Die frühe Kirche: überraschend anders

Artikel von Timothy Keller
3. Juni 2022 — 6 Min Lesedauer

In den ersten drei Jahrhunderten wurden Christen stärker verfolgt als jede andere religiöse Gruppierung. Sie weigerten sich, andere Götter zu verehren oder den Kaiser anzubeten. Man betrachtete sie deshalb als zu abgeschottet, zu eng und als Gefahr für die soziale Ordnung.

„Die christliche Gemeinde stellte ein einzigartiges ‚soziales Projekt‘ dar. Sie war als Gemeinschaft ein Kontrast, eine Gegenkultur, die für viele sowohl provokativ als auch attraktiv war.“
 

Aber wenn Christen als Ärgernis galten, sie aus einflussreichen und geschäftlichen Kreisen ausgeschlossen und oftmals hingerichtet wurden – weshalb wurden Menschen dann eigentlich Christen? Larry Hurtado geht dieser Frage in zwei Büchern nach: Why on Earth Did Anyone Become a Christian in the First Three Centuries? (dt. etwa: Warum in aller Welt wurde jemand in den ersten drei Jahrhunderten Christ?) und Destroyer of the Gods: Early Christian Distinctiveness in the Roman World (dt. etwa: Zerstörer der Götter: Wie sich die frühen Christen von der römischen Welt unterschieden).

Eine Hauptursache, so Hurtado, bestand darin, dass die christliche Gemeinde ein einzigartiges „soziales Projekt“ darstellte. Sie war als Gemeinschaft ein Kontrast, eine Gegenkultur, die für viele sowohl provokativ als auch attraktiv war.

Aber woran lag es, dass die christliche Gemeinschaft so anders war?

Neue Identität

Hurtado zeigt auf, dass die Grundlage dieses ungewöhnlichen sozialen Projekts die einzigartige religiöse Identität der Christen war. Ehe das Christentum aufkam, gab es keine eigenständige „religiöse Identität“. Jemandes Religion war einfach ein Aspekt seiner ethnischen oder nationalen Identität: Wenn du aus dieser Stadt, diesem Stamm oder diesem Volk kommst, verehrst du die Götter dieser Stadt, dieses Stammes oder dieses Volkes. Deine Religion war dir im Grunde vorgegeben.

„Das Christentum eröffnete dem menschlichen Denken zum ersten Mal das Konzept, dass man seine Religion wählt, unabhängig von Volkszugehörigkeit und Klasse.“
 

Das Christentum eröffnete dem menschlichen Denken zum ersten Mal das Konzept, dass man seine Religion wählt, unabhängig von Volkszugehörigkeit und Klasse. Zudem behauptete das Christentum rigoros, dein Glaube an Christus mache nun deine neue und tiefste Identität aus, wenngleich er deine Volkszugehörigkeit, Klasse oder dein Geschlecht weder verwischt noch auslöscht. Deine Beziehung zu Christus verweist sie jedoch in die zweite Reihe. Das bedeutete – zum Entsetzen der römischen Gesellschaft –, dass alle Christen nun in Christus gleich waren (vgl. Gal 3,26–29), seien sie Sklaven, Freie oder Adlige, welcher Herkunft und Nationalität auch immer. Für die etablierte Sozialstruktur und die Standesgrenzen der römischen Gesellschaft war dies eine radikale Herausforderung, und daraus ergaben sich mindestens fünf einzigartige Merkmale.

1. Die frühe Gemeinde war multiethnisch und erlebte über diese Grenzen hinweg eine Einheit, die erstaunte.

Die Leiterschaft der Gemeinde von Antiochia (vgl. Apg 13) ist nur ein Beispiel dafür. Durch die gesamte Apostelgeschichte hindurch sehen wir eine bemerkenswerte Einheit von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Epheser 2 bezeugt, wie wichtig unter Christen die Versöhnung zwischen den Ethnien als Frucht des Evangeliums war.

2. Die frühe Gemeinde war eine von Vergebung und Versöhnung geprägte Gemeinschaft.

Wie bereits erwähnt, wurden Christen oftmals ausgegrenzt und kritisiert, aber sie wurden darüber hinaus auch aktiv verfolgt, inhaftiert, angegriffen und getötet. Dennoch lehrten die Christen Vergebung und verzichteten darauf, an ihren Widersachern Vergeltung zu üben. Für eine Scham-Kultur, in der man Rache erwartete, war das undenkbar. Christen verhöhnten und verspotteten ihre Gegner nicht, und sie vergalten ihnen erst recht nicht mit Gewalt.

3. Die frühe Gemeinde war bekannt für ihre Hilfsbereitschaft gegenüber Armen und Leidenden.

Es wurde zwar erwartet, dass man sich um die Armen der eigenen Familie oder des eigenen Stammes kümmerte, doch die „freizügige“ Fürsorge der Christen für alle Armen war etwas noch nie Dagewesenes. Sie orientierte sich an Jesu Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25–37) und galt auch den Armen anderer Ethnien oder Religionen. Wenn in den Städten Seuchen wüteten, flohen die Christen bezeichnenderweise nicht aus der Stadt. Stattdessen blieben sie und kümmerten sich um die Kranken und Sterbenden jeglicher Herkunft, obwohl sie das selbst oft das Leben kostete.

4. Sie war eine Gemeinschaft, die für die Heiligkeit des Lebens eintrat.

Es war nicht einfach so, dass Christen sich gegen Abtreibung stellten. Abtreibung war damals gefährlich und relativ selten. Die üblichere Praxis war das Aussetzen von Säuglingen. Ungewollte Babys wurden buchstäblich auf die Müllhalde geworfen, wo sie entweder starben oder von Händlern mitgenommen wurden, um sie in die Sklaverei oder Prostitution zu verkaufen. Christen retteten die Säuglinge und nahmen sie auf.

5. Sie war eine sexuelle Gegenkultur.

Von verheirateten Frauen höheren Standes verlangte die römische Kultur Enthaltsamkeit in Bezug auf außerehelichen Sex. Doch von Männern (auch verheirateten Männern) erwartete sie, dass sie Sex mit Menschen hatten, die im sozialen Rang unter ihnen standen – Sklaven, Prostituierten und Kindern. Das war nicht nur erlaubt; man betrachtete es als unerlässlich. Zum Teil lag dies daran, dass Sex in dieser Kultur stets als Ausdruck von sozialem Status verstanden wurde. Man betrachtete Sex hauptsächlich als ein bloß physisches Verlangen, das man nicht unterdrücken kann.

„Gerade weil sich die frühe Kirche nicht an die sie umgebende Kultur anpasste, sondern diese in Liebe herausforderte, hatte das Christentum schließlich eine solche Wirkung auf sie.“
 

Die christlichen Standards für Sexualität waren da natürlich anders. Die Gemeinde untersagte jeglichen Sex außerhalb der heterosexuellen Ehe. Die älteren, scheinbar „freieren“ heidnischen Sexualpraktiken wichen schließlich den strengeren christlichen Normen, weil die „tiefere Logik“ der christlichen Sexualität so anders war. Sie sah Sex nicht nur als Verlangen, sondern als eine Art, sich selbst völlig jemandem hinzugeben und dabei den Gott nachzuahmen, der sich in Christus hingegeben hat, und mit ihm in Verbindung zu stehen. Die christlichen Normen bedeuteten zudem mehr Gleichheit, alle Menschen wurden gleich behandelt und eine auf Geschlecht und sozialem Status beruhende Doppelmoral abgelehnt. Schließlich betrachtete das Christentum sexuelle Selbstbeherrschung als einen Ausdruck der menschlichen Freiheit, als Zeugnis dafür, dass wir nicht nur Spielball unserer Begierden oder des Schicksals sind (vgl. dazu die Rezension zu „From Shame to Sin: The Christian Transformation of Sexual Morality in Late Antiquity“; dt. etwa: Von der Scham zur Sünde: Die christliche Transformation der Sexualmoral in der Spätantike).

Liebende Herausforderung

Gerade weil sich die frühe Kirche nicht an die sie umgebende Kultur anpasste, sondern diese in Liebe herausforderte, hatte das Christentum schließlich eine solche Wirkung auf sie.

Könnte ein derartiges soziales Projekt heute eine ähnliche Wirkung haben?