Drei Fragen zur Sündlosigkeit von Jesus

Artikel von Robert Letham
11. Juli 2022 — 7 Min Lesedauer

Frage: Wie echt waren Christi Versuchungen? Gibt es einen Unterschied zwischen seinen und unseren Versuchungen?

Antwort: Um Versuchungen zu definieren, sollten die Fähigkeiten der Person, die versucht wird, keine Beachtung finden. Versuchungen sind die Verlockungen zur Sünde aus unterschiedlichsten Quellen. Aus diesem Grund waren die Versuchungen Jesu tatsächlich größer als unsere, da niemand ihnen so stark widerstanden hat wie er. Eine Person, die gegen den Strom schwimmt, spürt Widerstand und Anstrengung weitaus mehr als jemand, der sich mit dem Strom treiben lässt. Außerdem hat Christus die Gestalt eines Knechtes und die Niedrigkeit des Menschseins angenommen und hat in einer von Sünde und Verfall zerrütten Welt gelebt (Hebr 2,13–18).[1]

W. G. T. Shedd, der presbyterianische Theologe aus dem Amerika des 19. Jahrhunderts, sagt zu dem Einwand, dass eine Person, die nicht sündigen kann, auch nicht zur Sünde versucht werden kann, folgendes:

„Das ist genauso wenig richtig wie zu sagen, dass eine Armee nicht angegriffen werden kann, weil sie nicht besiegt werden kann.“[2]

Oliver Crisp verwendet eine Analogie aus dem Sport: Es steht fest, dass ein unbesiegbarer Boxer gewinnen wird, aber dazu muss er einen Kampf gegen einen echten Gegner austragen.[3]

„Wir sind Angriffen aus drei verschiedenen Quellen ausgesetzt: der Welt, dem Fleisch und dem Teufel.“
 

Damit sind wir wieder bei der Frage nach dem Wesen von Versuchungen und ihren Quellen angelangt. Als Arbeitsdefinition habe ich vorgeschlagen, dass Versuchungen Verlockungen zur Sünde sind, unabhängig von ihrer Quelle. Wir sind Angriffen aus drei verschiedenen Quellen ausgesetzt: der Welt, dem Fleisch und dem Teufel. Das Ausschlaggebende darin ist das Fleisch. Versuchungen von außen treffen auf eine von innen kommender Antwort. Es gibt immer etwas in uns, das solche Verlockungen auf unterschiedliche Weise anziehend findet, je nach unserer Neigung zu bestimmten Sünden. Oft brauchen wir keine äußeren Anreize, die uns zur Sünde verleiten. Es gibt genug in uns, um uns in die Irre zu führen, ohne dass wir woanders hinschauen müssen.

Bei Jesus kam die Versuchung von außen – vom Teufel und von der Welt um ihn herum. Dennoch handelte es sich dabei um wahre Versuchung. Es war immer noch ein Anreiz, das Gesetz Gottes zu brechen. Wenn überhaupt, dann spürte Jesus sie heftiger als jeder andere. Er ertrug die ungehemmte Wut des Teufels, der versuchte, ihn vom Weg abzubringen, der vom Vater vorbereitet war (Mt 4,1­­­–10). Je stärker der Widerstand, desto heftiger die Anfechtung. Aus diesem Grund kann man sagen, dass niemand Versuchung je mehr spürte als Jesus. Darum können wir sagen, dass er zur Sünde verleitet wurde. Die doppelte Kraft des Teufels und der kämpferischen menschlichen Widersacher reichten völlig aus, denn sein unerschütterlicher Widerstand machte ihre wuterfüllten Verlockungen unerbittlich.[4]

F: Gibt es einen Unterschied zwischen Untadeligkeit und Verführbarkeit?

„Christus hatte sowohl die Möglichkeit zu sündigen, aufgrund seiner Menschlichkeit, war als auch unfähig zu sündigen, da sein Wille gehorsam war.“
 

A: Ja. Die Verführbarkeit bezieht sich auf die Möglichkeit, sich einer Versuchung zur Sünde zu stellen, während sich die Untadeligkeit auf die Unmöglichkeit bezieht, auf eine solche Versuchung hin zu reagieren. Wie Bavinck feststellt, wurde der Kampf gegen Versuchung, dem sich Christus stellte, nicht dadurch beendet, dass er tadellos war, denn letzteres war eine ethische Frage und musste auf ethische Weise unter Beweis gestellt werden.[5] Crisp verweist auf das Argument von Anselm, dass Christus die Fähigkeit hatte zu lügen, aber nicht in der Lage war, dies zu tun.[6] Anselm ist der Ansicht, dass Christus hätte lügen können, wenn er es gewollt hätte. Allerdings wollte er nicht lügen.[7] Hierin ist der Unterschied sichtbar, dass Christus sowohl die Möglichkeit zu sündigen hatte, aufgrund seiner Menschlichkeit, als auch unfähig war zu sündigen, da sein Wille gehorsam war. Crisp vergleicht dies mit einem zerbrechlichen Sektglas, das zerbrechen kann, aber durch eine sichere Verpackung geschützt ist, die dieses Szenario verhindert.[8]

F: Ist die Möglichkeit zu sündigen ein charakteristisches Merkmal des Menschen?

A: Nein. Man kann kaum von den Erlösten im Himmel behaupten, sie seien zur Sünde fähig, da ihr Zustand unerschütterlich erhalten bleibt. Dennoch ist diese Eigenschaft, abgesehen von dem einen Beispiel in Christus, ein klares Merkmal der Menschen, und wahre Freiheit besteht darum in der völligen Erlösung von Sünde.

Bruce Ware und John McKinley weisen jedoch auf die Möglichkeit hin, dass es im Himmel noch Versuchungen geben könnte, aber sie sind sich einig, dass die Erlösten ihnen widerstehen werden.[9] Wenn wir annehmen, dass es solche Versuchungen geben könnte, würde dies dafürsprechen, dass echte Versuchungen mit Untadeligkeit vereinbar sind. Dieser Gedanke ist jedoch rein spekulativ, und es gibt auch gewichtige Argumente, die dagegensprechen. Aus welcher Quelle könnten solche Versuchungen kommen? Sie können wohl kaum aus einer verdorbenen Natur stammen, die durch die Verherrlichung ausgerottet wurde. Die Welt mit ihrer Rebellion gegen Gott wäre nicht mehr vorhanden, und der Teufel wäre in das ewige Feuer geworfen worden. Es ist schwer vorstellbar, welche Kräfte eine solche Bedrohung darstellen könnten. Da es in diesem Szenario um die Anfechtbarkeit der Erlösten geht, ist der springende Punkt die Möglichkeit, dass die Erlösung scheitern könnte – dass es etwa eine Vertreibung aus dem Himmel und einen weiteren Sündenfall geben würde. Die Schrift schließt dies völlig aus. Wenn das Merkmal des Menschseins im Himmel unter anderem in der Freiheit von der Möglichkeit zu sündigen besteht, dann folgt daraus, dass Untadeligkeit an sich die Menschlichkeit Christi, während er sich vor der Auferstehung in einem mit der Inkarnation einhergehenden Zustand der Schwäche befand, nicht untergräbt.

Thomas Morris hat vorgeschlagen, einen Unterschied zwischen individuellen Eigenschaften und Wesens-Eigenschaften zu machen. Erstere sind ein Bündel von Merkmalen, die für ein Individuum wesentlich sind, um die Person zu sein, die sie ist. Wesens-Eigenschaften, betrachtet er andererseits als Bündel von Merkmalen, ohne die ein Individuum nicht zu der natürlichen Wesensart gezählt wird, die es verkörpert. In Bezug auf letztere schlägt er vor, dass „es Merkmale gibt, die zufällig den Angehörigen einer natürlichen Wesensart gemeinsam sind, die sogar alle Angehörigen dieser Art besitzen, ohne wesentlich für die Zugehörigkeit dieser Art zu sein“. Viele Kritiker haben das angewandt, was Morris den „Look around town“-Ansatz (dt. „Schau dich in der Stadt um“) nennt. Wenn man sich in der Stadt umschaut, stellt man fest, dass alle Menschen bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben, darunter auch die Eigenschaft, zu sündigen. Daraus zu schließen, dass Sündhaftigkeit ein wesentlicher Teil der menschlichen Natur ist, würde diesen Punkt nicht berücksichtigen. Sündig zu sein, ist dem Menschen zwar gemein (und zwar universell), aber daraus folgt nicht, dass es wesentlich für das Menschsein ist.[10] Da ein sündiger Zustand für das Menschsein nicht zwangsweise wesentlich ist, können wir daraus schließen, dass das Argument, die Untadeligkeit Christi würde die Realität seines Menschseins und die Echtheit seiner Versuchungen untergraben, fehlschlägt.


[1] Herman Bavinck, Our Reasonable Faith, trans. Henry Zylstra, Grand Rapids, MI: Baker, 1977, S. 329.

[2] Shedd, Dogmatic Theology, Bd. 2, S. 336.

[3] Crisp, God Incarnate, S. 133.

[4] Für eine ausführliche Analyse zu unterschiedlichen Versuchungen, siehe Crisp, God Incarnate, S. 122–136.

[5] Ebd.

[6] Bavinck, RD, Bd. 3, S. 315.

[7] Crisp, God Incarnate, S. 132–133.

[8] Anselm, Cur Deus homo? Bd. 2, S. 10, in Brian Davies, Anselm of Canterbury: The Major Works (Oxford: Oxford University Press, 1998), S. 326.

[9] Crisp, God Incarnate, S. 132.

[10] Thomas V. Morris, „The Metaphysics of God Incarnate“ in Oxford Readings in Philosophical Theology, Bd. 1, Trinity, Incarnation, and Atonement, Michael Rea (Hrsg.), Oxford: Oxford University Press, 2009, S. 216.