Geben wir die biblische Sicht der Ehe auf?
Ich mache mir Sorgen darüber, wie die evangelikale Welt über die Ehe denkt.
Versteht mich bitte nicht falsch. Ich glaube nicht, dass wir damit rechnen müssen, dass bald alle Evangelikale die gleichgeschlechtliche Ehe akzeptieren werden. Es gibt gute Gründe, die Meinung abzulehnen, dass die Evangelikalen eine revisionistische Interpretation der Schrift annehmen oder das globale und historische Zeugnis der Kirche diesbezüglich aufgeben werden.
Was mir Sorgen bereitet, ist, dass evangelikale Christen zwar die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnen, dafür aber jedes falsche Verständnis von Ehe, das es in unserer Gesellschaft gibt, übernehmen.
Nur weil die meisten Mitglieder in deiner Gemeinde die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnen, heißt das nicht, dass sie eine biblische Sicht der Ehe vertreten. Viele der Christen, die zu unseren Gemeinden gehören, haben mittlerweile ein revisionistisches Verständnis der Ehe, wie auch ihre Freunde, die ihr Facebook-Profil mit Regenbogenfarben ausschmücken. Deshalb mache ich mir nicht so viele Sorgen darüber, dass unsere Gemeinden die gleichgeschlechtliche Ehe akzeptieren, sondern dass sie ein unterschwelliges, revisionistisches Verständnis annehmen, dass die gleichgeschlechtliche Ehe plausibel macht.
„Die gleichge-schlechtliche Ehe ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn wir über die Unterschiede zwischen der bib-lischen Sicht von Ehe und dem Verständnis unserer Gesellschaft sprechen.“
Die gleichgeschlechtliche Ehe ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn wir über die Unterschiede zwischen der biblischen Sicht von Ehe und dem Verständnis unserer Gesellschaft sprechen. Wenn wir uns nur mit den momentanen gesetzlichen Änderungen beschäftigen, können wir schnell übersehen, wie stark wir doch in Bezug auf Sexualität und Ehe durch unsere Kultur geprägt sind. Wir können schnell die Tatsache übersehen, dass auch wir unsere Beziehungen oft individualistisch und therapeutisch verstehen. Vielleicht denken wir, dass alles in Ordnung ist, wenn wir nur die richtige Meinung über gleichgeschlechtliche Ehen haben, während wir in Wahrheit genauso bereit sind wie unsere Gesellschaft, Kompromisse einzugehen. Vielleicht sind wir noch stolz darauf, die Stellung gehalten zu haben, während die Gefahr schon längst innerhalb unserer „Mauern“ lauert.
Wie hat sich das Verständnis der Ehe in der Gesellschaft verändert? Andrew Sullivan, eine der führenden Stimmen in der Diskussion über gleichgeschlechtliche Ehen, meint, dass sich das Verständnis der Ehe in den vergangenen Jahrzehnten auf mehreren Ebenen verändert hat. Jede dieser Veränderungen hat Auswirkungen auf den Evangelikalismus.
1. Die Ehe als zeitlich begrenzt
Sullivan schreibt, dass die Ehe sich von einem lebenslangen Vertrag zu einer Verbindung entwickelt habe, die im Leben vieler Amerikaner mindestens zwei Mal eingegangen wird.
Sullivan hat recht, wenn er bemerkt, dass die Ehe für viele mehr eine zeitweise Monogamie als eine lebenslange Partnerschaft ist. Das hat zur Folge, dass die Erwartungen an die Ehe und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sich verändert haben. „Bis dass der Tod uns scheidet“ hat so nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Auch erwarten die Menschen nicht, dass Familien, Freunde, Kirchen oder staatliche Institutionen sie dazu auffordern, ihrem Versprechen treu zu bleiben.
Es wundert also nicht, dass Scheidungen immer alltäglicher werden. Vereinbarungen werden getroffen, um im Falle einer Scheidung einen finanziellen Verlust zu vermeiden und sog. „Zeit-Ehen“ vermehren den Eindruck, die Ehe sei zeitlich, nämlich für einen abgestimmten Lebensabschnitt.
Vor einem Jahrhundert schrieb G. K. Chesterton gegen diejenigen, die von den Christen verlangten, ihre Meinung über Scheidung und Wiederheirat aufzugeben:
„Die Toleranten sind sehr erbost, weil ein Christen, der mehrere Frauen haben will, obwohl er sich durch sein Eheversprechen an eine gebunden hat, sein Eheversprechen nicht vor demselben Altar brechen darf, vor dem er es abgelegt hat.“
Heutzutage ist der Bruch von Eheversprechen auch in den Gemeinden an der Tagesordnung. Es ist schwierig geworden, mit Geschwistern über ihre Eheprobleme zu reden, weil wir dem gesellschaftlichen Denken aufgesessen sind, bei Sexualität und Ehe handle es sich um „Privatsachen“, die niemanden, auch nicht Glaubensgeschwister oder Pastoren, etwas angehen. Wir sind vielleicht besser darin geworden, Menschen nach einer Scheidung zu helfen, aber wir müssen daran arbeiten, Verhältnisse zu schaffen, die Scheidung nicht als Möglichkeit zu sehen.
2. Die Ehe als Ort der emotionalen Hingabe
Sullivan zeigt noch eine andere Veränderung im Denken über die Ehe auf:
„Die Ehe ist nun nicht mehr dazu da, Kinder in die Welt zu setzen, sondern der Ort, an sich dem zwei Erwachsene ihrer gegenseitigen emotionalen Hingabe vergewissern.“
Sullivan zeigt hier die Essenz des revisionistischen Verständnisses der Ehe auf. Es ist ein Verständnis, dass viele Christen, vielleicht unwissend, übernehmen, auch wenn sie lieber von „Mann und Frau“ statt von „zwei Erwachsenen“ reden würden. Die revisionistische Sicht der Ehe behauptet, dass die emotionale Hingabe das Fundament der Ehe sei. Seit der staatlichen Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe befürwortet und fördert der Staat jede Beziehung zweier erwachsener Menschen, die emotionale und romantische Gefühle füreinander zeigen und bereit sind, in diese Beziehung zu investieren.
„Die Liebe, die Mann und Frau in den Ehebund geführt hat, wird durch eben diesen Bund bewahrt, auch wenn das Gefühl, verliebt zu sein, einmal ausbleibt.“
Die Ehe ist also nicht länger die öffentliche Institution, in der Kinder idealerweise von ihrer biologischen Mutter und ihrem biologischen Vater erzogen werden, um so auch die Gesellschaft zu erhalten. Gemäß der revisionistischen Definition geht es vielmehr darum, mit der bzw. dem „Seelenverwandten“ gemeinsam durch das Leben zu gehen.
Evangelikale Christen sind nicht weniger von dieser Idee beeinflusst als unsere ungläubigen Freunde und Nachbarn. Auch wir haben den Mythos angenommen, dass wir nur dann erfüllt sind, wenn wir die perfekte Person finden, die all unsere Sehnsüchte stillt. Unglücklicherweise führt das dazu, dass man mit zu großen (und falschen) Erwartungen in die Ehe geht. Außerdem verliert man das Verständnis, dass die Liebe, die Mann und Frau in den Ehebund geführt hat, durch eben diesen Bund bewahrt wird, auch wenn das Gefühl, verliebt zu sein, einmal ausbleibt.
3. Die Ehe als Ort der persönlichen Verwirklichung
Sullivan schreibt weiter:
„Die Ehe war früher eine Institution, die verschiedene Beziehungen und Verbünde untermauerte – Familie, Kultur, Religion, Klassen. Heutzutage ist die Ehe aber für viele ein tiefer Ausdruck der Fähigkeit des modernen Individuums, alle Bindungen in der Auslebung radikaler Autonomie zu transzendieren.“
An diesem Zitat sehen wir, wie die expressivistische Philosophie unserer Zeit das Verständnis von Ehe verändert: Es geht um das Paar und sonst niemanden. Wir können Spuren dieses Denkens in evangelikalen Gemeinden finden, wo die Hochzeit nicht mehr als der Moment verstanden wird, in dem viele Menschen Zeugen eines Versprechens werden und dadurch in die Verantwortung gezogen werden, auf das Paar achtzugeben. In vielen evangelikalen Gemeinden ist die Hochzeit nur noch ein Ereignis, das vor allem der persönlichen Entfaltung und Verwirklichung des Paares gilt.
Andrew Walker und Eric Teetsel unterscheiden zwischen „innerlichen“ und „äußerlichen“ Ehen:
„‚Innerliche‘ Ehen sind ganz auf das Glück des Paares fokussiert. Im Gegensatz dazu, zieht eine ‚äußerliche Sicht der Ehe auch den Wert einer Ehe für die Gesellschaft in Betracht. Diese Kategorien dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber die innerlich-fokussierte Sicht der Ehe – eine Sicht, die die Ehe als eine sexuelle und abgesonderte soziale Einheit versteht – ist eine Sicht, die wir sowohl außerhalb als auch innerhalb der Kirche passiv angenommen haben.“
4. Die Aufgabe, die vor uns liegt
Wir unterschätzen den Einfluss unserer Kultur und Gesellschaft, wenn wir meinen, es reiche aus, dass unsere Gemeinde „Nein“ zur gleichgeschlechtlichen Ehe sagt. Wir brauchen die gesamte Botschaft der Bibel und ein größeres Bild der Ehe, wenn wir die christliche Sicht der Familie weitergeben wollen.
„Wir brauchen vielmehr eine allumfassende Sicht der Ehe, die unsere Kultur herausfordert und den Entwicklungen entgegensteht.“
Wenn wir dieselben unterschwelligen Ideen über Ehe vertreten wie unsere Gesellschaft, wird das „Nein“ zur gleichgeschlechtlichen Ehe sehr willkürlich und wie Feindseligkeit gegen unsere Nachbarn wirken, die vielleicht in solchen Beziehungen leben oder diese gutheißen. Wir brauchen vielmehr eine allumfassende Sicht der Ehe, die unsere Kultur herausfordert und den Entwicklungen entgegensteht.
Wir sind nicht dazu berufen, einfach nur falsche Verständnisse von Ehe abzulehnen. Wir sind dazu berufen, eine Ehe-Kultur aufzubauen, in der die wunderbare Vision von Komplementarität, Beständigkeit und einer lebenslangen Einheit von Mann und Frau zum Guten der Gesellschaft wachsen kann. Um diese Ehe-Kultur wieder aufzubauen, braucht es mehr als viele Konferenzen, auf denen die gegenwärtige Lage beklagt wird. Wir müssen anfangen, die Ehen im Leib Christi zu stärken; ob es nun die Ehe des LKW-Fahrers, des Polizisten, der Lehrerin oder der Hausfrau ist.
Der Erfolg zeigt sich nicht dort, wo Gemeindemitglieder einfach nur „Nein“ zur gleichgeschlechtlichen Ehe sagen, sondern dort, wo die christliche Sicht der Ehe als so schön gesehen wird, dass die revisionistischen Definitionen einfach keinen Sinn ergeben.