Drei Einwände gegen die Lehre der Erwählung

Artikel von Timothy Keller
20. Oktober 2015 — 7 Min Lesedauer

Die Lehre der Erwählung, die besagt, dass diejenigen zu Gott kommen, die er auch erwählt hat, ist eigentlich leicht zu verstehen und wird von Gottes Wort unmissverständlich gelehrt. Aber es ist auch eine Lehre, die nicht leicht zu akzeptieren ist. Sie hat vielen Christen in den vergangenen Jahrhunderten Kopfzerbrechen bereitet und tut es auch heute noch.

Dies sind die drei Fragen, die meistens aufkommen, wenn man sich mit der Lehre der Erwählung beschäftigt:

1. Glaubt man der Lehre der Erwählung, bedeutet das doch aus, dass Gott sich entschieden hat, nicht alle Menschen zu retten, oder?

Das stimmt. Aber das glauben auch diejenigen, die die Lehre der Erwählung ablehnen. Die Lehre der Erwählung kreiert nicht das Problem. Vielmehr führt sie uns dazu, darüber nachzudenken. Die Lehre der Erwählung abzulehnen, hilft uns nicht, dieses Problem zu lösen. Alle Christen haben dieses Problem. Nehmen wir die Lehre der Erwählung nicht an, haben wir folgendes Dilemma:

  1. Gott möchte jeden retten.
  2. Gott könnte jeden retten.
  3. Gott rettet aber nicht jeden.

Die Frage, die bleibt, ist: Warum nicht? Das bleibt ein Geheimnis, auch wenn wir die Lehre der Erwählung ablehnen.

Jemand sagt vielleicht: „Aber ich glaube, dass Gott nicht will, dass wir verloren gehen. Wenn jemand verloren geht, dann, weil er falsch gewählt hat und weil Gott unsere freie Entscheidung nicht verletzen will.“ Aber warum sollte die Freiheit der Entscheidung so „heilig“ sein? Ich versuche auch, die freie Entscheidung meiner Kinder zu wahren, aber nicht, wenn ich sehe, dass sie dadurch in ihren sicheren Tod gehen! Warum sollte Gott nicht für einen Moment in unsere Willensfreiheit eingreifen dürfen, um uns so für alle Ewigkeit zu retten?

„Abgesehen davon, ob du glaubst, dass wir durch die eigene oder durch Gottes Wahl gerettet werden, steht immer noch dieselbe Frage im Raum.“
 

Abgesehen davon, ob du glaubst, dass wir durch die eigene oder durch Gottes Wahl gerettet werden, steht immer noch dieselbe Frage im Raum: Warum sollte Gott uns nicht alle retten, wenn er doch die Macht und das Verlangen dazu hat? Das ist wirklich eine schwierige Frage, aber sie kann nicht gegen die Lehre der Erwählung gebraucht werden.

Wir können noch weitergehen. Nehmen wir einmal an, die Lehre der Erwählung sei nicht wahr. Nehmen wir einmal an, Gott habe sich die Erlösung vor aller Zeit folgendermaßen gedacht: Jede Person wird die gleiche Fähigkeit haben, Christus, der gestorben, auferstanden und durch das Evangelium verkündigt wird, anzunehmen oder abzulehnen. In dem Moment, in dem Gott den Erlösungsweg festsetzt, wird er sofort auch wissen, welche Personen gerettet werden und welche nicht. Gott würde also in diesem Moment de facto einige erwählen und andere nicht. Wir würden also dasselbe Ergebnis erhalten. Gott könnte alle retten, tut es aber nicht.

Warum rettet Gott nicht alle Menschen? Wir wissen zumindest zwei Dinge. (1) Es muss etwas mit seinem Wesen zu tun haben. Er ist vollkommen liebevoll und gerecht zugleich. Nichts von beidem dominiert das andere, sonst wäre er nicht mehr Gott. Es muss also etwas mit seiner Treue gegenüber sich selbst zu tun haben. (2) Wir sehen nicht das ganze Bild. Wenn wir eine Erlösung erfinden könnten, die von mehr Gnade gekennzeichnet ist als die, die Gott vollbracht hat, hätten wir Gottes Erlösung nicht richtig verstanden, denn er ist barmherziger als wir jemals verstehen werden. Ich bin mir sicher: Wenn wir eines Tages den ganzen Plan vor Augen haben, werden wir nicht einen Fehler darin finden.

2. Aber warum beten, evangelisieren und tun wir überhaupt etwas, wenn scheinbar alles festgelegt ist?

Diese Frage ist etwas kurzsichtig. Wenn nicht alles von einem heiligen und liebevollen Gott geplant und geführt wäre, sollten wir jeden Morgen Angst haben, aus dem Bett zu steigen. Unsere Handlungen könnten schreckliche Konsequenzen haben. Alles wäre von uns abhängig! Wenn nicht alles von einem heiligen und liebenden Gott geplant wäre, würde eine ungemein große Bürde auf uns lasten, wenn wir evangelisieren. Wir müssten damit rechnen, dass unsere falsche Artikulation der Wahrheit dazu führen könnte, dass eine Person ihre einzige Chance zur Errettung verpasst. Es wären furchtbare Aussichten.

Wir evangelisieren und beten, weil wir das Privileg genießen dürfen, an Gottes Werk teilzuhaben. Ein Vater ist natürlich in der Lage, das Holz zu besorgen und das Feuer zu entfachen, aber er versucht trotzdem, seinen Kindern eben dies beizubringen. Und auch wenn die Kinder meinen, sie müssten doch nichts tun, weil der Vater sich ja schon darum kümmern werde, würde der Vater mit Sicherheit sagen: „Natürlich schaffe ich das auch alleine, aber ich möchte, dass ihr mit mir zusammen arbeitet.“ Das Privileg, gemeinsam mit unserem himmlischen Vater zu arbeiten, ist ein großer Ansporn. Er will mit uns und für uns sein Werk tun.

„Wir evangelisieren und beten, weil wir das Privileg genießen dürfen, an Gottes Werk teilzuhaben.“
 

Außerdem sollten wir niemals Gottes Wege vorwegnehmen. Niemals dürfen wir bestimmen, wer erwählt ist und wer nicht! Gott ruft alle zur Buße auf und das sollten auch wir tun. Tatsächlich sollte uns die Lehre der Erwählung noch mehr Hoffnung geben, um mit Menschen zu arbeiten. Warum? Weil niemand ein hoffnungsloser Fall ist! Aus menschlicher Sicht sehen viele Menschen total verhärtet und verloren aus, aber weil die Errettung bei Gottes Erwählung beginnt, sollten wir jedem mit Hoffnung das Evangelium weitergeben, weil Gott die Toten durch unseren Dienst ins Leben ruft.

Deshalb ist Gottes Souveränität eine Motivation, um zu evangelisieren. In Apg 18 befindet sich Paulus in Korinth und das Evangelium ist von den Juden abgelehnt worden. Wie ermutigt Gott Paulus, weiterhin zu predigen und nicht zu schweigen? „Denn ich bin mit dir, und niemand soll dich angreifen, dir Böses zu tun; denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt“ (Apg 18,10). Gott tröstet Paulus also, indem er ihn auf seine Bewahrung, seine Gegenwart und seine Erwählung hinweist. Und Paulus reagiert, indem er noch ein Jahr und sechs Monate weiterhin das Evangelium verkündigt. Was bedeutet das für uns? Die nächste Person, für die du betest oder der du das Evangelium erklärst, könnte von Gott erwählt sein. Und du könntest ein Teil des Weges sein, wie Gott sich entschlossen hat, diese Person zu erretten.

3. Ich glaube der Bibel und sehe auch, dass sie über die Erwählung spricht. Warum kann ich mich nicht mit dieser Lehre anfreunden?

Ich glaube, dass das Evangelium so übernatürlich ist, dass darin immer Dinge enthalten sind, die wir durch Vernunft nicht begreifen können. Die Lehre der Rechtfertigung ist ein Weg, auf die Erlösung zu schauen. Hier kommen Gesetz und Liebe auf eine Art zusammen, die niemand sich hätte ausdenken können. Wir werden getrennt vom Gesetz gerettet, sodass wir jetzt das Gesetz erfüllen können. Alle anderen Philosophien sind entweder gesetzlich oder gesetzlos. Die Lehre der Erwählung lässt uns die Errettung von der anderen Seite betrachten. Hier treffen sich die Souveränität Gottes und die Verantwortung des Menschen. Und auch hier sehen wir, dass menschliche Philosophien und Kulturen beides nicht zusammenbringen können.

„Ich glaube, dass das Evangelium so über-natürlich ist, dass darin immer Dinge enthalten sind, die wir durch Vernunft nicht begreifen können.“
 

Wer du auch bist, du kommst aus einer Kultur, die dein Denken (unbewusst) einseitig ausrichtet, sodass du ein falsches Verständnis von der Erwählung bekommst. Östliche Philosophien und Religionen sind schon immer eher fatalistisch geprägt gewesen. Hier herrscht die Überzeugung, individuelle Autonomie sei eine Illusion. Menschen aus diesem Kontext sehen im Evangelium nur „Individualismus“. Auf der anderen Seite glaubt der westliche Säkularismus an das Recht und die Fähigkeit des Individuums, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Menschen mit diesem Hintergrund werden das Evangelium als „Fatalismus“ verstehen.

Es kommt nicht darauf an, von welcher „Seite“ oder Kultur wir kommen. Wir müssen den Versuch starten, das Gleichgewicht von Rechtfertigung und freier Erwählung im Evangelium festzuhalten. Wir müssen uns der Denkvoraussetzungen und Vorurteile bewusst sein, mit denen wir an die Schrift herantreten und lernen, diese zu überdenken.