Sechs Fragen zur Gottesfurcht
Ist Furcht etwas Gutes oder etwas Schlechtes?
„Die Heilige Schrift bezeichnet Furcht häufig eindeutig als etwas Schlechtes, vor dem uns Christus retten will. Der Apostel Johannes schreibt: ‚Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe‘ (1 Joh 4,18).“ (S. 9)
„Einerseits wird uns gesagt, dass Christus uns von der Furcht befreit; andererseits heißt es, dass wir uns fürchten sollen – auch vor Gott. Das kann uns entmutigen und den Wunsch aufkommen lassen, ‚Gottesfurcht‘ möge in der Heiligen Schrift keine so zentrale Bedeutung haben. Wir haben schon genug Ängste. Wir brauchen wirklich nicht noch mehr. Sich vor Gott zu fürchten, fühlt sich so negativ an, dass es mit dem Gott der Liebe und Gnade, dem wir im Evangelium begegnen, anscheinend nicht in Einklang zu bringen ist. Warum sollte ein Gott, der es wert ist, geliebt zu werden, gefürchtet werden wollen?“ (S. 11–12)
„Ich möchte, dass du dich an dem seltsamen Paradoxon erfreust, dass das Evangelium uns einerseits von Furcht befreit und andererseits Furcht in uns bewirkt. Es befreit uns von unseren lähmenden Ängsten und beschenkt uns stattdessen mit einer köstlichen, glücklichen und wunderbaren Furcht. Ich möchte den oft abschreckenden Begriff ‚Gottesfurcht‘ entwirren, um anhand der Bibel zu zeigen, dass dieser keineswegs bedeutet, dass Christen Angst vor Gott haben sollen.“ (S. 12)
Warum ist die Kultur der Angst heute so stark?
„Da die Gesellschaft Gott als das eigentliche Objekt gesunder Furcht verloren hat, wird unsere Kultur zwangsläufig immer neurotischer, immer ängstlicher vor dem Unbekannten – ja, immer ängstlicher vor allem und jedem. Ohne die Fürsorge eines gütigen und väterlichen Gottes bewegen wir uns angesichts der veränderten Moral und Realität wie auf unsicherem Treibsand. Weil wir Gott aus unserer Kultur verdrängt haben, nahmen andere Sorgen – von der eigenen Gesundheit bis zur Gesundheit des Planeten – in unseren Köpfen eine göttliche Vorrangstellung ein. Gute Dinge sind zu grausamen und erbarmungslosen Götzen geworden – und so fühlen wir uns hilfsbedürftig und zerbrechlich. Die Gesellschaft hat ihren sicheren Anker verloren und wird dafür mit freischwebenden Ängsten überflutet.“ (S. 16–17)
Kann Furcht sündhaft sein?
„Diese sündige Furcht vor Gott ist jene Angst, von der Jakobus sagt, dass die Dämonen sie haben, wenn sie glauben und zittern (vgl. Jak 2,19). Es ist die Angst, die Mose den Israeliten am Sinai nehmen wollte. Es ist die Angst, die Adam hatte, als er zum ersten Mal sündigte und sich vor Gott versteckte (vgl. 1 Mose 3,10). Adam war der erste, der diese Angst spürte, und seine Reaktion in diesem Moment zeigt uns ihr Wesen: Sündige Furcht treibt uns weg von Gott. Sie ist die Angst des Ungläubigen, der Gott hasst, im Herzen ein Rebell bleibt, sich davor fürchtet, als Sünder entlarvt zu werden und deshalb von Gott davonläuft.
Es ist die Furcht vor Gott, die im Widerspruch zur Liebe zu Gott steht. Sie ist stattdessen tief in der Sünde verwurzelt. Indem sie sich vor Gott fürchtet, sich ihm widersetzt und sich von ihm zurückzieht, erzeugt diese Angst den Zweifel, der den Unglauben rationalisiert.“ (S. 29–30)
Ist die Furcht vor Gott etwas Düsteres oder Melancholisches?
„Diese rechte Gottesfurcht ist also nicht die traurige, düstere Kehrseite der wahren Freude an Gott. Zwischen dieser Furcht und der Freude besteht kein Spannungsverhältnis. Vielmehr ist die zitternde ‚Furcht des Herrn‘ eine Art, die schiere Intensität der Glückseligkeit der Heiligen in Gott auszudrücken. Mit anderen Worten: Das biblische Thema der Gottesfurcht hilft uns, die Art der Freude zu erkennen, die für Gläubige am angemessensten ist. Unser Verlangen nach Gott und unsere Lust an ihm sollen nicht lauwarm sein. So wie unsere Liebe zu Gott eine zitternde und staunende Liebe ist, so ist unsere Freude an Gott in ihrer reinsten Form eine zitternde und staunende – ja auch furchterregende – Freude. Der Gegenstand unserer Freude ist so überwältigend und so furchtbar und so großartig. Wir sind dazu geschaffen, uns zu freuen und vor Gott zu erzittern, ihn mit einer Intensität zu lieben und zu genießen, die ihm angemessen ist.“ (S. 66)
Wird es in der Hölle Angst geben?
„Die Hölle – das Schicksal aller Ungläubigen – wird ein furchtbarer Ort sein. Der Tod ist ‚der König der Schrecken‘ (Hiob 18,14) und die Hölle wird der Ort des ewigen Todes sein. Sie wird der letzte Sumpf aller sündigen Ängste sein, der von einer gemeinsamen Furcht vor der Heiligkeit durchdrungen ist. Wie die Dämonen glauben und zittern (vgl. Jak 2,19), so werden ihre Bewohner Gott und das enthüllende Licht seiner Herrlichkeit hassen. Vor ihm werden dort ‚alle Herzen verzagen und alle Hände sinken, allen der Mut entfallen und alle Knie weich werden‘ (Hes 21,12). So wie die Könige der Erde zu den Bergen und Felsen rufen werden: ‚Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes!‘ (Offb 6,16), so werden sie sich in der Hölle danach sehnen, sich verstecken zu können. ‚Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen‘ (Hebr 10,31) und alle in der Hölle werden in seine Hände gefallen sein – doch ohne sich jemals ihm zuzuwenden. Sie werden wie die erschrockenen Sünder in Zion sein, die Jesaja hier beschreibt:
‚Zittern hat die Heuchler befallen, und sie sprechen: Wer ist unter uns, der bei verzehrendem Feuer wohnen kann? Wer ist unter uns, der bei ewiger Glut wohnen kann?‘ (Jes 33,14)
Die Sünde hat die Welt erst zu einem Ort voller Angst gemacht. Die Hölle ist ihr Höhepunkt: ein Ort, an dem schreckliche Angst und sündige Furcht auf die Spitze getrieben werden.“ (S. 173–174)
Wird es im Himmel Angst geben?
„Im Jahr 1738 hielt Jonathan Edwards eine Predigtreihe über 1. Korinther 13, die er mit der Feststellung abschloss: ‚Der Himmel ist eine Welt der Liebe.‘[1] Er hätte genauso gut sagen können, dass der Himmel eine Welt der Furcht ist, denn die Liebe, die er beschrieb, ist eine furchterregende Freude und ein ekstatisches Staunen. Die Heiligen dort, so Edwards, werden ‚wie eine Feuerflamme der Liebe‘ sein.[2] Während die Hölle die schreckliche Kloake aller sündigen Ängste darstellt, ist der Himmel das Paradies der uneingeschränkten, maximalen, freudigen kindlichen Furcht.
Schon jetzt ist der Himmel die Heimat dieser glücklichen Furcht. ‚Die Säulen des Himmels zittern‘ (Hiob 26,11). Warum? Weil der Himmel die Wohnung Gottes, ‚der Furcht‘, ist – des Gottes, der gefürchtet wird in der Versammlung der Heiligen, groß und furchtbar über alle, die um ihn sind (vgl. Ps 89,8).
Dort fürchten ihn die ‚Heiligen‘ gerne, denn sie sehen ihn so klar, wie er ist. Sie erzittern vor ihm als dem Schöpfer:
‚Du herrschest über das ungestüme Meer, du stillest seine Wellen, wenn sie sich erheben. Du hast Rahab zu Tode geschlagen und deine Feinde zerstreut mit deinem starken Arm. Himmel und Erde sind dein, du hast gegründet den Erdkreis und was darinnen ist.‘ (Ps 89,10–12)“
(S. 174–175)
Obige Antworten sind Zitate aus Gottesfurcht: Eine überraschend gute Nachricht von Michael Reeves.
[1] Iain H. Murray, *Jonathan Edwards: Ein Lehrer der Gnade und die große Erweckung*, Bielefeld: CLV, 2011, S. 90.
[2] Ebd., S. 333.