Pfingsten
Der Tag, an dem die neue Schöpfung anbrach
Heilsgeschichte ist im Grunde die Geschichte davon, wie Gott nach dem Sündenfall die „heile Welt“ vom Garten Eden Schritt für Schritt wiederherstellt. Wir können uns gut vorstellen, inwiefern Weihnachten, der Karfreitag und der Ostersonntag heilsgeschichtliche Meilensteine sind. Doch welche Rolle spielt Pfingsten in dieser Geschichte? Dieser Frage wollen wir in diesem Artikel nachgehen.
Sehnsucht nach dem Himmel?
Vor einigen Jahren reiste ich mit einem christlichen Chor aus den USA durch Europa. Ein Teil seines Repertoires waren amerikanische Hymnen und Spirituals. Viele jener Liedtexte bringen eine tiefe Sehnsucht nach dem Himmel zum Ausdruck:
- „An stürmischen Ufern des Jordans ich steh, und werf’ sehnsüchtigst Blicke nach Kanaan, dem schön' und glücklich'n Land.“
- „Ich höre schon die ew’gen Harfen.“
- „Wenn wir dann zehntausend Jahre dort gewesen sind ...“[1]
Diese Worte – teilweise von Sklaven geschrieben – drücken die tiefe Sehnsucht der Menschen des 19. Jahrhunderts aus, dass die neue Schöpfung und die Ewigkeit im Himmel doch bald anbrechen mögen.
Doch nicht so fortgeschritten?
Unsere Verhältnisse im hoch technisierten 21. Jahrhundert sind nicht dieselben wie jene zur Zeit der Industrialisierung oder gar der Sklaverei. Doch trotz allen Fortschritts leben wir nach wie vor – während einer Pandemie vielleicht umso eindrücklicher – in einer Welt, die von Tod und Krankheit gezeichnet ist. Trotz allen Wohlstands ist das Leben gezeichnet von Unzufriedenheit und der Tatsache, dass der Mensch nie genug kriegen kann. Wir haben nie so viel Erfüllung, nie so viele Erkenntnisse und Einblicke, nie so viele Errungenschaften, nie so viele Erlebnisse, nie so viele Fähigkeiten und Kompetenzen, wie wir uns wünschen. Ja, das Böse und die Verdorbenheit des Menschen begegnen uns überall. Selbst im „zivilisierten“ 21. Jahrhundert sehen wir uns mit Kriegen und furchtbaren Unmenschlichkeiten konfrontiert. Gier, Eifersucht, Hass, Lieblosigkeit, Lüge und Betrug umgeben uns. Sie machen – wenn wir einmal ehrlich sind – nicht einmal vor unseren eigenen Herzen halt. Verspüren wir nicht auch die Sehnsucht nach dem „Klang der ew’gen Harfen“? Oh, dass wir doch schon „im schönen und glücklichen Land“ wären!
Sehnst du dich nicht auch nach dem Himmel? Fühlst du den zerbrochenen Zustand der Welt, in der du lebst? Auch der Prediger erkannte die „Schönheitsfehler“ der gefallenen Welt und schloss: „O Nichtigkeit der Nichtigkeiten!, spricht der Prediger. O Nichtigkeit der Nichtigkeiten! Alles ist nichtig!“ (Pred 1,2). Das Predigerbuch beschreibt die Makel von Tod, Verfall und den Beschränkungen in allen Bereichen des Lebens, sowie dem Bösen und der Verdorbenheit, die ihre dunklen Schatten auf das gesamte menschliche Leben werfen.
Warum und wozu all diese Schönheitsfehler?
Die Bibel macht kein Geheimnis aus dem Grund für diesen dunklen Schatten, der auf der Welt liegt: Es ist der Sündenfall! Als Adam und Eva von dem Baum aßen, sündigten sie gegen Gott. Zur Strafe legte Gott einen Fluch auf die Welt, unter dem der Mensch fortan leben würde. Dieser Fluch ist der Tod, der Verfall, die Verdorbenheit, die Endlichkeit aller Bereiche unseres Lebens. Wir können nicht alles, was wir gern könnten. Wir wissen nicht alles, was wir gern wüssten. Wir sind nicht so gut und so sündlos, wie wir es gern wären. Wir erleben nicht alles, was wir gern erleben würden. Wir sind nicht so, wie wir gern wären. Gott hat die Unendlichkeit in unsere Herzen gelegt, aber wir leben gefangen in einer endlichen Welt (vgl. Pred. 3,11).
„Es war der Sündenfall, der diesen dunklen Schatten über die Schöpfung geworfen hat. Darum muss jemand diesen Sündenfall wieder rückgängig machen und damit den Tod, den Verfall, die Verdorbenheit und die Endlichkeit überwinden und beheben.“
Und doch sehen wir gerade in diesem gefallenen Zustand unserer Welt, mit all ihren Makeln und Schönheitsfehlern, die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Vor einigen Jahren schrieb ein Freund von mir eine Dissertation über das Buch Prediger und betitelte sie mit „The Mercy of Vanity“ (dt. „Der Segen der Nichtigkeit“). Es sind genau diese „Schönheitsfehler“ und Makel, die uns nach etwas Ausschau halten lassen, das diesen Schleier der Eitelkeit, diesen dunklen Schatten, lüften könnte. Paulus drückt diese von Gott beabsichtigte Sehnsucht im Römerbrief aus:
„Die Schöpfung ist nämlich der Vergänglichkeit unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin, dass auch die Schöpfung selbst befreit werden soll von der Knechtschaft der Sterblichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Röm 8,20–21)
Es war der Sündenfall, der diesen dunklen Schatten über die Schöpfung geworfen hat. Darum muss jemand diesen Sündenfall wieder rückgängig machen und damit den Tod, den Verfall, die Verdorbenheit und die Endlichkeit überwinden und beheben.
Wer biegt alles wieder gerade?
Aber wer oder was kann diesen Fluch je beseitigen? Das ist doch die entscheidende Frage! Genau das macht das Christsein so einzigartig: Wir sind davon überzeugt, dass Jesus Christus derjenige ist, der sowohl die Sünde als auch den Tod besiegte und somit ein für alle Mal den Fluch gebrochen hat. Er kam in diese Welt, lebte ein vollkommenes Leben, starb, um für unsere Sünden zu bezahlen, und besiegte dadurch ein für alle Mal den Tod. Er verspricht allen, die an seinem Erlösungswerk teilhaben, die Vergebung der Sünden und damit den Sieg über Tod, Verfall, Verdorbenheit und alle Endlichkeit.
Wir reden häufig davon, dass wir in den „Himmel“ kommen, aber eigentlich steuern wir auf eine neue Welt zu: auf die Wiederherstellung der Schöpfung, wie Gott sie ursprünglich geschaffen und sich erdacht hat. Wir leben auf einen neuen Himmel und eine neue Erde hin, in welcher der Tod, der Verfall, alle Verdorbenheit und jegliche Form der Endlichkeit ein für alle Mal behoben und besiegt sein werden (vgl. Offb 21,1–5a). Es ist Jesus Christus, der durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung den Weg zu dieser neuen Welt und die Erneuerung aller Dinge gebahnt hat. Eines Tages werden der Tod, alle Krankheit, alle Unzufriedenheit, jegliche Orientierungslosigkeit, aller Mangel an Wissen oder Kompetenz, alle Verdorbenheit um uns herum und in uns beseitigt sein.
Wer kann bieten, was Jesus bietet?
Tief im Inneren verspürt jeder Mensch die Sehnsucht nach dieser Erneuerung. Wir sehnen uns danach, dass der Fluch, der einen dunklen Schatten auf diese Welt wirft, ein für alle Mal aufgehoben wird. Aber keine Religion, keine Philosophie, keine Weltanschauung und kein politisches System kann bieten, was Jesus Christus uns zu schenken vermag. Christus und das Christsein bieten eine einzigartige Antwort auf diese Sehnsucht der Menschen.
„Keine Religion, keine Philosophie, keine Weltanschauung und kein politisches System kann bieten, was Jesus Christus uns zu schenken vermag. Christus und das Christsein bieten eine einzigartige Antwort auf diese Sehnsucht der Menschen.“
Diese Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde ist zentral für den christlichen Glauben und die Botschaft der Bibel. Johannes beschreibt sie in Offenbarung 21:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, … Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offb 21,1.4)
Auch Petrus schreibt von der Hoffnung auf jene neue Welt:
„Es wird aber der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb in der Nacht; dann werden die Himmel mit Krachen vergehen, die Elemente aber vor Hitze sich auflösen und die Erde und die Werke darauf verbrennen. … Wir erwarten aber nach seiner Verheißung neue Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ (2Petr 3,10.13)
Der Ursprung der Hoffnung, von der Johannes und Petrus sprechen, ist die Verheißung Gottes durch den Propheten Jesaja: „Siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, so daß man an die früheren nicht mehr gedenkt und sie nicht mehr in den Sinn kommen werden“ (Jes 65,17; vgl. Jes 65,17–25).
In Zukunft oder schon jetzt?
Das NT macht deutlich, dass Jesus Christus diese neue Schöpfung einst herbeiführen wird. Aber insbesondere Paulus spricht auch davon, dass die Verheißung einer neuen Schöpfung schon angefangen hat sich zu erfüllen. Die neue Schöpfung wurde bereits feierlich eröffnet. So sagt Paulus z.B. in 2. Korinther 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!“ Noch ausführlicher und klarer spricht er den Anbruch und Vorgeschmack auf die vollständige Erneuerung der Schöpfung in Römer 8 an. Dort beschreibt er die Hoffnung der neuen Schöpfung, die noch vor uns liegt, als die „Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21) und die „Sohnesstellung, die Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,23b).
Sein Verweis auf die zukünftige Neuschöpfung steht mitten in der Schilderung jener Sehnsucht, welche die gesamte Schöpfung verspürt, dass doch endlich die neue Schöpfung anbricht:
„Denn die gespannte Erwartung der Schöpfung sehnt die Offenbarung der Söhne Gottes herbei. Die Schöpfung ist nämlich der Vergänglichkeit unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin, daß auch die Schöpfung selbst befreit werden soll von der Knechtschaft der Sterblichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Röm 8,19–21)
Dann geht Paulus noch einen Schritt weiter und bezeichnet uns Christen als diejenigen, die bereits durch den Heiligen Geist „die Erstlingsgabe“ – also einen Vorgeschmack – dieser neuen Schöpfung erhalten haben. Paulus sagt, in uns Christen ist diese neue Schöpfung bereits durch den Heiligen Geist angebrochen. Wie die ersten Ehren der Weizenernte auf eine gute Ernte hoffen lassen, sind wir Christen für den Rest der Schöpfung ein „Vorgeschmack“ auf die neue Schöpfung:
„Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung mitseufzt und mit in Wehen liegt bis jetzt; und nicht nur sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir erwarten seufzend die Sohnesstellung, die Erlösung unseres Leibes.“ (Röm 8,22–23; kursiv hinzugefügt)
Wer staunt über wen?
Anfangs erwähnte ich den christlichen Chor aus den USA, mit dem ich auf Europa-Tournee ging. Unter anderem hielten wir auch in einigen Gemeinden in der Schweiz Konzerte ab. Welcher Amerikaner ist nicht begeistert von der Schweiz mit den Alpen, ihrer Geschichte, der Natur und Nostalgie und den Kühen auf der Alm? Ich erinnere mich noch, wie wir mit drei Kleinbussen durch die Alpen fuhren. Jedes Mal, wenn wir an einer Alm mit den Kühen und ihren Glocken um den Hals vorbeisausten, zückte ein Großteil meiner Mitreisenden gleich die Kameras: „Wow, wie cool!“, „Unglaublich!“, „Einzigartig!“ Sie waren fasziniert.
Aber laut Paulus’ Beschreibung von Christen als der „Erstlingsgabe“ dessen, worauf die ganze Schöpfung seufzend wartet, hätten es eigentlich die Kühe sein sollen, die einander fasziniert zuriefen: „Hast du das gesehen? Drei Kleinbusse voll mit Menschen, die schon Teil der neuen Schöpfung sind und einen Vorgeschmack von ihr erleben, auf die wir Kühe und der Rest der Schöpfung alle so sehnlichst warten! Wow, wie cool! Unglaublich! Einzigartig!“
Warum also jetzt Pfingsten?
Eingangs stellten wir uns die Frage, welche Rolle Pfingsten in der großen Heilsgeschichte Gottes spielt. Auf diese Frage kommen wir jetzt (endlich) zurück:
- Zu Weihnachten feiern wir Christi Geburt – dass Gottes Licht in diese finstere Welt gekommen ist.
- Am Karfreitag gedenken wir Gottes Antwort und Triumph über die Sünde, die den Fluch in die Welt gebracht hat.
- An Ostern feiern wir, dass Christus den Tod und Verfall, die ihren dunklen Schatten über diese Schöpfung werfen, besiegt hat.
- Zu Christi Himmelfahrt feiern wir, dass Jesus Christus uns einen Platz in der neuen Schöpfung vorbereitet und einst wiederkommen wird, um uns an diesen Platz – die neue Schöpfung – zu bringen.
- Und an Pfingsten feiern und bekennen wir: Jesus Christus hat die neue Schöpfung anbrechen lassen. Er hat sie eingeleitet.
„Jesus Christus hat die neue Schöpfung anbrechen lassen. Er hat sie eingeleitet.“
Gott hat dabei in Gang gebracht, wonach die gesamte Schöpfung sich sehnt. Jesus Christus hat seinen Geist über diese Welt ausgeschüttet und all jene, die Christus angehören, erleben jetzt schon in Christus eine Vorstufe des Auferstehungslebens. Wir leben zwischen zwei Welten: zwischen der alten und der neuen Schöpfung. Tod, Verfall, Begrenztheit, ja selbst Verdorbenheit und Sünde werfen immer noch ihren dunklen Schatten auf unser Leben. Aber in Christus – demjenigen, mit dem uns der Heilige Geist vereint hat – leben wir jetzt schon für Dinge, die den Tod überleben werden. In Christus wird unser innerer Mensch jetzt schon Tag für Tag erneuert. In Christus ist unser Leben unendlich. In Christus können wir jetzt schon die Sklaverei und die Dunkelheit der Sünde und Verdorbenheit überwinden. In Christuserleben wir bereits, wonach sich die gesamte Schöpfung sehnt. Die neue Schöpfung ist bereits in unseren Herzen angebrochen, die vom Heiligen Geist bewohnt werden. Was für ein Privileg! Wie aufregend! Welch eine Berufung! Das ist die Bedeutung von Pfingsten in Gottes großer Heilsgeschichte.
[1] Es handelt sich um den englischen Liedtext „On Jordan's stormy banks I stand, and cast a wishful eye to Canaan's fair and happy land“ aus dem Lied „On Jordan's stormy banks I stand“ von Samuel Stennett, um den Titel des Liedes „Hark, I hear the harps eternal“ und „When we’ve been there ten thousand years“ aus der letzten Strophe von „Amazing Grace“.