Das war dann wohl nichts?
Stichwort „Naherwartung“
„Wie bestellt und nicht abgeholt.“ So hat sich wohl jeder schon mal gefühlt. Versetzt zu werden, ist ernüchternd, ja erniedrigend – vor allem, wenn man das Treffen mit großer Vorfreude erwartet hat. Haben sich die ersten Jünger Jesu und die anderen Gläubigen jener ersten Generation gegen Ende ihres Lebens so gefühlt? Diese Frage stellt sich, wenn wir von der spürbaren Naherwartung der Rückkehr Jesu in den neutestamentlichen Briefen lesen. Sie stellt sich noch viel dringender, wenn wir Jesu eigene Aussagen zu seiner Rückkehr betrachten. In Matthäus 24 befragen ihn seine Jünger zur Tempelzerstörung, seinem Wiederkommen, dem Ende der Welt sowie den Zeichen, die diesen Ereignissen vorausgehen sollen. Jesus beantwortet ihre Fragen in der sogenannten Endzeitrede und versichert ihnen dabei in Matthäus 24,34: „Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist.“
Die bibelkritische Schlussfolgerung
Da der Menschensohn nicht zeitnah zurückgekommen ist, haben viele bibelkritische Theologen auf Verse wie Matthäus 24,34 verwiesen und behauptet, dass Jesus sich getäuscht und die Jünger sowie die anderen Gläubigen der ersten Generation damit in die Irre geleitet hat. Im Laufe der Zeit sei diese Naherwartung der ersten Generation dann korrigiert worden, wie man beispielsweise im Zweiten Petrusbrief erkennen könne. Albert Schweitzer war es, der dieses Phänomen als „Parusie-Verzögerung“ (von gr. parousia – „Rückkehr“) bezeichnete. Ausgehend von Matthäus 10,23 argumentierte er, dass Jesus annahm, die Parusie und damit das eschatologische Reich Gottes würden kommen, bevor die Jünger in allen Städten Israels gepredigt hätten. Als das nicht geschah, meinte Jesus, das Reich Gottes durch sein Leid und seinen Tod selbst herbeibringen zu müssen, was allerdings auch nicht gelang. Dementsprechend sei Jesus enttäuscht und desillusioniert gestorben. Oscar Cullmann verglich Jesu eschatologische Verheißungen mit dem Verkünden des Kriegsendes: Die entscheidende Schlacht ist gewonnen, auch wenn der Krieg damit noch nicht vorbei ist. Jesus sei ob des bevorstehenden Sieges durch seinen Tod und seine Auferstehung mit seiner Parusie-Ankündigung voreilig gewesen. Die stark ausgeprägte Naherwartung der neutestamentlichen Gemeinde sei also Folge seiner überstürzten Parusie-Ankündigung.
Bibeltreue Alternativen
Es ist einigermaßen nachvollziehbar, dass man mit einer bibelkritischen Haltung zu solchen Schlüssen kommt. Unser Anspruch sollte es jedoch sein, die Parusie-Ankündigungen Jesu so zu lesen, wie sie gelesen werden wollen: im historischen, literarischen und gesamtbiblischen Kontext unter Berücksichtigung der Textgattung.
„Unser Anspruch sollte es sein, die Parusie-Ankündigungen Jesu so zu lesen, wie sie gelesen werden wollen: im historischen, literarischen und gesamtbiblischen Kontext unter Berücksichtigung der Textgattung.“
Mit dieser Herangehensweise, gepaart mit der Überzeugung, dass hier der lebendige, unfehlbare Gott spricht, haben sich im Laufe der Kirchengeschichte mehrere Ansätze entwickelt, Texte wie die Endzeitrede Jesu oder das Buch der Offenbarung zu lesen und zu verstehen. Zu den gängigsten gehören der präteristische, der futuristische, der idealistische und der eklektische Ansatz. Diese vier werden in diesem Artikel in Bezug auf Matthäus 24,34 vorgestellt. Um das auf möglichst verständliche Weise zu tun, wird zuvor jedoch noch der Kontext der Endzeitrede erläutert.
Die Endzeitrede in Matthäus
Der Anlass der Endzeitrede ist, dass Jesus in Matthäus 24,2 die Zerstörung des Tempels prophezeit. Daraufhin kommen die Jünger im nächsten Vers auf ihn zu: „Sage uns, wann wird dies geschehen, und was wird das Zeichen deiner Wiederkunft und des Endes der Weltzeit sein?“ Jesus scheint auf diese dreiteilige Frage in drei Teilen zu antworten, jedoch nicht unbedingt so eindeutig und nicht in der Reihenfolge, wie es die Jünger erwarten. In den Versen 4 bis 14 zählt er verschiedene Zeichen auf, die die Endzeit ausmachen. Dazu gehören Verführung (Verse 4–5, 11), Kriege (Verse 6–7a), Naturkatastrophen (Vers 7), Verfolgung (Verse 9–10), Ver- und Abfall (Vers 12), aber auch die Evangelisation der Nationen (Vers 14). Anschließend spricht Jesus in den Versen 15–28 von einer Zeit der besonders großen Drangsal, die von Gräueln (Vers 15), lebensbedrohlichen Zuständen (Verse 15–22) und Verführung (Verse 23–28) geprägt ist. Dem folgt in den Versen 29–31 die Ankündigung des Kommens des Menschensohnes „auf den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit“ (Vers 30). All diese Zeichen, so Jesus in Vers 33, sollen die Jünger auf das Ende einstellen. Daraufhin macht er die oben zitierte Aussage, dass dieses Geschlecht nicht vergehen wird, bis „dies alles geschehen ist“. Im Anschluss spricht Jesus noch von dem ungewissen Zeitpunkt „jenen Tages“ und dem daraus folgenden, überraschenden Charakter Wiederkunft des Menschensohnes.
Der präteristische Ansatz
Der erste, offensichtlich bibeltreue Ansatz ist der, den Literalsinn der Worte Jesu zu suchen. Demzufolge sagt Matthäus 24,34 aus, dass all die Zeichen, von denen er bis dahin gesprochen hat – auch das Kommen des Menschensohnes –, eintreffen würden, bevor die damalige Generation vergeht. Präteristen verweisen darauf, dass das griechische Wort für „Geschlecht“ (genea), das hier verwendet wird, akkurater mit „Generation“ zu übersetzen ist. Daraus folgt also, dass sich all die Dinge, von denen Jesus spricht, innerhalb von ca. 40 Jahren ereignet haben. Aus unserer Sicht heute liegt das also alles in der Vergangenheit – daher auch die Bezeichnung „präteristisch“. Es ist tatsächlich nicht schwer, die meisten dieser Dinge historisch im 1. Jahrhundert zu verorten. Die Kriege, Krankheiten, Naturkatastrophen, die Verfolgung und die Verführung, von denen in den Versen 4 bis 14 die Rede ist – ja selbst die Evangelisierung der Welt –, ließen sich auch ohne große Schwierigkeiten in den 40 Jahren nach dieser Rede verorten. Die Verse 15 bis 28, so die präteristische Argumentation, seien recht eindeutig der historisch verbürgten Zerstörung Jerusalems samt Tempel im Jahr 70 n. Chr. zuzuordnen. Auch der sogenannte „Gräuel der Verwüstung“ (Vers 15) sei im Zuge der Tempelzerstörung um jene Zeit eingetreten. Schwieriger wird es jedoch, das Kommen des Menschensohnes (Verse 29–31) zeitlich einzuordnen – es sei denn, man versteht darunter nicht die Parusie. So deuten Präteristen das Kommen des Menschensohnes zum Beispiel als ein Kommen zum Gericht seines Volkes in Form der Zerstörung Jerusalems oder als „Herrschaftsantritt“ Jesu nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt. Klar ist allerdings, dass diese strikt präteristische Linie ab Matthäus 24,38 kaum aufrechtzuerhalten ist, weil Jesus dort nicht mehr von Ereignissen zu sprechen scheint, die sich dem 1. Jahrhundert zuordnen lassen. Dieser Bruch kommt sehr plötzlich und dennoch eindeutig und erschwert die präteristische Interpretation der restlichen Endzeitrede ungemein.
Der futuristische Ansatz
Wie der Name schon andeutet, ist der futuristische Ansatz dem präteristischen entgegengesetzt. Der konsequente futuristische Ausleger sieht in Jesu Worten – vor allem in Kombination mit anderen eschatologischen Versen – ausschließlich Verweise auf Ereignisse, die auch für uns heute noch in der Zukunft liegen, was die Rede für uns sehr relevant und attraktiv macht. Das gilt auch für Vers 2 in Matthäus 24, wo Jesus das Staunen der Jünger über den Tempel zum Anlass nimmt, über die Zerstörung desselben zu sprechen. Futuristen beziehen diese Worte auf den dritten Tempel, dessen Bau noch ausstehe. Gerne werden Abschnitte auch spezifischen eschatologischen Epochen oder Ereignissen, die noch in der Zukunft liegen, zugeordnet. Die Verse 15 bis 28 werden beispielsweise vor allem in dispensationalistischen Kreisen mit der sogenannten Trübsal in Verbindung gebracht. Dementsprechend wird dann in den Versen 38 bis 44 auch die Entrückung gesehen. Die gängigste Art und Weise, mit genea in Vers 34 umzugehen, besteht darin, dieses Wort eher qualitativ zu interpretieren, also als „Art“ oder „Typ“. Dementsprechend könnte Jesus hier alle Juden oder sogar die ganze Menschheit meinen, wenn er von „diesem Geschlecht“ spricht. Das ist zwar an sich möglich, hätte innerhalb der Bibel aber Alleinstellungsmerkmal. Wesentlich problematischer an diesem Ansatz ist, dass er sehr leicht darüber hinwegsieht, dass Jesus in Vers 2 eindeutig auf den damaligen Tempel Bezug nimmt. Überhaupt richtet er seine ganze Rede an die ersten Jünger und suggeriert, dass diese Dinge für sie ganz persönlich relevant sind. Das wird von Futuristen genauso übersehen wie die Tatsache, dass mindestens die Verse 15 bis 28 sehr gut historisch zu verorten sind, was sie mit Vers 2 somit kompatibel macht.
Der idealistische Ansatz
Während zeitliche Abfolgen und Verortungen den präteristischen und futuristischen Auslegern sehr wichtig sind, legen Idealisten mehr Wert auf die zeitlose Funktion und Intention des Textes. Sie berufen sich dabei vor allem auf die Textgattung, die unsere Leseweise diktieren soll. In apokalyptisch-eschatologischen Prophetien wie der Endzeitrede sind zeitliche Referenzen ihrer Ansicht nach nicht entscheidend. Demzufolge sei die große Lehre aus den Versen 4 bis 14, wie wir mit den Nöten der Zeit umgehen. Die Verse 15 bis 28 lehren uns, dass es Zeiten geben kann, in denen Ausharren keine wirkliche Option mehr und nur noch die Flucht vor der Gefahr sinnvoll ist. In solchen Zeiten ist man oft anfällig für falsche Retter und Messiasse (Verse 24–26). Entscheidend ist, dass Jesus das alles weiß und im Griff hat und zur rechten Zeit für alle sichtbar wiederkommen wird (Vers 27). Die große Botschaft der Verse 29 bis 31 sei das kosmische Ausmaß der Wiederkunft Jesu (Vers 29) und was sie für Ungläubige (Vers 30) und Gläubige (Vers 31) bedeutet. Die Verse 32 bis 35 sollen uns vor allem vermitteln, dass die Wiederkunft des Menschensohnes ein sicheres Ereignis ist. Der umstrittene Vers 34 soll dies unterstreichen und die Dringlichkeit des Anliegens Jesu vermitteln, dass wir mit der Parusie rechnen sollen. Das schließt aber nicht aus, dass man dennoch von ihr überrascht wird, wie die Verse 36 bis 44 zeigen. Demnach ist Jesu großes Anliegen, dass wir allezeit bereit sind. Die idealistische Interpretation konzentriert sich auf Funktion des Textes und erscheint deshalb so relevant für den heutigen Leser. Es ist jedoch zu hinterfragen, ob man bei einem Text wie der Endzeitrede die zahlreichen zeitlichen und chronologischen Verweise sowie plausible Erfüllungen in der Geschichte (Verse 15–28) so weit in den Hintergrund rücken lassen kann. Die Endzeitrede Jesu ist kein so konsequent apokalyptischer Text wie das Buch der Offenbarung, sodass Idealisten mit diesen beiden Texten nicht identisch verfahren sollten.
Der eklektische Ansatz
Alle bisher präsentierten Ansätze haben ihre Stärken und Schwächen. Das hat einige Ausleger dazu veranlasst, diese verschiedenen Ansätze zu kombinieren. Für sie schließt ein Ansatz nicht zwingend alle anderen aus. Zudem können unterschiedliche Ansätze für unterschiedliche Textabschnitte infrage kommen. Auch kann es etwa sein, dass sich die Verse 15 bis 28 in Matthäus 24 tatsächlich auf die Zerstörung Jerusalems beziehen, sich aber gleichzeitig auch noch in der Zukunft erfüllen könnten. Man verweist auch gerne darauf, dass sich die in den Versen 4 bis 14 beschriebenen Nöte nicht nur in der frühesten Christenheit ereignet haben, sondern seitdem immer wieder überall auf der Welt auftreten. Dementsprechend sei es auch möglich, dass sich das Kommen des Menschensohnes in gewisser Weise 70 n. Chr. ereignet hat, wobei die vollkommene Erfüllung noch aussteht. So gesehen, habe sich Vers 34 im unmittelbaren historischen Kontext erfüllt. Eine andere Möglichkeit wäre, die Verse 15 bis 28 und 32 bis 34 präteristisch zu verstehen, während die Verse 29 bis 31 ein futuristischer Einschub sind, der in Vers 36 wieder aufgegriffen wird. In jedem Fall aber versucht man dabei auch die Stärken des idealistischen Ansatzes mit einzubinden und somit die eigentliche Botschaft des jeweiligen Abschnitts nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Die eklektische Herangehensweise ist aufgrund ihrer Flexibilität sehr attraktiv, läuft aber Gefahr, im Kombinieren der Ansätze zu weit zu gehen. So kann der Eindruck entstehen, dass man nach Belieben Ansätze kombiniert, um zu der Interpretation zu gelangen, die nach eigenem Ermessen am meisten Sinn ergibt und vor allem mit der eigenen Interpretation der Geschichte übereinstimmt.
Kein Grund zu (ver)zweifeln
Der eklektische Ansatz scheint – wenn sorgfältig bedacht – für die prophetische Gattung der Endzeitrede in Matthäus 24 der Ansatz zu sein, der uns am weitesten bringt. Aufgrund seiner Flexibilität schafft er es meines Erachtens am ehesten, dem vielschichtigen Text gerecht zu werden.
„Es gibt Wege, mit exegetischen Herausforderungen umzugehen, wenn man die Bibel als unfehlbares Wort Gottes anerkennt.“
Die vielleicht wichtigere Lektion hieraus scheint jedoch zu sein, dass es Wege gibt, mit exegetischen Herausforderungen umzugehen, wenn man die Bibel als unfehlbares Wort Gottes anerkennt. Es gibt dann genug Licht, um Gottes Botschaft an uns mit Zuversicht zu erkennen und anzuwenden. Versteht man die Bibel als Gottes Wort, ist man gerüstet, mit ihrer Komplexität umzugehen. Es gibt daher auch in Bezug auf Matthäus 24,34 keinen Grund, die Verlässlichkeit der Aussagen Jesu in Zweifel zu ziehen. Freilich hatten die ersten Christen eine starke Naherwartung. Aber die hatten alle bibelgläubigen Christen seither immer – und das zurecht! Immerhin kannten sie alle Jesu Worte in der Endzeitrede und haben die richtige Lehre daraus gezogen: „Darum seid auch ihr bereit!“ (Mat 24,44).