrer Vorhersagen neigen die alttestamentlichen Propheten dazu, gewisse Elemente auszulassen. Dennoch ist in groben Zügen klar, was in den „letzten Tagen“ geschehen wird:

  1. Israel wird eine Zeit intensiver Leiden und Bedrängnisse durchmachen, die von einem endzeitlichen Antagonisten herbeigeführt werden. Dieser Gegner wird viele in Israel verführen und diejenigen verfolgen, die seiner falschen Lehre nicht folgen (vgl. Dan 11,31–35).
  2. Gott wird Israels Feinde durch einen Nachkommen Davids, den Messias, besiegen (vgl. 1Mose 3,15; 2Sam 7,13; Ps 2,8–9).
  3. Diejenigen, die wegen ihrer Treue zu Gottes Gesetz verfolgt und gemartert wurden, werden mit einem unvergänglichen Körper auferstehen und mit dem Messias in seinem ewigen Reich (vgl. Jes 25,8; Hes 37,12–13; Dan 12,1–3) und dem neuen Tempel (vgl. Hes 40–48) regieren.
  4. Gott wird das gegenwärtige Universum in ein unvergängliches verwandeln – in den neuen Himmel und die neue Erde, in dem Gott und die erlöste Menschheit wohnen werden (vgl. Jes 65,17; 66,22).
  5. Gott wird einen neuen Bund mit dem wiederhergestellten Israel und den Völkern schließen und seinen Geist über sie ausgießen (vgl. Jer 31,33–34; Hes 36,26–27; Joel 2,28–29).

Die „letzten Tage“ beinhalten also positive und negative Elemente, wobei die negativen den positiven grundsätzlich vorausgehen. Die alttestamentliche Erwartung des Endes der Geschichte kann folgendermaßen veranschaulicht werden:

Erst richtet Gott, dann stellt er wieder her. Gott wird vom Himmel herabsteigen und für alle Ewigkeit mit der erlösten Menschheit in der neuen Schöpfung wohnen.

Die Überschneidung der Zeitalter im Neuen Testament

Einer der auffälligsten Aspekte des Neuen Testaments ist das Beharren der Apostel darauf, dass die „letzten Tage“ in die Geschichte eingebrochen sind. Auf die eine oder andere Weise geht jedes neutestamentliche Buch davon aus, dass die letzte Epoche der Geschichte Israels durch die Person Christi begonnen hat. All das, was das Alte Testament für die Endzeit vorausgesagt hat, hat sich mit dem ersten Kommen Christi zu erfüllen begonnen und dauert bis zu seinem zweiten Kommen weiter an. Die alttestamentlichen Endzeiterwartungen – die große Trübsal, Gottes Unterwerfung der Heiden, die Befreiung Israels von den Unterdrückern, die Wiederherstellung und Auferstehung Israels, der neue Bund, der verheißene Geist, die neue Schöpfung, der neue Tempel, ein messianischer König und die Errichtung des Reiches Gottes – sind durch den Tod und die Auferstehung Christi in Gang gesetzt worden.

Der Ausdruck „schon jetzt/noch nicht“ bezieht sich auf zwei Stufen der Erfüllung der letzten Tage. Sie sind „schon jetzt“ da, weil die Endzeit in Christus angebrochen ist, aber sie sind auch „noch nicht“ da, weil die Endzeit noch nicht vollendet ist. Theologen gebrauchen den Begriff „inaugurierte Eschatologie“ oder Überschneidung der Zeitalter, um dieses Phänomen zu beschreiben. Das Neue Testament skizziert folgendes Schema:

Wir werden kurz zwei Dimensionen des „schon jetzt/noch nicht“-Schemas untersuchen: das Reich Gottes und die Gegenwart des Antichristen.

Die Inauguration des endzeitlichen Reiches

Vieles von dem, was Jesus in den Evangelien sagt, dreht sich um die Errichtung des endzeitlichen Reiches – um ein Ereignis, das aus Sicht des Alten Testaments ganz am Ende der Geschichte anzusiedeln ist. Jesus behauptete, das Reich Gottes sei tatsächlich angebrochen. Seine Anhänger und die Menschenmenge, die ihm zuhörte, hatten jedoch Mühe, diesen überraschenden Behauptungen Jesu Glauben zu schenken. Zentral ist hier die Aussage Jesu, dass die Jünger die „Geheimnisse des Reiches“ empfangen haben (vgl. Mt 13,11; Mk 4,11; Lk 8,10). Der Begriff „Geheimnis“ stammt aus dem Buch Daniel, insbesondere aus den Kapiteln 2 und 4, wo es um das Gericht über die heidnischen Völker und die Errichtung des endzeitlichen Gottesreiches geht. Nebukadnezar träumt von einem Standbild aus vier Teilen, die jeweils für ein heidnisches Reich stehen (Babylon, Medo-Persien, Griechenland und Rom). Ein „Stein“ zertrümmert dieses Standbild dann und füllt schließlich die ganze Erde aus: Die ganze Erde wird so von Gottes Reich erfüllt (vgl. Dan 2,29–35). Der Prophet Daniel entschlüsselt daraufhin die symbolische Bedeutung von Nebukadnezars Traum (vgl. Dan 2,36–45). Nebukadnezars Traum und Daniels Deutung bilden das „Geheimnis“. Die göttliche Offenbarung ist also „verborgen“ (Nebukadnezar), wird aber später „offenbart“ (Daniel). Unter „Geheimnis“ versteht die Bibel also eine Lehre oder eine Doktrin, die neue oder überraschende Elemente enthält.

„Einer der auffälligsten Aspekte des Neuen Testaments ist das Beharren der Apostel darauf, dass die ‚letzten Tage‘ in die Geschichte eingebrochen sind.“
 

Was versteht Jesus unter dem „Geheimnis des Reiches Gottes“? Im unmittelbaren Kontext von Matthäus 13 steht das „Geheimnis“ im Zusammenhang des Gleichnisses vom Sämann und den anderen sich daran anschließenden Gleichnissen über das Reich Gottes. Die alttestamentlichen Prophezeiungen gingen davon aus, dass die Errichtung des endzeitlichen Reiches am Ende der Weltgeschichte stattfinden würde, wenn die Feinde Gottes zu einem bestimmten Zeitpunkt endgültig besiegt werden (z.B. 1Mose 49,9–10; 4Mose 24,14–19; Dan 2,35.44–45).

Was die Lehre Jesu über das Reich Gottes zu einem „Geheimnis“ macht, ist der Kontrast zur alttestamentlichen Gottesreichserwartung. Eines der Wesensmerkmale des prophezeiten Endzeitreiches ist die endgültige Vernichtung von Ungerechtigkeit und fremder Unterdrückung, die der Errichtung des Reiches Gottes unmittelbar vorausgeht. Die Ankunft des Messias würde den Todesstoß für alle bösen Reiche bedeuten. Die heidnischen Könige und ihre Reiche sollten vernichtet und „zermalmt“ werden (vgl. Dan 2,44). Eine solche Niederlage und ein solches Gericht würden endgültig sein und sich auf einen Schlag am Endpunkt der Geschichte ereignen. Jesus behauptet jedoch, dass die Ankunft des Messias einerseits und des Reiches der letzten Tage andererseits zeitlich nicht zusammenfallen. Paradoxerweise existieren zwei Reiche gleichzeitig. Da gibt es die, die zum Gottesreich gehören, und diejenigen, die „dem Bösen“ angehören. Gottes Reich ist bereits angebrochen, muss aber noch vollendet werden. Die beiden Zeitalter überschneiden sich auf geheimnisvolle Weise.

Die mysteriöse Gegenwart des Antichristen

An diese beiden Zeitalter denkt auch Paulus in 2. Thessalonicher 2,5–8:

„Denkt ihr nicht mehr daran, dass ich euch dies sagte, als ich noch bei euch war? Und ihr wisst ja, was jetzt noch zurückhält, damit er geoffenbart werde zu seiner Zeit. Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit ist schon am Wirken, nur muss der, welcher jetzt zurückhält, erst aus dem Weg sein; und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden.“

Paulus’ Verständnis des endzeitlichen Gegners entstammt weitgehend dem Buch Daniel, wo eine grässliche Gestalt die Bundesgemeinschaft in den „letzten Tagen“ unterdrücken und verführen wird.

Gemäß Daniel 11 wird sich der endzeitliche Angriff auf Israel auf zwei Arten manifestieren. Ein Gegner wird die rechtschaffenen Israeliten verfolgen. In Daniel 11,31 heißt es: „Es werden auch von seinen Truppen zurückbleiben und das Heiligtum, die Zuflucht, entweihen und das beständige [Opfer] abschaffen und den Gräuel der Verwüstung aufstellen“ (vgl. Dan 2,8.11.25; 8,9–12; Jes 14,12–14). Hier wird der Feind Krieg gegen den Tempelbezirk führen und ihn verunreinigen, indem er „den Gräuel der Verwüstung“ aufstellt. In Daniel 11,33–35 wird der Angriff auf die „Verständigen“ innerhalb der Bundesgemeinschaft weiter beschrieben: „Und die Verständigen im Volk werden die Vielen unterweisen; sie werden aber eine Zeit lang dem Schwert, dem Feuer, der Gefangenschaft und der Plünderung unterliegen“ (Dan 11,33). Die Gerechten jedoch werden dem Druck standhalten, auch wenn sie „unterliegen“ und eine „Läuterung“ und „Reinigung“ erfahren (Dan 11,32.36; vgl. 12,10). Laut Daniel wird Israels späterer Feind auch einige innerhalb der israelitischen Gemeinschaft durch verführerische Reden täuschen. Seine Täuschung führt dazu, dass einige in der Bundesgemeinschaft „den heiligen Bund verlassen“ (Dan 11,30). Sein Einfluss durch „Schmeicheleien“ erstreckt sich auch auf diejenigen, „welche gegen den Bund freveln“, um noch gottloser zu werden (Dan 11,32), um Kompromisse zu schließen und um Täuschung und weitere Kompromisse bei anderen zu fördern.

Auch Jesus spricht in der Ölbergrede über die endzeitlichen Gegner Israels mit Worten aus dem Buch Daniel: „Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus! Und sie werden viele verführen … Und es werden viele falsche Propheten auftreten und werden viele verführen“ (Mt 24,5.11; vgl. 24,23–26). Jesus geht von einem oder mehreren Antichristen aus, die Israel vor der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. verführen werden. In Matthäus 24,5 zeichnet sich der Unterdrücker durch Täuschung aus, indem er behauptet, „der Christus“ zu sein, womit er den Glauben „viele[r]“ erschüttert.

„Wenn wir als Gläubige wirklich eine ‚neue Schöpfung‘ und Teil des neuen Himmels und der neuen Erde sind, dann können wir Sünde und Versuchung überwinden.“
 

Anhand unserer kurzen Analyse können wir nun die Ermahnungen des Paulus an die thessalonische Gemeinde verstehen. Paulus korrigiert die falschen Vorstellungen der Gemeinde über das zweite Kommen Christi. Er stellt klar, dass das zweite Kommen Christi noch nicht stattgefunden hat, da diesem Tag zwei Ereignisse vorausgehen werden: der „Abfall“ und die Offenbarung des „Mensch[en] der Sünde“ (2Thess 2,3). Paulus behauptet in 2. Thessalonicher 2,3, dass der von Daniel erwähnte „Mensch der Sünde“ noch nicht auf der Bildfläche erschienen ist. Doch trotzdem ist – erschreckenderweise – der endzeitliche Unterdrücker in gewisser Hinsicht doch schon jetzt angekommen (vgl. 1Joh 2,18–19). Diese Vermutung erklärt die Formulierung in 2. Thessalonicher 2,7: „Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit ist schon am Wirken.“ Paulus lehrt hier keine allgemeine Form von Bosheit und Verfolgung, sondern eine spezifische Endzeit-Verführung und -Verfolgung, die dem endzeitlichen Widersacher der Gemeinde zugeschrieben werden sollte. In 2. Thessalonicher 2,7 verwendet Paulus das Wort „Geheimnis“, um eine einzigartige Situation mit verblüffenden Auswirkungen zu beschreiben: Laut Daniel wird der endzeitliche Verfolger der Bundesgemeinschaft in Zukunft in seiner vollen leiblichen Gegenwart erscheinen, doch Paulus argumentiert, dass der Widersacher in der Gemeinschaft dennoch „schon am Wirken“ ist. Die Gemeinde muss vor Irrlehren auf der Hut sein und die apostolische Botschaft des Evangeliums und ihre Implikationen für das alltägliche Leben annehmen.

Christliche Ethik im „schon jetzt/noch nicht“

Richtig verstandene Eschatologie ist nicht einfach nur eine Übung in theologischer Spekulation, sondern unser Ansporn für das christliche Leben. Wenn wir als Gläubige wirklich eine „neue Schöpfung“ und Teil des neuen Himmels und der neuen Erde sind (vgl. 2Kor 5,17), dann können wir Sünde und Versuchung überwinden. Wenn sich der Antichrist in unserer Mitte befindet, müssen wir uns als Gläubige der Bibel zuwenden, um falsche Lehren abzuwehren und unter intensiver Verfolgung zu bestehen.