Eine Lüge mit weitreichenden Folgen
Als ich zehn Jahre alt war, traf ich meine Tante Margaret zum ersten Mal. Sie saß in einem Rollstuhl und Speichel floss ihren Mundwinkel herab. Sie nahm mich nicht wahr, war inkontinent und nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Und doch kümmerte sich mein Onkel Gary liebevoll um sie.
Die beiden hatten sich schon in der Schulzeit ineinander verliebt. Jetzt aber würde sie nach nur 15 gemeinsamen Jahren an Krebs sterben. Mein Onkel ließ sie nicht im Stich. Er ging nicht fremd. Nein, er hatte öffentlich versprochen „in Gesundheit und Krankheit, bis der Tod uns scheidet“ – und diesem Versprechen blieb er treu. Einige Jahre später starb sie. Dies entspricht dem biblischen Bild der Ehe: Freude durch gegenseitige Hingabe, Treue und Selbstverleugnung.
Doch die gesellschaftlichen Ansprüche an die Ehe haben sich dramatisch verändert und auch viele Menschen in der Gemeinde beeinflusst.
Veränderte Erwartungen
Die Veränderung kann folgendermaßen beschrieben werden:
„Die frühere Einstellung war, dass ich alles für meine Ehe geben muss. Heute erwartet man, dass meine Ehe mir etwas geben soll.“ (Jonah Goldberg, Suicide of the West, S. 267)
Mein Onkel gab alles für seine Ehe. Er war bereit, zum Wohl seiner Frau, seiner Kinder und der Ehre Gottes auf kurzfristige Freuden zu verzichten. Er glaubte, dass das Halten seines Eheversprechens seine Freude hier und in der zukünftigen Welt vergrößern werde.
Diejenigen, die jedoch erwarten, dass die Ehe ihnen „etwas bringen muss“, gehen oft davon aus, dass „Gott einfach nur will, dass ich glücklich bin“, und zwar auf die übliche und vorhersehbare Weise. Ihr Fokus liegt auf sich selbst und ihren unmittelbaren Bedürfnissen. Sollten sich größere, langfristige Eheprobleme ergeben, werden diese Leute wohl das Weite suchen.
Der Soziologe W. Bradford Wilcox von der Universität Virginia fasst die heutigen Erwartungen an die Ehe folgendermaßen zusammen:
„In der Zeit vor den späten Sechzigern tendierten die Menschen dazu, an die Ehe in den Kategorien von Verpflichtung, Verbindlichkeit und Aufopferung zu denken. … Doch die psychologische Revolution, die den Schwerpunkt auf individuelle Entfaltung und persönliches Wachstum legte, änderte dies alles. Die Ehe wurde zunehmend als Mittel für eine auf sich selbst ausgerichtete Ethik der Romantik, Intimität und Selbstverwirklichung gesehen. In diesem neuen psychologischen Ansatz für das Eheleben war man nicht in erster Linie der Familie verpflichtet, sondern sich selbst. Daher wird der Erfolg einer Ehe nicht mehr durch die erfolgreiche Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber dem Ehepartner und den Kindern definiert. Erfolg definiert man seither vielmehr durch ein starkes Gefühl des subjektiven Glücks in der Ehe, das in der Regel in und durch eine intensive, emotionale Beziehung mit dem Ehepartner zu finden ist. Die 1970er stehen für die Periode, in der das traditionelle Verständnis von Ehe einer Vorstellung der ‚großen Liebe‘ wich.“
Professor Wilcox' Modell der „großen Liebe“ ist das Ergebnis des expressiven Individualismus. Die Annahmen, die diesem Modell zugrunde liegen, sind wie moralische Lösungsmittel, die das Band des Ehebundes auflösen. In ihrem Zentrum steht eine kraftvolle, Ehe-zerstörende Lüge: „Gott möchte doch nur, dass ich glücklich bin. Und dieses Glück definiere ich genau so, wie ich es will.“ Paare haben diese Lüge gebraucht, um Abtreibung, Trennung, Scheidung, Ehebruch und alle möglichen Ausprägungen ihres Egoismus zu rechtfertigen.
Problematisch an dieser Lüge ist, dass sie eine zentrale Wahrheit verdreht. Gott will zwar, dass wir glücklich sind, aber er definiert die Bedingungen dafür – und sofortiges Glück ist nicht Gottes oberstes Ziel. Gott möchte, dass Paare durch Selbstverleugnung dem langfristigen Eheglück nachjagen. Er erwartet von uns, dass wir uns selbst verleugnen – dass wir die unmittelbare Zufriedenheit aufschieben –, um ein größeres, langfristiges Glück zu erfahren. Es gibt Zeiten in der Ehe, in denen eine solche Selbstverleugnung großen Glauben erfordert.
Was hinter der Lüge steckt
Diese Lüge ist eine in unserer Kultur tief verwurzelte Annahme. Und Annahmen sind schwer zu bekämpfen, weil sie meist unbewusst gemacht werden. Sie werden durch Fernsehen, Filme, Literatur, Medien, Musik und unser Bildungssystem tief in uns verankert.
Sichtbar werden diese Annahmen beispielsweise durch Verbraucherwerbung. Werbeagenturen werden dafür bezahlt, dass sie die Annahmen, die uns motivieren, identifizieren. Ich möchte einige Beispiele nennen, die (auf falsche Art internalisiert) eine Ehe zerstören können:
- Das Steakhaus Outback lädt uns ein, bei ihnen essen zu gehen, da dort gilt: „Keine Regeln. Alles ist erlaubt.“
- McDonalds sagt uns, dass wir Pommes kaufen sollen, denn: „Du hast heute eine Pause verdient!“
- Reebok vermarktet Laufschuhe mit der Begründung: „Weil du es wert bist!“
- Und Nike verwirft alle Einwände und fordert uns auf: „Just do it!“ (dt. „Tu es einfach!“)
„Das tiefste eheliche Glück kommt durch Selbstverleugnung, Demut, Selbstlosigkeit, Geduld, Freundlichkeit und die gedankliche Kreuzigung des Ichs.“
Die Annahmen, die der Geist Gottes zum Ausdruck bringt, sind jedoch ganz anders. „Haben wir heute eine Pause verdient?“ „Sind wir es ‚wert‘?“ Und sollten wir uns sündigen Leidenschaften hingeben und „es einfach tun“? NEIN! Wir richten unser Leben an einer tieferen Logik aus, die sich der Selbstsucht und den Annahmen der Welt um uns herum entgegenstellt: der Logik des Kreuzes. Wir haben den ewigen Tod verdient, doch Jesus hat sich gedemütigt und ist gestorben, sodass wir das volle und überfließende Leben erfahren können.
Das tiefste eheliche Glück kommt durch Selbstverleugnung, Demut, Selbstlosigkeit, Geduld, Freundlichkeit und die gedankliche Kreuzigung des Ichs. Letztlich wird das weise christliche Paar, das eine glückliche, Gott verherrlichende Verbindung anstrebt, seine Ehe nach dem Vorbild Christi, dem Gekreuzigten, gestalten. Jesus fand in der Selbstverleugnung Freude (vgl. Hebr 12,2). Auch in der Ehe kann man das erleben.
Verleugne dich selbst
Die Schrift gibt uns immer wieder Einblicke in den Geist Christi. Nachdem er seinen Tod und die Auferstehung vorhergesagt hatte, wandte er sich an die Jünger und sagte:
„Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach! Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ (Mt 16,24–25)
„Mein Kreuz auf mich nehmen? Im Ernst?“ Das Kreuz war ein Folterinstrument. Es stand für Tod, Leiden und Schande. Und doch spornt Jesus uns an, genau das zu tun: unser Kreuz auf uns nehmen.
„Wir retten unsere Ehen, indem wir uns selbst verleugnen – indem das Glück des Partners genauso wichtig ist wie das eigene.“
Wir retten unsere Ehen, indem wir uns selbst verleugnen – indem das Glück des Partners genauso wichtig ist wie das eigene. Wir wenden das Prinzip des Kreuzes an. Das tun wir mit der Überzeugung, dass Glück durch geduldigen Gehorsam Gott gegenüber größer ist als unmittelbar erfahrenes Glück.
„Unter euch aber soll es nicht so sein; sondern wer unter euch groß werden will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, gleichwie der Sohn des Menschen nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.“ (Mt 20,26–28)
Glückliche, fruchtbare Eheleute denken nicht in erster Linie an ihre Rechte. Sie denken vom Geist Christi her. Jesus ist seinen Rechten gestorben, um uns unsere Rechte vor Gott zu geben. Ehemänner und Ehefrauen, die ihm nachfolgen, handeln ebenso.
„Tut nichts aus Selbstsucht oder nichtigem Ehrgeiz, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ (Phil 2,3)
Der wichtigste „Andere“ in deinem Leben ist dein Ehepartner – die Person, die mit dir im selben Bett schläft, mit dir isst, mit dir anbetet und Kinder mit dir großzieht. Hier wird dieses Prinzip ganz praktisch.
Die Früchte der Lüge
Die Folgen werden mit zunehmender Ausbreitung dieser Lüge schmerzhaft sichtbar. Selbstaufgabe ist ein unverzichtbarer Teil des Klebers, der das eheliche Band zusammenhält. Ohne die Bereitschaft zur Selbstverleugnung sind die Menschen nicht mehr bereit zu heiraten oder sie bleiben nicht verheiratet. Noch 1970 waren über 70 % der über 18-jährigen Amerikaner verheiratet. Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte liegt der Wert nun unter 50 und sinkt weiter.
„Selbstaufgabe ist ein unverzichtbarer Teil des Klebers, der das eheliche Band zusammenhält.“
„Die Ehe verändert sich nicht“, sagt der Soziologe Mark Regnerus, „sie verschwindet. In einer Zeit wachsender Optionen, Technologien, Geschlechtergleichheit, ‚billigem‘ Sex und Säkularisierung wollen immer weniger Menschen – die aktiven Christen eingeschlossen – das, wofür die Ehe steht. Das ist die Quintessenz.“
Der Zusammenbruch der Ehe bedeutet auch einen Zusammenbruch der Geburtenrate. Wir bekommen nicht genug Kinder, um uns zu ersetzen. Ohne Immigranten würde die Bevölkerung in Nordamerika schrumpfen. Gott sei Dank liegt die Kinderrate in der evangelikalen Kirche über dem nationalen Durchschnitt.
Die Lüge entkräften
Was können wir tun, um die Lüge zurückzuweisen? Wir können mit der Annahme starten, dass wir es nicht verdienen, glücklich zu sein. Wie bereits gesagt, zeigt uns das Kreuz, was genau wir verdient haben: den Tod. Das ist das Entscheidende. Egal wie schlecht es um unsere Ehebeziehung steht, wir haben es immer noch besser, als wir es verdient hätten. Diejenigen, die das glauben, können Gott andauernd für seine Freundlichkeit danken – und zwar trotz ihrer Eheprobleme.
Wir können diese Lüge auch zurückweisen, indem wir glauben, dass heilige Menschen glückliche Menschen sind. Die Ehe ist eins von Gottes besten Werkzeugen, damit wir persönlich in der Heiligung wachsen. „Heilig zu sein, so wie ER heilig ist“, bemerkt Bruce Milne, „ist die Garantie für wahre und nie endende Freude. Heilig sein bedeutet glücklich sein … es gibt keine Freude wie die Heiligkeit“ (The Message of Heaven and Hell, S. 52).
Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, mir die Ehe wie ein geistliches Fitnessstudio vorzustellen, in dem ich meine persönliche Heiligkeit stärke. Die Ehe trainiert den Muskel der Vergebung. Sie stärkt die Bereitschaft, die Feinde zu lieben. Sie erweitert die Fähigkeit, demütig zu sein und Kritik anzunehmen. Und die Ehe lehrt die entscheidenden Worte: „Es tut mir leid. Kannst du mir bitte vergeben?“
Im ehelichen Fitnessstudio trainiere ich auch den wichtigen Muskel des Durchhaltens. Die meisten Ehen stehen irgendwann an dem Punkt, an dem das Paar aufgeben und einen Schlussstrich ziehen möchte. Wenn die beiden aber durchhalten, geben sie später fast immer später zu, dass dies ein Fehler gewesen wäre. In einer Studie von Focus on the Family wurde festgestellt, dass Paare, die eine Phase, in der sie sich gerne getrennt hätten, durchgestanden haben, ihre Ehe nach fünf Jahren als glücklich bezeichneten. Durchzuhalten, wenn es hart wird, erfordert Selbstverleugnung, aber es löst viele kleinere Probleme.
Zwei Sklaven werden eins
Ambrose Bierce, der Autor von Kurzgeschichten aus dem 19. Jahrhundert, war kein Christ, fasste die Ehe aber treffend zusammen: „Die Ehe ist eine Gemeinschaft bestehend aus einem Herrn, einer Herrin und zwei Sklaven, die zusammengenommen eine Person sind.“ Meine weise Ehefrau drückt es so aus: „Jede fruchtbare, glückliche Ehe beginnt mit zwei Beerdigungen.“
Das ist auch die Sichtweise Gottes. So lebte es auch mein Onkel Gary. Lehne die Lüge ab, dass unmittelbares Glück das Ziel sei. Ja, Gott möchte, dass wir glücklich sind, aber die tiefe, anhaltende Freude bekommen nur die, die sich selbst verleugnen und ihr Kreuz täglich auf sich nehmen. Sie dienen selbstlos, schätzen ihren Partner höher als sich selbst, halten in Eheproblemen durch, praktizieren Vergebung und wachsen in Demut. Das sind die Ehen, deren Freude langfristig größer wird und die dadurch Gott die Ehre geben.