Gottes unverdiente Liebe für dich

Artikel von Matthew McCullough
1. Juli 2022 — 9 Min Lesedauer

Nicht außergewöhnlich genug

Es wäre naheliegend anzunehmen, dass Gottes besondere Liebe zu seinem Volk auf etwas Besonderem beruht, das es auszeichnet und über das kein anderes Volk verfügt. Aber im 5. Buch Mose erfahren wir, warum Gott Israel unter allen Völkern der Erde zu „seinem kostbaren Besitz“ gemacht hat:

Nicht deshalb, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker, hat der HERR sein Herz euch zugewandt und euch erwählt – denn ihr seid das geringste unter allen Völkern –, sondern weil der HERR euch liebte und weil er den Eid halten wollte, den er euren Vätern geschworen hatte” (5Mose 7,7–8).

Paulus sagt etwas Ähnliches über Gottes Liebe für die Kirche. In einem Brief an die neuen Christen in Korinth, die besonders versucht waren, sich gegenseitig zu überbieten, erinnert Paulus sie: „Da sind nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme“ (1 Kor 1,26). In die heutige Sprache übersetzt: Ihr wart keine Gewinner. Ihr gehörtet nicht zu den beliebten Sportlern und Schönheitsköniginnen. Nein, denn als der Herr seine Liebe auf sein Volk richtete, geschah das nicht, weil es so überaus begehrenswert gewesen wäre. Die Beziehung begann nicht mit einer Dating-App, auf der Gott sich durch die Profile wischte, bis er den perfekten Partner fand. Weit davon entfernt. Er „hat sein Herz euch zugewandt […], weil der Herr euch liebte“. Er liebt sie, weil er sie liebt. Das war bei Israel so, und das gilt auch für die Kirche.

Nicht gut genug

Es wäre vielleicht sogar noch naheliegender anzunehmen, dass Gott seine Leute danach auswählt, ob sie seine Regeln befolgen oder nicht. Diese Art der Bevorzugung ist in anderen Religionen üblich: Die Eingeweihten sind diejenigen, die sich ihre Erwählung aus eigener Leistung verdient haben. Man bekommt nur das, wofür man bezahlen kann. Doch so geht Gott nicht mit seinem Volk um.

Natürlich ist Gehorsam (den die Bibel Gerechtigkeit nennt) für Gott wichtig. Er wäre nicht Gott –und der Anbetung und des Vertrauens nicht würdig –, wenn er keinen Unterschied zwischen Gut und Böse machte. Die Gerechtigkeit, die Gott liebt, besteht nicht aus einer Reihe willkürlicher Regeln, die aufgestellt wurden, um den Ahnungslosen eine Falle zu stellen oder die Schwachen auszusieben. Die Gerechtigkeit, die er liebt, spiegelt seine eigene vollkommene Hingabe an das, was recht ist, wider. Gottes Rechtschaffenheit ist schön und ehrenwert. Rein intuitiv wünschen wir uns einen Gott, der Gerechtigkeit liebt – keine perfekte, aber eine wahrhaftige –, weil wir einen Gott wollen, der gegen Ungerechtigkeit ist. Und Gott liebt Rechtschaffenheit.

Dennoch liebt Gott sein Volk trotz dessen anhaltenden Mangels an Gerechtigkeit. Die Geschichte Israels ist dafür ein gutes Beispiel. Genauso beständig wie Gottes unerschütterliche Liebe zu Israel ist Israels Vergesslichkeit, Undankbarkeit und Vorliebe für die Götter ihrer Nachbarn.

Ich kenne kein eindrücklicheres Beispiel, das den Charakter von Gottes Volk besser beschreibt, als die Geschichte des Propheten Hosea. Gott zeigt anhand dieses anschaulichen Lehrstücks, wie sehr er Israel liebt. Er befiehlt Hosea, eine Prostituierte namens Gomer zu heiraten, sie zu lieben und mit ihr zu leben, trotz ihrer Vergangenheit. Und genau das tut Hosea. Aber ihr Hochzeitstag ist nicht das Happy End der Geschichte. Gomer verlässt ihren Ehemann und kehrt zur Prostitution zurück. Sie zieht das Leben als Hure dem Leben als Hoseas Frau vor. So illustriert Gott, wie Israel ihn behandelt. Ein solches Volk liebt er. Gottes neues Bundesvolk, die Kirche, besteht aus Menschen, die nicht gerechter waren als Israel, als Gott seine Liebe zu ihnen entdeckte. So beschreibt Paulus das Leben eines jeden Christen, bevor Gottes Liebe in sein Leben trat:

„Denn auch wir waren einst unverständig, ungehorsam, gingen in die Irre, dienten mannigfachen Lüsten und Vergnügungen, lebten in Bosheit und Neid, verhasst und einander hassend. Als aber die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschien, da hat er uns – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hätten, sondern aufgrund seiner Barmherzigkeit – errettet durch das Bad der Wiedergeburt und durch die Erneuerung des Heiligen Geistes” (Tit 3,3–5).

Wie Gomer waren wir Sklaven der Begierden, und genauso ungehorsam wie Israel. Wir konnten uns nicht selbst reinigen und auch keine „Werke der Gerechtigkeit“ tun, um Gottes Zuneigung zu erlangen. Seine liebevolle Freundlichkeit kam zuerst – direkt in das Chaos hinein, das wir angerichtet hatten.

Gott liebt sein Volk durch seinen Sohn

Der Unterschied zwischen der Innen- und der Außenseite von Gottes besonderer Liebe zu seinem Volk wird verständlich, wenn wir auf Jesus schauen. Es geht nicht darum, einen Wettbewerb zu gewinnen oder sich einen Status zu verdienen. Es geht vielmehr darum, ein Geschenk zu empfangen. Wir müssen nur durch die Tür gehen, die uns Jesus öffnet.

„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater als nur durch mich! (Joh 14,6).“

Gott richtet seine besondere Liebe auf die Ungerechten – nicht, weil er beschlossen hat, die Gerechtigkeit aufzugeben, sondern weil er sein Volk gerecht machen will. Ein altes Kirchenlied drückt dies auf schöne Weise aus: „Liebe wird den Lieblosen zuteil, auf dass sie liebenswürdig seien.“[1]

Die Geschichte von Hosea und Gomer endet nicht mit ihrer Ehe, aber auch nicht mit Ehebruch und Verlassenheit. Sie endet mit einem Akt fast unvorstellbarer Barmherzigkeit. Gott befiehlt Hosea, diesem gebrochenen und betrogenen Ehemann, seiner untreuen Frau nachzugehen und sie von ihrer selbstgewählten Sklaverei freizukaufen. Von einer Sklaverei, die sie seiner Gefährtenschaft und Fürsorge vorgezogen hatte.

Ein Pastor beschrieb Hoseas Geschichte mal als „eine Vorwegnahme der Geschichte Christi in Form eines Schauspiels“. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass Paulus in seinem Brief an die Epheser an diese Geschichte dachte, als er die Christen als solche beschrieb, die „wir alle einst unser Leben in den Begierden unseres Fleisches führten, indem wir den Willen des Fleisches und der Gedanken taten; und wir waren von Natur Kinder des Zorns, wie auch die anderen“ (Eph 2,3). Wir alle waren einst wie Gomer. „Gott aber, der reich ist an Erbarmen, hat um seiner großen Liebe willen, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren durch die Übertretungen, mit dem Christus lebendig gemacht“ (Eph 2,4–5). Etwas später vergleicht Paulus, wie schon Hosea vor ihm, diesen ganzen Prozess mit der Ehe. Er sagt den Ehemännern, sie sollen ihre Frauen lieben, „gleichwie auch der Christus die Gemeinde geliebt hat und sich selbst für sie hingegeben hat“ (Eph 5,25). Der Grund, warum Christus sich für seine Braut hingegeben hat, ist, „damit er sie heilige, nachdem er sie gereinigt hat durch das Wasserbad im Wort, damit er sie sich selbst darstelle als eine Gemeinde, die herrlich sei, sodass sie weder Flecken noch Runzeln noch etwas Ähnliches habe, sondern dass sie heilig und tadellos sei“ (Eph 5,26–27).

Heilig und untadelig – so wünscht sich Christus seine Braut. Rechtschaffenheit ist immer noch wichtig. Aber die Gerechtigkeit des Volkes Gottes – die Gerechtigkeit, die Gott liebt und an der er Freude hat – wird der Gemeinde als Geschenk aus seiner Hand zuteil, ein Geschenk, das er für sie durch das Blut seines Sohnes erworben hat.

So wie Hosea den Preis bezahlte, um seine untreue Frau freizukaufen, genauso hat Gott in Christus den Preis bezahlt, um für die Sünde seines Volkes aufzukommen und es gerecht zu machen. Das meint Paulus, wenn er sagt, dass Jesus sich für seine Gemeinde „hingegeben“ hat (Eph 5,25). Und das meint auch Petrus, wenn er schreibt: „Denn auch Christus hat einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führte“ (1 Petr 3,18). Das meinte auch Jesus, als er sagte, er sei gekommen, um „sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45).

Dieser Tausch wird vielleicht am besten im 2. Korintherbrief zusammengefasst: „Denn er [d.h. Gott] hat den [d.h. Jesus], der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes würden“ (2Kor 5,21).

„In Christus empfängt Gottes Volk das, was Christus verdient – die vollkommene, unerschütterliche, unendliche Liebe Gottes zu seinem gerechten Sohn.“
 

Christen beschreiben Gottes Liebe oft als bedingungslos, und das ist sie auch. Gott liebt sein Volk, obwohl sie gegen ihn sündigen. Er liebt sie, bevor sie ihn zurücklieben, und bevor es in ihnen etwas gibt, das seiner Liebe würdig ist. Gott sei Dank, das ist alles wahr. Aber seine Liebe hört damit nicht auf, sie geht weit darüber hinaus. Die Bibel sagt, dass Gott sein Volk in Christus liebt. Aus Liebe schickt der Vater seinen Sohn, um das auf sich zu nehmen, was sein Volk verdient – die Ungerechtigkeit, die Gott nicht liebt und die er bestrafen muss. Deshalb ist Christus gestorben. Aber in Christus empfängt Gottes Volk auch das, was Christus verdient – die vollkommene, unerschütterliche, unendliche Liebe Gottes zu seinem gerechten Sohn. Dieses Geheimnis werden wir nie ganz begreifen können. Die Liebe Gottes zu seinem Volk ist eine Erweiterung der vollkommenen, ewigen Liebe zu seinem Sohn. In der Nacht, in der er verraten wurde und zu seinem Vater für die Sicherheit derer betete, die er erlösen wollte, zieht Jesus den Schleier zurück und offenbart uns das unvorstellbare Geheimnis des Evangeliums.

„Es geht nicht nur darum, dass Gott sein Volk trotz seiner Sünde liebt. Er liebt sie, weil sein Sohn gerecht ist. Er liebt sie ‚genauso wie‘ er Jesus liebt.“
 

„Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben, auf dass sie eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie zu vollendeter Einheit gelangen, und damit die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, gleichwie du mich liebst. […] Und ich habe ihnen deinen Namen verkündet und werde ihn verkünden, damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen“ (Joh 17,22–23.26).

In Christus zu sein bedeutet, in der Liebe zu leben, die der Vater zu seinem Sohn hat. Es geht nicht nur darum, dass Gott sein Volk trotz seiner Sünde liebt. Er liebt sie, weil sein Sohn gerecht ist. Er liebt sie „genauso wie“ er Jesus liebt. Die Liebe, mit der er seinen Sohn geliebt hat, ist jetzt „in ihnen“. Wenn Gott auf sein Volk blickt, sieht er die Gerechtigkeit seines Sohnes und freut sich an ihnen.


[1]  Aus der Hymne „My Song Is Love Unknown“ von Samuel Crossmann aus dem Jahr 1664.