Die Debatte um Abtreibungen

Unsere Aufgabe als Christen

Artikel von George Grant
8. Juli 2022 — 7 Min Lesedauer

Umstände ändern sich. Gesetze, Gerichte und Regierungen kommen und gehen. Wahlen heben die Mächtigen ins Amt und stürzen sie. Die öffentliche Meinung ist unbeständig. Aber in all dem bleibt die Berufung und die Verantwortung von Christen in dieser armen, gefallenen Welt dieselbe.

Für das Leben einzustehen ist Christen nicht erst mit der Entscheidung „Roe vs. Wade“ durch den Obersten Gerichtshof anvertraut worden (Anm.d.Red.: Bei „Roe gegen Wade“ ging es um eine Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht in den Vereinigten Staaten am 22. Januar 1973. Sie gab Frauen das Recht, über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft zu entscheiden. In Deutschland wird der Schwangerschaftsabbruch nach § 218a StGB in vielen Fällen gerechtfertigt). Und wir werden nicht von dieser Pflicht befreit, weil die Entscheidung in diesem Jahr rückgängig gemacht wurde (Anm.d.Red.: Am 24. Juni 2022 wurde „Roe gegen Wade“ in den USA aufgehoben. In Deutschland ging es an demselben Tag in die entgegengesetzte Richtung: Laut § 219a StGB galt in Deutschland bisher ein Verbot der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft. Der Deutsche Bundestag beschloss am 24. Juni die Abschaffung dieses Strafrechtsparagrafen. Das EU-Parlament verlangte zudem am 7. Juli 2022 die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die Grundrechtecharta). Aber unabhängig von den politischen Entscheidungen ist die Pro-Life-Bewegung kein modernes Phänomen oder irgendwas Neues. Sie ist zweitausend Jahre alt. Sie wurde an einem Kreuz auf Golgatha bei Jerusalem begründet. Sie ist eng verbunden mit dem Christentum. Sich um die Hilflosen, die Benachteiligten, die Ungewollten zu kümmern, das sind nicht einfach Dinge, die Christen tun. Das ist es, was sie definiert. Das war schon immer so. Und so wird es immer sein.

Das Leben ist Gottes Geschenk. Es ist seine großzügige Gabe an seine Schöpfung. Sie mündet in generativer Fruchtbarkeit. Auf der Erde wimmelt es buchstäblich von Leben (vgl. 1Mose 1,20; 3Mose 11,10; 22,5; 5Mose 14,9). Und die herrliche Krönung dieses Wimmelns ist die Menschheit, erschaffen im Bilde Gottes (vgl. 1Mose 1,26–30; Ps 8,1–9). Wenn man diese wunderbare Gabe antastet und verletzt, ist das ein Schlag ins Gesicht für alles was heilig, gerecht und wahr ist (vgl. Jer 8,1–17; Röm 8,6).

Leider war die Menschheit nach dem Sündenfall plötzlich dem Tod geweiht (vgl. Jer 15,2). Wir alle sind in jenem Moment in einen Bund an den Tod gekettet worden (vgl. Jes 28,15). „Da ist ein Weg, der einem Menschen gerade erscheint, aber zuletzt sind es Wege des Todes.“ (Spr 14,12; 16,25).

„Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer … Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handelten sie trügerisch … Viperngift ist unter ihren Lippen … Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit … Ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen; Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens haben sie nicht erkannt … Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen.“ (Röm 3,10–18)

Es ist also kein Wunder, dass Abtreibung, Kindermord, Aussetzen und Verlassen schon immer ein weit verbreiteter Teil von gefallenen, zwischenmenschlichen Beziehungen gewesen sind. Seit dem Sündenfall haben sich Menschen raffinierte Umwege erdacht, um ihre verdorbenen Leidenschaften zu befriedigen. Und das Töten von Kindern stand auf der Liste immer ganz oben.

„Buchstäblich an jeder Kultur der Antike klebt das Blut unschuldiger Kinder.“
 

Buchstäblich an jeder Kultur der Antike klebt das Blut unschuldiger Kinder. Ungewollte Säuglinge wurden im Alten Rom außerhalb der Stadtmauern ausgesetzt. Sie starben an Vernachlässigung oder durch Angriffe von wilden Tieren auf Futtersuche. Die alten Griechen gaben ihren schwangeren Frauen oft starke Dosen pflanzlicher oder medizinischer Abtreibungsmittel. Die Perser entwickelten höchst anspruchsvolle chirurgische Kürettenverfahren. Die alten Kanaaniter warfen ihre Kinder als Opfer für ihren Gott Moloch auf große, brennende Scheiterhaufen. Die Ägypter wurden ihre ungewollten Kinder los, indem sie ihnen kurz nach der Geburt die Eingeweide entnahmen und sie zerstückelten – ihr Kollagen wurde dann rituell für die Herstellung kosmetischer Salben geerntet. Keiner der großen Denker der Antike – von Plato und Aristoteles zu Seneca und Quintilian, von Pythagoras und Aristophanes zu Livius und Cicero, von Herodot und Thukydides bis hin zu Plutarch und Euripides – lehnte auf irgendeine Weise das Töten von Kindern ab. Tatsächlich empfahlen die meisten von ihnen es sogar. Hartherzig diskutierten sie die verschiedenen Methoden und Vorgehensweisen. Oft debattierten sie über die diversen rechtlichen Konsequenzen. Unbekümmert ließen sie Leben fallen wie Würfel in einem Spiel. Tatsächlich waren Abtreibung, Kindermord, Aussetzen und Verlassen so sehr ein Teil von menschlichen Gesellschaften, dass sie in volkstümlichen Überlieferungen, Geschichten, Mythen, Fabeln und Legenden das literarische Hauptleitmotiv bildeten – von Romulus und Remus über Ödipus und Poseidon bis zu Asklepios, Hephaistos und Kybele.

Aber Gott sei Dank! Gott, der der Geber des Lebens ist (vgl. Apg 17,25), die Quelle des Lebens (vgl. Ps 36,10), die Zuflucht des Lebens (vgl. Ps 27,1), der Fürst des Lebens (vgl. Apg 3,15), und derjenige, der Lebenskraft zurückgibt (vgl. Rt 4,15; ZÜR), ließ uns Menschen nicht hoffnungslos in den Klauen von Sünde und Tod verschmachten. Er sandte uns nicht nur die Botschaft des Lebens (vgl. Apg 5,20) und die Worte des Lebens (vgl. Joh 6,68), sondern auch das Licht des Lebens (vgl. Joh 8,12). Er sandte uns seinen eingeborenen Sohn – das Leben der Welt (vgl. Joh 6,51) – um die Ketten des Todes zu brechen (vgl. 1Kor 15,54–56). Jesus „schmeckte den Tod für jeden“ (Hebr 2,9), „machte [um unseretwillen] den Tod zunichte“ (2Tim 1,10) und bot uns neues Leben an (vgl. Joh 5,21).

Die Didache, eine der frühesten christlichen Schriften – tatsächlich übereinstimmend mit dem Großteil des Neuen Testaments – erklärt: „Es sind zwei Wege: der eine ist der des Lebens und der andere der des Todes“. In Christus hat Gott uns die Möglichkeit geschenkt, zwischen zwei Wegen zu wählen – zwischen „fruchtbar wimmelndem“ Leben einerseits und unfruchtbar kahlem Tod andererseits (vgl. 5Mose 30,19).

Getrennt von Christus ist es unmöglich, den Schlingen der Sünde und des Todes zu entkommen (vgl. Kol 2,13). Andererseits: „Wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2Kor 5,17).

Der Hauptkonflikt ist zu allen Zeiten und schon immer der Kampf von Christen für das Leben und gegen die natürlichen Neigungen der Menschen gewesen. Und so wird es immer sein. Es war schon lange vor den Entscheidungen im Juni 2022 so und wird es auch lange danach so sein, je nachdem wie lange der Herr noch verzieht.

Was ist denn nun unsere Aufgabe als Christen? Sie bleibt gleich: Wir müssen als Anwälte des Evangeliums für alles einstehen, was gerecht, gut und wahr ist. Wir müssen uns um die Armen, die Verletzten und die Ausgegrenzten kümmern. Wir müssen in Liebe die Wahrheit weitersagen. Wir müssen unsere Richter an ihre Verantwortung erinnern. Wir müssen Jüngerschaft leben. Wir müssen unnachgiebig sein in der Verkündigung der frohen Botschaft, die alles verändert. Unsere Fürsprache und unsere Arbeit darf nicht aufhören.

Unsere lokalen Beratungszentren, brauchen mehr als je zuvor unsere Unterstützung, insofern sie sich für das Leben der ungeborenen Kinder einsetzen. Auf unseren Kanzeln müssen wir praktisch, pastoral, aber auch mit prophetischer Dringlichkeit darüber sprechen. Und wie nie zuvor müssen wir uns an Gottes herrliche Verheißung erinnern: „Siehe, ich wirke Neues! Jetzt sprosst es auf. Erkennt ihr es nicht? Ja, ich lege durch die Wüste einen Weg, Ströme durch die Einöde“ (Jes 43,19).