Sollten Christen den Sabbat heiligen?

Artikel von Scott Hubbard
1. August 2022 — 11 Min Lesedauer

Von den zehn Geboten, die Gott Israel gab, hat vielleicht keines mehr Kontroversen und Diskussionen ausgelöst als das vierte: „Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heilig hältst“ (2Mose 20,8). Ist das Sabbatgebot heute noch gültig?

Kaum einer, der darauf mit Nein antworten würde, hält den Sabbat für ein zweitrangiges Gebot des Dekalogs – eine gute Idee, aber nicht zwingend notwendig. Nein, der Sabbat diente als Zeichen des Bundes zwischen Israel und seinem Gott und stellte ein wöchentliches Ritual dar, das Gott als mächtigen Schöpfer (vgl. 2Mose 20,11) und barmherzigen Erlöser (vgl. 5Mose 5,15) bezeugte. Am Sabbat bezeugte das Volk Israel seine völlige Abhängigkeit von seinem Bundesherrn: Ein Herr, der mehr als fähig war, sein Volk zu erhalten, obwohl es an einem von sieben Tagen die Schaufeln an den Nagel hängte, den Pflug beiseite legte und sich von seiner Arbeit ausruhte.

Die Frage ist also nicht, ob Israel unter dem alten Bund den Sabbat hätte halten sollen, sondern ob Christen unter dem neuen Bund den Sabbat halten sollen. Sollten Christen den Sabbat halten? Die Frage mag für manche unsinnig klingen. Wir halten doch die Gebote eins bis drei und fünf bis zehn, oder nicht? Warum also Nummer vier auslassen?

Doch im Neuen Testament finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass der Sabbat in Christus und dem neuen Bund seine Erfüllung gefunden hat.

Jesus: „Ich werde euch Ruhe geben.“

Wer die Evangelien liest, merkt schnell, wie wichtig der Sabbat für die Juden zur Zeit Jesu war. Der siebte Tag war Schauplatz so vieler Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Pharisäern, dass wir Ärger erwarten, wenn wir lesen: „Es war aber ein Sabbattag ...“ (Joh 9,14).

Streng genommen gehörten die einzigen Gebote, die Jesus am Sabbat brach, zur jüdischen Tradition, nicht zum göttlichen Gesetz. In ihrem Eifer, genau zu definieren, was ein Mensch am Sabbat tun durfte und was nicht, legten die jüdischen Führer dem Volk eine geistige Last auf, die schwerer war als jede körperliche (vgl. Mt 23,4). Jesus griff solche Traditionen mit Entschiedenheit an, als einer, der klarer als jeder andere erkannte, dass „der Sabbat für den Menschen gemacht ist und nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27).

Obwohl Jesus nie das vierte Gebot brach, deutete er doch an, dass eine Änderung des Sabbats bevorstehen könnte. Wenn wir die Kapiteltrennung zwischen Matthäus 11 und 12 aufheben, fallen uns im Kontext der Sabbatkontroversen in Matthäus 12,1–14 diese verblüffenden Worte auf: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). Die am Sabbat angebotene Ruhe, wurde nun in Christus angeboten.

Hinter dieser großen Verheißung steht ein großer Anspruch: „Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat“ (Mt 12,8). D.A. Carson schreibt dazu:

Dass Jesus Christus der Herr des Sabbats ist, ist nicht nur ein messianischer Anspruch von großem Ausmaß, sondern es eröffnet auch die Möglichkeit einer zukünftigen Veränderung oder Neuinterpretation des Sabbats. Ähnlich verhält es sich mit dem Anspruch Jesu, über den Tempel erhaben zu sein, was bestimmte Auslegungsoptionen bezüglich des Zeremonialgesetzes eröffnet. (From Sabbath to Lord’s Day, S. 66)

In Jesus ist etwas Größeres als der Sabbat gekommen.

Paulus: „Niemand soll ein Urteil fällen.”

Vor allem zwei Stellen des Apostels Paulus verdeutlichen die Bedeutung der Herrschaft Jesu über den Sabbat. Die erste ist Kolosser 2,16–17:

„So lasst euch nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen eines Feiertages, Neumondes oder Sabbats. Das alles ist nur ein Schatten des Zukünftigen; der Leib aber ist Christus eigen.“

„Was Paulus hier sagt, ist bemerkenswert“, schreibt Tom Schreiner, „denn er wirft den Sabbat in einen Topf mit Speisegesetzen, Festen wie Passah und Neumond. All dies sind Schatten, die das Kommen Christi vorwegnehmen“ (40 Questions About Christians and Biblical Law, S. 212). Jetzt, da Christus gekommen ist, ist die Einhaltung des Sabbats nicht mehr eine Frage von Gehorsam oder Ungehorsam. Vielmehr sagt Paulus: „Niemand soll über euch urteilen“.

Römer 14,5 enthält eine ähnlich bemerkenswerte Aussage. Betrachten wir Paulus’ Worte hier neben einer typischen Aussage des Alten Bundes über den Sabbat:

„Ihr sollt den Sabbat halten, denn er ist euch heilig. Jeder, der ihn entweiht, soll getötet werden.“ (2Mose 31,14)
„Der eine hält den einen Tag für besser als den anderen, der andere hält alle Tage für gleichwertig. Ein jeder soll nach seiner eigenen Überzeugung handeln.“ (Römer 14,5)

Wenn ein Israelit des Alten Bundes „alle Tage gleich“ schätzte, konnte er zu Tode gesteinigt werden (vgl. 4Mose 15,32–36). Doch Paulus hielt es offensichtlich nicht für nötig, das Sabbatgebot den heidnischen Christen aufzuerlegen. Es scheint, dass einige in Rom den Sabbat halten wollten (und damit „einen Tag als besser als den anderen“ ansahen) – vielleicht Judenchristen, die die Traditionen ihrer Väter beibehalten wollten. Paulus hatte kein Problem mit diesen Christen, solange sie andere nicht dazu drängten, sie nachzuahmen, oder andeuteten, dass das Heil vom Gehorsam gegenüber dem Sabbat abhänge (vgl. Gal 4,8–11).

Um der christlichen Freiheit und der gegenseitigen Liebe willen sagt Paulus schlicht und einfach: „Ein jeder soll nach seiner eigenen Überzeugung leben“ (Röm 14,5).

Hebräer: „Wir, die wir geglaubt haben, gehen in diese Ruhe ein.“

Der Autor des Hebräerbriefs bringt uns näher, warum der neue Bund keine buchstäbliche Ruhe am siebten Tag erfordert. Das erste Kommen Christi hat die Ruhe nicht abgeschafft, sondern vielmehr eine tiefere Art der Ruhe eingeleitet, als sie der Sabbat je bieten konnte.

„Das erste Kommen Christi hat die Ruhe nicht abgeschafft, sondern vielmehr eine tiefere Art der Ruhe eingeleitet, als sie der Sabbat je bieten konnte.“
 

Nach Hebräer 4 wies Israels Sabbat immer auf einen weitaus größeren Tag hin: den noch zukünftigen Tag, an dem die ganze Schöpfung vollständig in die Ruhe eintreten wird, die in 2. Mose 2,2–3, dem allerersten siebten Tag, vorausgesagt und versprochen wurde. „Es bleibt also eine Sabbatruhe für das Volk Gottes“ (Hebr 4,9). Die endgültige Sabbatruhe wird kommen, wenn Gottes Volk Arbeit ohne Mühsal, Herzen ohne Sünde und eine Erde ohne Dornen genießen wird.

Doch schon jetzt, so deutet der Hebräerbrief an, spüren wir die ersten Wellen der kommenden Ruhe. In Christus haben wir „bereits die Kräfte des kommenden Zeitalters geschmeckt“ (Hebr 6,5), einschließlich der Ruhe. Denn, so schreibt der Autor, „wir, die wir geglaubt haben, gehen in diese Ruhe ein“ (Hebr 4,3) – nicht „werden eingehen“, sondern „gehen ein“: zukünftig in Vollendung, aber schon jetzt beginnend.

Und wie gehen wir in diese Ruhe ein? Nicht in erster Linie, indem wir unsere wöchentliche Arbeit für einen von sieben Tagen niederlegen, sondern indem wir glauben: „Wir, die wir geglaubt haben, gehen in diese Ruhe ein.“ Der Glaube an Jesus Christus bringt die Ruhe des siebten Tages in jeden Tag hinein.

Johannes: „Ich war im Geist am Tag des Herrn.“

Wenn Christen heute vom Sabbat sprechen, meinen sie natürlich fast nie den siebten Tag, sondern den ersten Tag: nicht den Samstag, sondern den Sonntag. Aber überraschenderweise bezeichnet kein Autor des Neuen Testaments den Sonntag als Sabbat. Wenn jüdische (und vielleicht auch einige heidnische) Christen den Sabbat feierten, dann taten sie dies am Samstag, so wie es Israel seit Jahrhunderten getan hatte. Das bedeutet aber nicht, dass der Sonntag in der frühen Kirche keinen besonderen Stellenwert hatte. Die Schrift deutet darauf hin, dass dies der Fall war, nur unter einem anderen Namen: dem Tag des Herrn.

Der Ausdruck „Tag des Herrn“ kommt nur in der Offenbarung vor, wo der Apostel Johannes schreibt: „Ich war im Geist am Tag des Herrn“ (Offb 1,10). Andere Stellen deuten jedoch darauf hin, dass der „Tag des Herrn“ einfach ein Name für die in der Kirche übliche Praxis war, sich am Sonntag zu versammeln. In Ephesus traf sich Paulus mit der Gemeinde „am ersten Tag der Woche ... um das Brot zu brechen“ (Apg 20,7). Ebenso wies Paulus die Korinther an, „am ersten Tag einer jeden Woche“ etwas Geld beiseite zu legen (1Kor 16,2).

Keine dieser Passagen zeigt, dass die frühe Kirche ruhte, als ob sie den Sonntag als ihren neuen Sabbat betrachtete. Richard Bauckham geht sogar so weit zu schreiben: „Für die ersten Christen war der Sonntag weder ein Ersatz für den Sabbat noch ein Ruhetag, noch war er in irgendeiner Weise mit dem vierten Gebot verbunden“ (From Sabbath to Lord’s Day, S. 240). Die Mehrheit dieser frühen Christen musste wahrscheinlich am ersten Tag der Woche arbeiten. (Der Sonntag wurde erst unter Konstantin im Jahr 321 n.Chr. im gesamten Römischen Reich zum offiziellen Ruhetag erklärt).

Die Passagen deuten jedoch darauf hin, dass die Christen am Tag des Herrn Gottesdienst feierten. Vielleicht am Morgen vor der Arbeit, vielleicht am Abend danach versammelten sich die ersten Gläubigen, um den zu preisen, der „sehr früh am ersten Tag der Woche“ auferstanden war (Mk 16,2; Mt 28,1; Lk 24,1; Joh 20,19). Als am Ostermorgen der Stein vom Grab Jesu weggerollt wurde, kehrte die wahre Sabbatruhe ein, und ein neuer Tag brach an.

Herr über unsere Tage

Sollten Christen also den Sabbat heiligen?

In einem gewissen Sinne, nein: Unter dem neuen Bund ist kein Christ an das vierte Gebot als solches gebunden. Wir können immer noch beschließen, jeden siebten Tag zu ruhen – und in der Tat scheint es Weise zu sein, Gottes eigenes 6-Tage-Arbeit-1-Tag-Ruhe-Muster nachzuahmen (vgl. 1Mose 1,1–2,3). Vor allem in einer Zeit, in der viele jederzeit und überall arbeiten können – E-Mails nach dem Abendessen beantworten, Anrufe am Wochenende entgegennehmen –, tun wir gut daran, an einem von sieben Tagen zu sagen: „Ich habe gestern gearbeitet, ich werde morgen arbeiten, aber heute ruhe ich aus und bete an”.

In einem anderen Sinne sollten Christen den Sabbat jedoch immer halten. Und hier finden wir tatsächlich eine Verbindung zwischen dem jüdischen Sabbat und dem christlichen Tag des Herrn. Andrew Lincoln schreibt:

„Im Alten Testament wies die buchstäbliche physische Ruhe des Sabbats auf die künftige Ruhe hin; aber da Christus die Erfüllung in Form der Heilsruhe gebracht hat, ist es der gegenwärtige Genuss dieser Ruhe, der als Vorgeschmack auf die künftige Vollendungsruhe dient. Mit anderen Worten: Indem wir am Sonntag, dem Tag des Herrn, die Ruhe feiern, die wir durch die Auferstehung Christi bereits haben, erleben wir einen Vorgeschmack und vergewissern uns der Sicherheit der künftigen Ruhe. (From Sabbath to Lord’s Day, S. 399)

An jedem Tag des Herrn kommen wir wieder zu Jesus, müde und schwer beladen (vgl. Mt 11,28). Wir verfolgen den Schatten des Sabbats bis zu seiner eigentlichen Vollendung (vgl. Kol 2,17). Wir hören wieder in der Ferne die Klänge des zukünftigen Sabbatfestes; wir erblicken wieder im Glauben den Glanz „unzähliger Engel in festlicher Versammlung“ (Hebr 12,22). Wir blicken erneut in das leere Grab und hören Christus sagen: „Friede sei mit euch!“ (Lk 24,36). Mit anderen Worten: Wir finden Ruhe – die Art von Ruhe, die noch lange nach dem Sonntag anhält.

„Die Welt und der Teufel wollen, dass wir arbeiten, auch wenn wir ausruhen. Aber Jesus möchte, dass wir ausruhen, auch wenn wir arbeiten.“
 

Wenn wir diese Art von Ruhe nicht regelmäßig erfahren – und in besonderer Weise an jedem Tag des Herrn –, ist es egal, wie viel Ruhe wir unserem Körper gönnen. Unsere Ruhe wird ruhelos sein und unsere Arbeit wird zu einem verzweifelten Versuch, uns die Ruhe zu sichern, die wir in Christus nicht gefunden haben. Weder der Faulpelz (der für das Wochenende arbeitet) noch der Workaholic (der kein Wochenende hat) hat bisher gelernt, die Ruhe des wahren Sabbats zu genießen.

Anders ist es bei denen, die Jesu Einladung gehört und beherzigt haben: „Nehmt auf euch mein Joch … und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen“ (Mt 11,28–29). Die Welt und der Teufel wollen, dass wir arbeiten, auch wenn wir ausruhen. Aber Jesus möchte, dass wir ausruhen, auch wenn wir arbeiten. Und in Christus ruhend und arbeitend, leben wir heute den Sabbat aus.