Das Evangelium in den Evangelien

Artikel von Daniel Hyde
21. Juli 2022 — 5 Min Lesedauer

Beantworte folgende Frage bitte sofort und spontan: Was sind die Evangelien?

So, die Zeit ist schon um. Falls deine Antwort lautete: „Die Evangelien sind die Biographien von Jesus Christus“, dann ist sie nur teilweise richtig. Denn wenn wir die Evangelien lediglich als Biographien lesen, ist das, als würden wir Bäume getrennt vom Wald betrachten. Es gibt einen besseren Ansatz, sie zu lesen und zu hören. Sicherlich sind die Evangelien auch Biographien, aber darüber hinaus sind sie theologische Interpretationen des Lebens Jesu Christi mit dem Ziel, das Kommen des Königs von Israel und die Einführung seines Reiches auf der ganzen Erde zu verkünden.

Auf diese Weise können wir das Evangelium in den Evangelien als die Ankündigung der Erfüllung der prophetischen Verheißungen lesen. Eine dieser Verheißungen lautete, dass ein König nach Israel kommen würde, wie der Herr es Abram (vgl. 1Mose 17,6), Juda (vgl. 1Mose 49,10), David (vgl. 2Sam 7,12–13) und dem Volk Gottes durch das Lied Salomos (vgl. Ps 72) und die Prophezeiung Sacharjas (vgl. Sach 9,9) versprochen hatte. Wenn dieser König kommt, wird er ein Reich des Friedens für alle Völker aufrichten (vgl. Jes 2,2–4; 9,1–7). Die Berichte der Evangelien zeigen uns diesen kommenden König und sein Reich in lebendigen Farben.

Die Ankunft des Königs und seines Reiches wird im Bericht von der Geburt unseres Herrn beschrieben. Im Stammbaum Jesu wird er als „Sohn Davids“ bezeichnet (Mt 1,1). Die vierzehn Generationen von Abraham bis David bewegten sich auf den großen König und das Reich Israels hin (vgl. Mt 1,2–6), während sich die vierzehn Generationen von David bis Babylon vom Reich dieses herrlichen Königs entfernten (vgl. Mt 1,7–11). Mit dem Kommen Jesu sind die vierzehn Generationen von Babylon bis zu Christus eine Wiederherstellung des davidischen Königtums und Reiches (vgl. Mt 1,12–16). Die wahre Identität dieses kleinen Jungen kommt in der Reise der „Weisen aus dem Morgenland“ (Mt 2,1) zum Ausdruck, die sich auf die Suche nach dem „neugeborenen König der Juden“ machten, um ihn „anzubeten“ (Mt 2,2).

Johannes kündigte die Ankunft dieses Königs an, indem er verkündete: „das Reich der Himmel ist nahe herbeigekommen“ (Mt 3,2), und auch in der Synagogenpredigt unseres Herrn selbst nimmt die Ankündigung seines kommenden Reiches eine zentrale Stelle ein (vgl. Mt 4,17). Während seines gesamten Dienstes predigte Jesus das „Evangelium vom Reich“ (Mt 4,23; 9,35; Lk 16,16), eine Formulierung, welche bedeutet, dass dieses Reich den Gegenstand des Evangeliums darstellt. Unser Herr predigte seine Gleichnisse, um seinen Jüngern „die Geheimnisse des Reiches der Himmel“ zu vermitteln (Mt 13,11; siehe auch 13,19.24.31.33.38.41–45.47.52). Jesus nutzte seine Identität als König, um die Pharisäer zu entlarven, indem er sie fragte: „Was denkt ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist er? Sie sagten zu ihm: Davids“ (Mt 22,42). Jesus wies dann darauf hin, dass David ihn in Psalm 110 „im Geist ‚Herr‘“ nannte. Die meisterhafte Schlussfolgerung Jesu machte die Pharisäer sprachlos: „Wenn also David ihn Herr nennt, wie kann er dann sein Sohn sein?“ (vgl. Mt 22,42–45).

Auch in der Passionsgeschichte geht es um den König und sein Reich, nicht um das traurige Ende einer Biographie. Als der Hohepriester Kaiphas Jesus verhörte, forderte er ihn auf, „dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes“ (Mt 26,63). Jesus antwortete: „Du hast es gesagt! Überdies sage ich euch: Künftig werdet ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels!“ (Mt 26,64). Doch dieser König wird zunächst verspottet werden mit den Worten „Sei gegrüßt, König der Juden“, ihm wird ein scharlachrotes Gewand umgelegt, eine Dornenkrone auf sein Haupt gesetzt und ein Rohr in seine Hand gegeben (vgl. Mt 27,28–29). Sogar über seinem Haupt wird ein Schild angebracht: „Dies ist Jesus, der König der Juden“ (Mt 27,37). Doch wie das Johannesevangelium deutlich macht, erfährt unser Herr durch die Erniedrigung eine Erhöhung: „und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32).

Und schließlich ist die Auferstehung unseres Herrn der stärkste Beweis für sein Königtum und das Evangelium vom Reich Gottes: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18). Wie Jakobus auf dem Jerusalemer Konzil erklärt, ist der Grund hierfür, dass die Auferstehung Jesu die Aufrichtung der zerfallenen Hütte Davids ist (vgl. Apg 15,13–18; Am 9,11–12). Der König ist also gekommen und hat sein Reich wieder aufgerichtet, wie die Propheten es vorausgesagt haben.

„Prediger müssen die frohe Botschaft in den Evangelien verkünden und dürfen sie nicht zu neuen Gesetzen verdrehen.“
 

Was sollte diese Betrachtungsweise der Evangelien mit uns machen? Erstens sollte sie uns dazu veranlassen, die Evangelien mit größerer Dringlichkeit zu studieren, denn der König ist bereits gekommen und sein Reich ist nahe. Das für Markus charakteristische Wort „sogleich“ zeigt uns, wie wichtig es ist, die Botschaft zu lesen und zu begreifen (vgl. Mk 1,12.18.21.23.29.42). Zweitens: Da die Evangelien nicht lediglich Biographien sind, dürfen sie nicht aus der Distanz gelesen werden, als seien sie nur Geschichten über etwas, das „vor langer Zeit, irgendwo weit, weit weg“ geschehen ist. Wir sollen durch den Glauben an diesen Erzählungen teilhaben: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus nun vor seinen Jüngern, die in diesem Buch nicht geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.“ (Joh 20,30–31). Drittens dürfen Prediger die Evangelien nicht nur als historische Quellen, als eine Sammlung von Grundsätzen für ein siegreiches Christenleben oder als Ausschmückung der Gottesdienste in der Karwoche predigen, sondern als eindringliche Berichte über die Einführung eines ewigen Reiches, das unser König in dieser Welt aufgerichtet hat. Prediger müssen die frohe Botschaft in den Evangelien verkünden und dürfen sie nicht zu neuen Gesetzen verdrehen.