The Making of Biblical Womanhood

Rezension von Kevin DeYoung
5. Mai 2022 — 38 Min Lesedauer

„Das Patriarchat mag zur Geschichte des Christentums gehören, aber das macht es nicht christlich. Es zeigt uns lediglich die historischen (und sehr menschlichen) Wurzeln des biblischen Frauenbildes.“[1] Das ist – in zwei Sätzen zusammengefasst – die Hauptthese von Beth Allison Barrs erfolgreichem Buch The Making of Biblical Womanhood: How the Subjugation of Women Became Gospel Truth (dt. etwa: Die Entstehung des biblischen Frauenbilds: Wie die Unterjochung der Frauen zu einer Wahrheit des Evangeliums wurde).

Die Idee des „biblischen Frauenbilds“ ist nichts anderes als ein christliches Patriarchat, und es gedeiht aus dem einen Grund weiter, weil Frauen und Männer es weiterhin blind befürworten (S. 216). Laut Barr hat das System des christlichen Patriarchats schon viel zu lange „die Macht in die Hände der Männer gelegt und Macht aus den Händen der Frauen weggenommen“. Es lehrte „Männer, dass Frauen eine niedrigere Stellung als sie haben“. Es lehrte „Frauen, dass ihre Stimmen weniger wert sind als die Stimmen der Männer“ (S. 18). Im Kern ist das christliche Patriarchat nichts anderes als das heidnische Patriarchat. Beides ist in der Welt allgegenwärtig. Beides gibt es schon seit langer Zeit. Und es ist an der Zeit, dass beides aufhört.

Obwohl es sich bei The Making of Biblical Womanhood in vieler Hinsicht um ein Fachbuch mit Hunderten von Endnoten und vielen wissenschaftlichen Zitaten handelt, ist es alles andere als ein trockenes, sachliches Werk. Vom ersten Satz der Einleitung an („Ich wollte nie eine Aktivistin werden“) bis zu den zahlreichen Nennungen in den Danksagungen an jene, die „an dieses Projekt geglaubt haben“, „zu mir standen“, „für mich kämpften“ und „mir den Mut schenkten, den ich brauchte, um couragierter zu sein, als ich mir je zugetraut hätte“, tritt dieses Werk energisch für seine Sache ein (S. viii–x). Barr plädiert nicht einfach nur für eine theologische oder historische Interpretation. Es geht um viel mehr als das. Sie „kämpft für eine bessere christliche Welt“ (S. x). Sie kämpft dafür, dass evangelikale Christen endlich frei sein können (S. 218).

1. Eine historische Untersuchung

The Making of Biblical Womanhood vereint mehrere unterschiedliche Literaturgattungen. Zum Teil handelt es sich um eine persönliche Geschichte, bei der Barrs eigene, schmerzliche Erfahrungen mit dem Patriarchat (wie sie es sieht) im Hintergrund (und im Vordergrund) eine große Rolle spielen. In das Buch eingeflochten ist die Geschichte von Barrs Ehemann, der als Jugendpastor entlassen wurde, weil er die Gemeindeleitung in Bezug auf die Rolle von Frauen in der Gemeinde hinterfragte. Wir erfahren außerdem von respektlosen männlichen Studenten in ihren Vorlesungen und von einer verstörenden Beziehung zu einem Freund, mit dem sie vor Jahren zusammen war. Barr räumt ein, dass die Erfahrung mit diesem Freund, gemeinsam mit der Erfahrung des Jobverlusts ihres Mannes, „mein heutiges Denken über Komplementarismus prägt“. Diese „traumatischen Erfahrungen“ bedeuten, dass sie „von Narben gezeichnet“ ist und „die Narben immer tragen wird“ (S. 204). Jene, die mit Barrs Perspektive sympathisieren, werden sich vermutlich durch die persönliche Geschichte bestätigt sehen und sie als einen weiteren Grund betrachten, das Patriarchat ein für alle Mal abzuschaffen. Andere fragen sich möglicherweise, ob es bei diesen Geschichten auch noch eine zweite Seite gibt (vgl. Spr 18,17), und – noch wichtiger – ob die Narben der Autorin womöglich ein Hindernis sind, um dem Komplementarismus fair zuzuhören.

Das Buch enthält außerdem Elemente der typischen egalitären Apologetik. Als exegetisches Werk betrachtet, ist in The Making of Biblical Womanhood wenig zu finden, was nicht in den letzten 40 Jahren schon viele Male gesagt worden wäre. Für den, der mit den Argumenten des Egalitarismus vertraut ist, werden die zentralen exegetischen Feststellungen keine Überraschung sein: Die Anweisungen des Paulus sind kulturell bedingt; Ehemänner und -frauen ordnen sich gegenseitig einander unter; Phöbe war Diakonin; Junia war Apostelin; Maria Magdalena predigte das Evangelium; Galater 3,28 hebt die geschlechterbasierte Hierarchie auf. Ich werde Barrs Argumente hier nicht wiederholen und ich beabsichtige auch nicht, Punkt für Punkt darauf zu antworten. Wer die gleichen Themen aus einem anderen Blickwinkel betrachten möchte, sei auf mein neues Buch Men and Women in the Church (dt. Männer und Frauen in der Gemeinde) verwiesen, das einen gründlichen Überblick über die komplementären Überzeugungen und Folgerungen bietet (hier findet man eine Rezension des Buches; d. Ü.).[2]

Was Barrs Werk einzigartig macht, ist, dass sie als Mittelalter-Historikerin schreibt. Es ist diese neue Perspektive, die so viele enthusiastische (wenn auch teils klischeehafte) Kommentare auslöste: „Leser sollten darauf gefasst sein, dass ihre Welt verändert wird“ (Tisby); „ein absoluter Gamechanger“ (Du Mez); „dieses Buch ist ein Gamechanger“ (Fea); „überzeugend und bewegend“ (Jenkins); „Ich habe mein gesamtes Erwachsenenleben auf ein solches Buch gewartet“ (Merritt); „ein brillantes, donnerndes Narrativ“ (McKnight). Mit einem Doktortitel der renommierten University of North Carolina at Chapel Hill und ihrer jetzigen Tätigkeit als außerordentliche Professorin für Geschichte und als stellvertretende Dekanin der Baylor University hat Barr einen beeindruckenden akademischen Werdegang vorzuweisen. Niemand kann bezweifeln, dass Barr als kompetente Historikerin schreibt – ein Umstand, an den sie den Leser häufig erinnert:

  • „Als Historikerin …“ (S. 6)
  • „Hören Sie nicht nur auf meine Erfahrungen, sondern auch auf die Indizien, die ich als Historikerin vorlege“ (S. 9)
  • „Schon seit meinen Anfangsjahren im Studium als Historikerin …“ (S. 12)
  • „Da war ich nun, eine Professorin mit einem Doktortitel von einer bedeutenden Forschungsuniversität …“ (S. 56)
  • „Da ich Historikerin bin …“ (S. 56)
  • „Daher, als Historikerin …“ (S. 60)
  • „Stattdessen lehrte ich das Narrativ, das ich als Historikerin in meinem Studium gelernt hatte …“ (S. 107)
  • „Meine Ausbildung als Historikerin …“ (S. 107)
  • „Mein an mittelalterliche Geschichte gewöhnter Blick …“ (S. 125)
  • „Aber als Historikerin …“ (S. 127)
  • „Als Mittelalter-Historikerin, die auf englische Predigten spezialisiert ist …“ (S. 132)
  • „Doch als Mittelalter-Historikerin …“ (S. 133)
  • „Ich möchte Ihnen verraten, was ich als Historikerin weiß …“ (S. 133)
  • „Als Historikerin, die die Manuskript-Überlieferung untersucht …“ (S. 143)
  • „Für meine an Frauengeschichte gewöhnten Ohren …“ (S. 171)
  • „Als Mittelalter-Historikerin …“ (S. 183)
  • „Als Kirchengeschichtlerin …“ (S. 194)
  • „Zumindest für mein Denken als Historikerin …“ (S. 197)
  • „Ich bin Historikerin …“ (S. 205)

Nach dieser unablässigen Betonung, dass sie „als Historikerin“ schreibt, tun wir wohl gut daran, The Making of Biblical Womanhood vor allem als ein Werk der Geschichtswissenschaft zu beurteilen.

In diesem Sinne möchte ich zwei Fragen aufwerfen, die beide auf deutliche Schwächen in Barrs Argumentation hinweisen. Zum einen: Geht Barr – als Historikerin – fair und korrekt mit den Befürwortern des „biblischen Frauenbilds“ um? Zum anderen: Geht Barr – als Historikerin – fair und korrekt mit den historischen Belegen um, die sie gegen das „biblische Frauenbild“ anführt?

2. Fairer Umgang mit unseren Gegnern

Eine der Schwierigkeiten bei der Untersuchung von Barrs Argumenten gegen das „biblische Frauenbild“ besteht darin, dass sie nirgendwo eine Definition gibt, was genau sie mit dieser abwertenden Bezeichnung meint. Und sie verrät ebenso wenig, wie sie festgelegt hat, wer als repräsentativer Vertreter dieses von ihr abgelehnten Konzepts zu werten ist. Am nächsten kommt sie einer Definition des biblischen Frauenbilds als sie feststellt, sie habe in ihrer Kindheit gelernt, dass „Frauen zu zweitrangigen Rollen in Gemeinde und Familie berufen sind, wobei der Schwerpunkt auf Ehe und Kindern liegt“ (S. 1). In diesem Sinne definiert sie Komplementarismus als „die theologische Ansicht, dass Frauen von Gott als Gehilfinnen geschaffen wurden und Männer von Gott als Leiter geschaffen wurden“ (S. 5). Das Problem mit diesen beiden Definitionen besteht darin, dass sie nicht aus dem Lager derer kommen, die das „biblische Frauenbild“ oder den Komplementarismus vertreten. Das ist nicht automatisch ein Problem. Es ist möglich, große, breitgefächerte Bewegungen mit eigenen Worten zusammenzufassen. Aber bei einem ganzen Buch gegen das „biblische Frauenbild“ würde man eine substanzielle und differenzierte Analyse der theologischen, exegetischen und kulturellen Vision erwarten, die in dem Buch dargelegt ist, das ebenfalls „Biblical Womanhood“ im Titel trägt, nämlich Recovering Biblical Manhood and Womanhood (dt. Ausgabe: Die Rolle von Mann und Frau in der Bibel: Zweimal einmalig – eine biblische Studie).[3] Man hätte gehofft, dass das Danvers-Statement sorgfältig betrachtet oder dass die „Mission & Vision“ des Council on Biblical Manhood and Womanhood (CBMW) untersucht wird. Stattdessen beruht Barrs Version des „biblischen Frauenbilds“ in hohem Maß auf ihren persönlichen Erfahrungen, groben Verallgemeinerungen und häppchenweisen Zitaten von so unterschiedlichen Leuten wie Tim LaHaye, James Dobson, Bill Gothard, Russell Moore, Owen Strachan, John Piper und Wayne Grudem.

Die meisten Historischen Fakultäten würden hoffentlich darauf pochen, dass die beste Forschung bemüht ist, historische Subjekte und Ideen so darzustellen, wie es jenen selbst geläufig wäre. Das bedeutet: Bevor man zur kritischen Bewertung übergeht, sollten Historiker versuchen zu verstehen, was die Menschen der Vergangenheit – zu ihren eigenen Bedingungen – geglaubt haben und warum sie die Schlüsse zogen, die sie zogen. Zwar zeigt Barr bewundernswerte Sympathie für ihre mittelalterlichen Subjekte (zumindest die Frauen), sie gibt sich aber wenig Mühe, ihre Gegner (die Vertreter des „biblischen Frauenbilds“) zu verstehen oder nach viel mehr Ausschau zu halten als nach verfänglichen Worten und Formulierungen. Zum Beispiel erwähnt Barr häufig einen Artikel von Russell Moore aus dem Jahr 2006, in dem er sich positiv zu dem Begriff „Patriarchat“ äußert.[4] (Nebenbei: Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Moore wegen eines 15 Jahre alten Artikels zum Hauptschuldigen in Sachen „Verteidigung des Patriarchats“ wird, während viele ihn für die Art Komplementarier halten würden, die mit Barrs Klagen am meisten sympathisiert.) Außerdem zitiert Barr Owen Strachan, der das P-Wort (Patriarchat) verwendet. Unter Berufung auf Moores Artikel und eine Zeile von Strachan behauptet Barr: „Vor nicht allzu langer Zeit redeten Evangelikale ziemlich viel über das Patriarchat“ (S. 12). Zwei Beispiele können aber wohl kaum als „ziemlich viel“ betrachtet werden, insbesondere wenn man bedenkt, dass das Wort komplementär gezielt geprägt wurde, um von Begriffen wie Patriarchat wegzukommen.

Man sollte festhalten, dass Patriarchat an sich kein schlechtes Wort ist. Wenn Gott unser himmlischer Vater ist, dann glauben wir alle an eine Art Patriarchat. Ich persönlich tendiere dazu, das Wort aufgrund seiner negativen Konnotationen nicht zu verwenden. Aber wenn jemand das Wort Patriarchat gebraucht, dann ist er – oder eine ganze Bewegung – deswegen noch nicht an diesen negativen Konnotationen schuld. Wie Barr aufzeigt, unterscheidet Moore tatsächlich das christliche Patriarchat sorgfältig von „heidnischem Patriarchat“ und von „ausbeuterischem Patriarchat“ (S. 16). Barr räumt ein, dass Moores Standpunkt lautet: „Frauen sollen sich nicht Männern im Allgemeinen unterordnen (heidnisches Patriarchat), sondern Ehefrauen sollen sich ihren Ehemännern unterordnen (christliches Patriarchat)“ (S. 17). Das klingt nach einer wichtigen und hilfreichen Unterscheidung. Doch schon in der nächsten Zeile wischt Barr diese Unterscheidung beiseite, die Moore einführen wollte: „Netter Versuch, dachte ich. Sagen Sie das mal meinem konservativen männlichen Studenten.“ Bedeutet ein ungehobelter College-Student, dass jegliches Patriarchat heidnisches Patriarchat ist?

Barrs Feldzüge vermitteln zuweilen eher den Eindruck politisch-oppositioneller Recherche als den gründlichen akademischen Denkens. Zum Beispiel erklärt sie ihren Studenten, „wie leicht man mit einer Paulus-Studie John Pipers Behauptung widerlegen kann, das Christentum habe eine ‚maskuline Atmosphäre‘“. Schließlich, so legt sie dar, beschreibe Paulus sich selbst als Schwangere, als Gebärende, sogar als stillende Mutter (S. 52). Ich erwarte von Barr nicht, dass sie den Begriff „maskuline Atmosphäre“ mag, aber Pipers Argumentation hat nichts damit zu tun, ob Paulus irgendwo weibliche Bilder verwenden würde. Piper führt an, dass Gott sich uns in der Bibel durchgängig als König, nicht als Königin, und als Vater, nicht als Mutter, offenbart hat. Er führt an, dass der Sohn Gottes als Mann in die Welt kam, dass Israels Priester Männer waren, dass sämtliche Apostel Männer waren, dass Männern die Verantwortung übertragen ist, zu leiten, zu schützen und zu versorgen. Piper räumt ein, dass die Betonung eines „maskulinen Dienstes“ gründlich missverstanden und falsch umgesetzt werden kann. Er unterstreicht außerdem mehrmals, dass ein „maskuliner Dienst“ dem Gedeihen von Frauen förderlich ist und dass Frauen in fruchtbarer Zusammenarbeit ihren Beitrag zum Werk des Dienstes leisten. Nochmals: Barr hat jedes Recht, Pipers Vision für den Dienst abzulehnen, aber diese Ablehnung sollte auf seinen konkreten Argumenten und Empfehlungen beruhen, nicht auf einer einzelnen Formulierung, die sie besonders lächerlich findet.

Es sei noch ein weiteres Beispiel genannt, das Piper betrifft. Barr behauptet: „Selbst John Piper gab 1984 zu, dass er nicht weiß, was er mit Debora und Hulda anfangen soll“ (S. 36). Doch wenn man das Zitat nachschlägt, findet man im Ganzen folgende Aussage von Piper:

„Ich gebe zu, dass Debora und Hulda nicht nahtlos in meine Sicht hineinpassen. Ich wünschte, Berkeley und Alvera würden das Gleiche in Bezug auf 1. Timotheus 2,8–15 (usw.!) tun. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass Debora und Hulda sich nicht selbst ins Spiel brachten, sondern dass man sie wegen ihrer Weisheit und ihrer Offenbarungen aufsuchte (Ri 4,5; 2Kön 22,14). Ich habe im März (S. 30–32) dargelegt, dass es (in 1Kor 11,2–16) darum geht, wie eine Frau weissagen soll – nicht, ob sie es tun soll. Sind Debora und Hulda Beispiele dafür, wie man so „weissagen“ und „richten“ kann, dass die normale Leiterschaft der Männer bestätigt und geachtet wird?“[5]

Das ergibt ein anderes Bild als Barrs „Er weiß nicht, was er mit Debora und Hulda anfangen soll“ – kein verwirrter Komplementarier, sondern jemand, der versucht, sich mit den stärksten Argumenten der Gegenseite auseinanderzusetzen und eine Antwort zu geben. Daran können wir uns sicherlich alle ein Beispiel nehmen.

Ähnlich rügt Barr die Capitol Hill Baptist Church wegen eines bestimmten Sonntagsschul-Unterrichts. Sie schreibt: „Bis heute knirsche ich mit den Zähnen, wenn ich an die Kirchengeschichte-Reihe denke, die in der Capitol Hill Baptist Church verwendet wurde. Sie zeichnet das düstere Bild einer verkommenen, korrupten mittelalterlichen Kirche, in der – abgesehen von einem Überrest verstreuter Mönche und Nonnen – nur wenige Menschen zum Heil fanden“ (S. 137). Es steht Barr frei, zu bemängeln, die mittelalterliche Kirche sei in diesem Lehrplan zu negativ dargestellt. Aber sie sollte zumindest die ersten beiden Sätze dieser Lektion zur Kenntnis nehmen: „Allgemein herrscht die Ansicht, das Mittelalter sei ein wirklich schreckliches Zeitalter gewesen, in dem die Erlösung unbekannt war. Aber je mehr wir uns damit befassen, desto mehr erkennen wir, welchen Reichtum manche Theologie besaß und wie wichtig viele Personen und Ereignisse dieses Zeitalters sind.“[6]

Ob nun aufgrund ihres eigenen Schmerzes oder vielleicht wegen ihres erklärten Ziels, für eine bessere Welt zu kämpfen – Barr macht sich vielfach dessen schuldig, das Material der anderen Seite mit einer Hermeneutik des Misstrauens zu lesen. So stellt sie zum Beispiel als Tatsache fest, in der ESV handle es sich bei der Übersetzung bezüglich Junia – dass diese „well known to the apostles“ sei (den Aposteln wohlbekannt) anstelle von „prominent among the apostles“ (berühmt unter den Aposteln) – um „einen bewussten Schachzug, um Frauen aus Leitungsämtern herauszuhalten“ (S. 69). Wie Barr die inneren Abläufe des ESV-Übersetzungskomitees sicher ermitteln konnte, erläutert sie nicht. In ähnlicher Weise zitiert sie eine ESV-Ressource, die besagt: „Die Verbindung von einem Mann und einer Frau in der Ehe ist einer der grundlegendsten und tiefgründigsten Aspekte des Geschaffenseins im Bilde Gottes.“[7] Barr schließt aus diesem einen Satz: „Weil wir im Bilde Gottes geschaffen sind – so impliziert die ESV-Ressource –, sehnen wir uns nach der ehelichen Verbindung. Aus evangelikaler Sicht vervollständigt uns die Ehe“ (S. 112). Ich kann mir nicht viele weitere Leser vorstellen, die von der Formulierung „Ehe ist einer der grundlegendsten und tiefgründigsten Aspekte des Geschaffenseins im Bilde Gottes“ zur Beziehungsphilosophie des Jerry Maguire (Hauptfigur einer gleichnamigen romantischen Komödie aus den 90ern; d. Ü.) springen. Es ist auch erwähnenswert, dass die betreffende ESV-Ressource von Yusufu Turaki geschrieben wurde, einem Pastor und Geisteswissenschaftler aus Nigeria. Will Barr die evangelikale afrikanische Sicht von Ehe und Singlesein verspotten? Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Recovering Biblical Manhood and Womanhood ausdrücklich mit einem Vorwort beginnt, das sich an Singles wendet – und in dessen achtem Punkt es heißt: „Reifes Mann- oder Frausein ist nicht davon abhängig, ob man verheiratet ist.“ Man wird viele Komplementarier finden, die feiern, wie gut und wohlgeplant die Ehe ist. Aber ich bezweifle, dass unter ihnen jemand zu finden ist, der behauptet, Singles seien ohne sie unvollständig.

Bevor wir zum nächsten Punkt weitergehen, möchte ich klarstellen: Ich denke nicht, dass der Komplementarismus und das „biblische Frauenbild“ über jede Kritik erhaben sind. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was ich über die Jahre von CBMW gesehen habe. Bei gewissen Kommentaren, die Komplementarier auf Twitter von sich gegeben haben, bin ich zusammengezuckt. Es gab in der Welt des Komplementarismus rhetorische Schnitzer und einige theologische Fehlgriffe. Ich teile wie viele andere Barrs Bedenken, die Geschlechterrollen mit der ewigen Unterordnung des Sohnes zu verknüpfen – eine Ansicht, die ich bereits an anderer Stelle kritisiert habe (obwohl Barr zu Unrecht die ewige Unterordnung des Sohnes mit dem Arianismus gleichsetzt). In dieser Rezension geht es nicht darum, sich als Gleichgesinnte gemeinsam zu verbarrikadieren und jegliche Kritik an Piper, Grudem oder Dever (oder in diesem Fall DeYoung) zu unterbinden. Aber Komplementarier sollten die Argumente erkennen, die kritisiert werden. Sie sollten auch die intellektuellen Gründe erfahren, weshalb man sich häufig auf Randfiguren wie Bill Gothard bezieht, während seriöse Gelehrte des komplementären Mainstreams wie Doug Moo oder Don Carson praktisch außen vor bleiben (ganz abgesehen von theologischen Meistern wie Augustinus, Aquinas oder Bavinck, die allesamt die Bibelstellen über Männern und Frauen anders auslegen und anwenden als Barr). Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Worte wie „biblisches Frauenbild“ und „Patriarchat“ nicht für klare Konzepte stichhaltiger theologischer Positionen oder erkennbarer gemeindlicher Bewegungen verwendet werden. Stattdessen scheinen sie eher Sammelbegriffe zu sein für sämtliche Gedanken über Männer und Frauen, die ein Autor (und vermutlich seine bzw. ihre Kollegen) verächtlich findet. Man würde sich wünschen, dass unsere akademischen Historiker ihre ideologischen Gegner mit dem gleichen Maß an Integrität und Professionalität behandeln, das sie zweifellos von ihren Studenten bei anderen historischen Themen einfordern.

3. Fairer Umgang mit historischen Gegebenheiten

Als Werk, das den Anspruch erhebt, seriöse Geschichtsschreibung zu sein, enthält The Making of Biblical Womanhoodmehr als nur ein paar historische Merkwürdigkeiten. Ich weiß nicht, ob irgendein anderer Historiker jemals Johannes Calvin und John Knox als „radikale puritanische Übersetzer“ (S. 145) bezeichnet hat – wenn man bedenkt, dass „Puritaner“ als Spottbegriff innerhalb der Kirche von England entstand und kaum existierte, als Calvin und Knox starben. Ähnlich behauptet Barr fälschlicherweise, die Verbindung der Gräfin von Huntingdon (the Countess of Huntingdon’s Connexion) sei „die erste amerikanische calvinistische Denomination“ gewesen, die aus den protestantischen Erweckungen entstand (S. 177). Tatsächlich war diese von der anglikanischen Kirche abgespaltene Gruppierung englisch, nicht amerikanisch. Barr zeigt außerdem eine laienhafte Sicht des arianischen Streits, wenn sie den Irrtum der ewigen Unterordnung mit den Lehren des Arius gleichsetzt (jemand wie Origenes wäre hier präziser gewesen) und unzutreffend feststellt: „Als alle anderen in der christlichen Welt Wind davon bekamen, was Arius lehrte, reagierten sie mit Entsetzen“ (S. 194). Das ist wohl kaum eine zutreffende Darstellung der hin und her wogenden theologischen und geopolitischen Debatte, die auf Nizäa folgte und die das Konzil überhaupt erst veranlasst hatte.

Bedeutsamer als diese Fehler ist jedoch, dass Barr bei der Präsentation der Helden und Heldinnen ihrer Seite oftmals mehrdeutige Formulierungen und selektive Informationen verwendet. Zum Beispiel beobachtet sie triumphierend, dass Chrysostomus 1. Timotheus 3,11 als Hinweis auf Diakonissen deutet. Ihrer Ansicht nach zeigt das, dass der Prediger mit dem Goldmund eindeutig „weibliche Leiterschaft“ in der Kirche befürwortete (S. 68). Aber ist „weibliche Leiterschaft“ die zutreffendste Beschreibung jener Diakonissenschaft, die im dritten und vierten Jahrhundert aufkam? In Dokumenten der Alten Kirche, z.B. den Apostolischen Konstitutionen, wird erklärt, dass Diakonissen Frauen zu Hause besuchen sollten, gebrechlichen Frauen beim Baden helfen und den Presbytern bei der Taufe von Frauen assistieren, damit der rechte Anstand gewahrt bleibt. Robert Caras Resümee ist treffend: „Während des dritten und vierten Jahrhunderts nach Christus existierten zumindest in einem Teil der Kirche zwei nach Geschlechtern getrennte Diakonate und es gibt kein Beispiel eines geschlechtergemischten Diakonats. Die ordinierten Diakonissen hatten im Vergleich zu ihren männlichen Gegenübern eingeschränkte Verantwortlichkeiten.“[8] Wenn Diakonissen in der Kirche „Leiterinnen“ waren, dann sollte Barr erläutern, wie diese Leiterschaft aussah, damit wir nicht dem historischen Fehlschluss anheimfallen, in anachronistischer Weise moderne Vorstellungen einer „weiblichen Leiterschaft“ in Chrysostomus’ Predigten hineinzulesen.

Davon abgesehen: Bevor wir Chrysostomus zu einem Gegner des „biblischen Frauenbilds“ machen, sollten wir beachten, was er in seinen anderen Homilien über 1. Timotheus sagt. Laut Chrysostomus sollen Frauen in der Kirche „durch das Schweigen auch ihre Unterordnung beweisen. Sie sind ja ein redseliges Geschlecht; deßhalb verweist der Apostel sie in jeder Beziehung zur Ruhe“. Und etwas später lesen wir in der gleichen Predigt: „Warum sagt er Das? Um dem Manne in vieler Hinsicht die erste Stellung zuzuerkennen.“ Und weiter: „Das Weib hat ein einziges Mal die Rolle eines Lehrers gespielt und hat lauter Unheil angerichtet. Deßhalb sagt der Apostel, sie ‚soll nicht lehren‘. Ja, was geht Das die anderen Weiber an, wenn der Eva so Etwas passirt ist? Gar viel. Das ganze Geschlecht ist schwach und leichtsinnig. Und hier ist vom Weibe als solchem die Rede.“[9] Es geht nicht darum, dass Chrysostomus in allem Recht gehabt hätte – ich schäme mich ebenfalls für einen Teil seiner Formulierungen. Aber die intellektuelle Redlichkeit erfordert, dass wir historische Persönlichkeiten so darstellen, wie sie waren, und nicht so, wie wir sie gerne hätten.

Oder nehmen wir das Beispiel der Genoveva von Paris, die Barr als „de facto Gemeindeleiterin von Paris“ bezeichnet (S. 88). Davon abgesehen, dass das, was wir über viele von Barrs mittelalterlichen Heldinnen wissen, aus hagiographischen Quellen stammt, welche oft erst Jahrhunderte später verfasst wurden: Ist es angemessen, Genoveva eine „de facto Gemeindeleiterin“ zu nennen, obwohl sie niemanden ordinierte, keine Sakramente spendete, kein kirchliches Amt innehatte und nicht in der Kirche predigte? Es heißt, Genoveva habe für die Stadt gebetet, als diese von den Hunnen angegriffen wurde, und die Pariser Bürger ermutigt, nicht zu fliehen. Sie hatte angeblich zahlreiche Visionen von Heiligen und Engeln. Sie errichtete eine Kirche zu Ehren des hl. Dionysius. Einmal wurde sie vom Bischof beauftragt, sich um die geweihten Jungfrauen zu kümmern. Das ist zweifellos eine Art von Leiterschaft, aber es ist nicht das, was die meisten Leute unter dem Begriff „Gemeindeleiter“ verstehen.

Noch vielsagender ist Barrs Rückgriff auf Brigida von Kildare. Während „Genoveva wie ein Bischof handelte“, so Barr, „wurde Brigida von Kildare (der Hagiographie zufolge) tatsächlich zum Bischof ordiniert“ (S. 89). In einer einzelnen hagiographischen Quelle gibt es eine Geschichte über einen Bischof, der Brigidas Weihe durchführte. Während er die Weiheliturgie sang, wurde er von der Gnade Gottes so berauscht, dass er irrtümlicherweise stattdessen die Zeremonie zur Bischofsweihe las und damit Brigida versehentlich zum Bischof machte. Man muss Barr zugutehalten, dass sie die ungewöhnlichen Umstände von Brigidas „Ordination“ erwähnt. Doch sie verschweigt, was die von ihr zitierte Quelle als nächstes schreibt: „In dieser hagiographischen Episode erkannte die Heilige selbst das einzigartige Ereignis nicht an; stattdessen nahm sie eine Landschenkung an“ [10]. Mit anderen Worten: Barrs Beispiel einer Frau, die „die Ordination so erhielt, wie ein Mann sie erhalten hätte“ (S. 89), ist alles andere als das. Die Ordination war ein Versehen; Brigida weigerte sich, sie anzunehmen; und vor allem hat der ganze Vorfall möglicherweise gar nicht stattgefunden.

Wir könnten noch weitere Beispiele nennen. Barr erklärt: „Selbst calvinistische Protestanten haben in der Vergangenheit Gottes Berufung von Frauen als öffentliche Amtsträgerinnen bestätigt“ (S. 177). Ihr einziger Beleg zur Untermauerung dieser Behauptung ist die schon erwähnte Selina, Gräfin von Huntingdon. Selina war zweifellos eine bemerkenswerte Frau. Der konservative calvinistische Verlag Banner of Truth brachte sogar ein Buch über sie heraus.[11] Die Gräfin unterstützte George Whitefield, spendete großzügig einen Teil ihres Familienvermögens, um eine Ausbildungsstätte für Geistliche ins Leben zu rufen, und gründete eine Reihe von Kapellen in England, über die sie eine straffe Oberaufsicht führte. Doch auch wenn reformierte Christen der Vergangenheit (und der Gegenwart) die Gräfin von Huntingdon für ihre entscheidende Rolle in der protestantischen Erweckungsbewegung gepriesen haben, ist dies weit von der Idee entfernt, die calvinistischen Methodisten des 18. Jahrhunderts hätten Selina als öffentliche Amtsträgerin bestätigt. So etwas war sie nie, und das hätte sie auch nicht gefordert.

Und dann gibt es da noch Margery Kempe, die mittelalterliche englische Mystikerin, die in The Making of Biblical Womanhood häufiger als jede andere historische Person vorkommt. Barr berichtet, wie Margery 1417 in der Stadt York verhaftet und dem Erzbischof vorgeführt wurde. „Der Erzbischof wusste, dass Margery ohne ihren Mann auf dem Land umherreiste; er wusste, dass sie ohne jegliche Ausbildung wie ein religiöser Lehrer auftrat“ (S. 73). Doch als sie vom Erzbischof von York zur Rede gestellt wurde, „blieb sie standhaft, inmitten eines Raums voll männlicher Autoritäten“ (S. 73). Ein Priester las laut eine der Stellen vor, in denen Frauen geboten wird zu schweigen, aber Margery blieb unbeirrt: „In einem Raum voller männlicher Priester – einschließlich des Erzbischofs von York – predigte sie aus der Bibel und verteidigte ihr Recht, dies als Frau zu tun“ (S. 74). Wie Barr später auf der gleichen Seite formuliert: „Für diese mittelalterliche Frau galt Paulus nicht. Sie konnte das Wort Gottes lehren, und das selbst als gewöhnliche Frau, weil – so sagte sie – Jesus dies guthieß“ (S. 74).

Zwei Seiten später erklärt Barr, dass Margery an einer anderen Stelle in The Book of Margery Kempe von Gott die Verheißung hört, ihr zu Hilfe zu kommen „mit meiner seligen Mutter und meinen heiligen Engeln und zwölf Aposteln, der Hl. Katharina, der Hl. Margareta, der Hl. Maria Magdalena und vielen anderen Heiligen, die im Himmel sind“ (S. 76). Laut Barr „stand Margery Kempe ein Heer von Zeuginnen zur Seite, die halfen, ihrer Stimme Geltung zu verschaffen, indem sie die männliche Autorität und selbst die ihr auferlegten Beschränkungen zurückdrängten“ (S. 99). Barr kommt im weiteren Verlauf des Buches viele Male auf Margerys „große Wolke von Zeuginnen“ zurück (S. 76, 77, 88, 96, 99, 181, 183). Wichtig ist: Das Beispiel von Margery Kempe war für Barr ein Schlüsselfaktor, der sie motivierte, für die Befreiung von Frauen zu kämpfen und die komplementäre Lehre bezüglich Frauen in der Gemeinde in Frage zu stellen (S. 72).

The Book of Margery Kempe ist die faszinierende und teilweise bizarre Autobiographie einer außergewöhnlichen mittelalterlichen Frau. Sie hört Gott im vertrauten Gespräch reden; empfängt häufig Visionen; betet und fastet bis zur Erschöpfung; beendet die sexuelle Gemeinschaft mit ihrem Ehemann, weil sie gern Jungfrau wäre; geht eine geistliche Ehe mit der Gottheit ein; wird von Jesus aufgefordert, mit ihm im Bett zu liegen und seinen Mund so innig zu küssen, wie sie möchte; wird vom Teufel mit Visionen von männlichen Genitalien angegriffen und zum Sex mit verschiedenen religiösen Männern versucht; hat ein Jahrzehnt lang unkontrollierte Schreianfälle; unterbricht regelmäßig Gottesdienste mit Kreischen und Jammern; maßregelt Menschen auf der Straße für ihr Fluchen und ihre Schimpfwörter; und spricht mit Menschen jeden Standes über ihre Botschaften von Gott, ob sie diese nun hören wollen oder nicht.

Margery ist vieles, aber sie ist schwerlich eine Rebellin gegen männliche Autorität. In ihrem Book wimmelt es nur so von guten Priestern, Beichtvätern und Mönchen, die Margery um Rat und Hilfe bittet und die ihrerseits Margery Schutz und Unterstützung gewähren. Entsprechend den Erwartungen ihrer Zeit holt Margery die Erlaubnis religiöser Leiter ein, ehe sie ihre Reisen antritt, und erhält eine männliche Eskorte, die sie auf diesen Reisen beschützt. Sie beschreibt sogar ihren Ehemann – mit dem sie mehrere Jahre lang keinen Sex haben wird – als gütigen Mann, der zu ihr stand, wenn andere sie im Stich ließen. Wenn es in Margerys Book ein übergreifendes Thema gibt, dann ist es das Bestreben, bei (männlichen) religiösen Persönlichkeiten Anerkennung für ihre Einsichten und die Bestätigung für ihren ungewöhnlichen Lebensstil zu bekommen.

Als Margery vor dem Erzbischof von York erschien, war das eine von vielen derartigen Begegnungen in ihrem Leben. Die Hälfte der Menschen, die mit ihr zu tun hatten, dachte, sie habe eine besondere Gabe von Gott, und die andere Hälfte dachte, sie sei von einem Teufel besessen. Der Ärger des Erzbischofs rührte nicht daher, dass sie eine Frau war, die sich der patriarchalen Autorität widersetzte. Sie wurde beschuldigt, eine Lollardin und Ketzerin zu sein. Zwar verteidigte sie ihr Recht, als Frau zu sprechen, aber – wie Barr selbst bemerkt – bestritt Margery ausdrücklich, dass sie predigte. „Ich predige nicht, Sir“, erklärte Margery vor dem Erzbischof, „ich betrete keine Kanzel. Ich nutze nur Gespräche und gute Worte, und dies werde ich tun, so lange ich lebe.“[12] Das ist nicht ganz dasselbe wie: „Paulus gilt für mich nicht.“ Es besagt wohl eher: „Ich höre auf Paulus, und das, was er verbietet, tue ich nicht.“ Ein paar Kapitel später sagt Margery zum Erzbischof: „Mein Herr, wenn Ihr mich prüfen wollt, will ich die Wahrheit bekennen, und wenn ich für schuldig befunden werde, will ich mich Eurer Maßregelung fügen.“ Margery betrachtete sich selbst nicht als eine Proto-Feministin, die Widerstand gegen die bösen Kräfte des Patriarchats leistet. Sie sah sich als rechtgläubige Christin, die ihre Visionen und Offenbarungen weitergibt – inmitten von Feindschaft und Unterstützung, das eine wie das andere sowohl von Männern als auch von Frauen.

Ich kann verstehen, warum Margery (abgesehen von all dem seltsamen Kram) für Frauen eine inspirierende Figur sein kann. Sie war mutig, leidenschaftlich und zutiefst an Gott hingegeben. Aber sie war eine mittelalterliche Frau, keine Frau des 21. Jahrhunderts. Barr behauptet, dass Margery deshalb die Hl. Margareta, die Hl. Katharina und die Hl. Maria Magdalena anrief, weil „die mittelalterliche Kirche einfach noch zu nahe an der Zeit dran war, um vergessen zu haben, welch bedeutende Rolle Frauen bei der Etablierung des christlichen Glaubens in den Überresten des Römischen Reiches gespielt hatten“ (S. 88). Lassen wir mal den Umstand beiseite, dass jene Heiligen, die sie hier erwähnt, mehr als tausend Jahre von Margery entfernt waren – tatsächlich befinden wir uns zeitlich wesentlich näher an Margerys Epoche als sie an der der Hl. Katharina oder der Hl. Margareta. Aber wäre nicht die einfachere Erklärung, dass Margery eine mittelalterliche Katholikin war, die zu zahlreichen Heiligen betete und diese anrief? An anderen Stellen in ihrem Book betet Margery zum Hl. Augustinus, außerdem betet sie häufig zum Hl. Paulus. Ihre „große Wolke von Zeuginnen“ (zu der auch viele Männer gehörten) war normale mittelalterliche Frömmigkeit, keine trotzige Ablehnung männlicher Autorität.

Barr stellt sich vor, wie es wäre, wenn Margery – die ihren Mann im Alter pflegte, 14-mal schwanger war und in Teil 2 ihres Buches ausführlich über ihren Sohn und ihre Schwiegertochter schreibt – ein Twitter-Profil hätte: „Ich bezweifle, dass Kempe in irgendeiner Weise ihre Familie oder ihren Mann erwähnen würde“ (S. 168). Mir scheint, wenn es um die imaginären Social-Media-Gewohnheiten mittelalterlicher Christen geht, können sich Historiker ihrer Sache nicht allzu sicher sein. Vermutlich sagen Spekulationen über Twitter-Profile mehr über uns selbst aus als über unsere historischen Subjekte.

An anderer Stelle lobt Barr das Beispiel der Hl. Paula, „die ihre Kinder verließ um des höheren Ziels willen, der Berufung Gottes für ihr Leben zu folgen“. Nach dem Tod ihres Mannes brach sie mit dem Schiff zu einer Pilgerreise nach Jerusalem auf, „wobei sie drei ihrer Kinder alleine zurückließ, die weinend am Ufer standen“ (S. 79). Aus Barrs Perspektive ist das die Sorte Frau, von der wir mehr in der Kirche brauchen. Ich schätze, dass sich die meisten heutigen Christen – außerhalb der Enklaven hochgebildeter Westler – einig wären: Wenn die Befreiung der Frauen so aussieht, dass Mütter ihre Kinder verlassen und jegliches Gespür für die Berufung einer Ehefrau und Mutter verlieren, dann ist das Heilmittel für das biblische Frauenbild schlimmer als die Krankheit.

4. Bei Kopf gewinne ich, bei Zahl verlierst du

Diese konkreten Beispiele historischer Halbwahrheiten offenbaren ein umfassenderes Problem mit Barrs Methodik. Barr hätte überzeugend darlegen können, dass Frauen im Lauf der Geschichte Schlüsselrollen in der Entwicklung der Kirche einnahmen und dass sie oft auf eine Weise gehandelt haben, die für heutige Christen überraschend sein kann. Wäre es darum gegangen, dann könnte man anschließend untersuchen, wie diese Frauen in ihrem historischen Kontext zu verstehen sind, wie sie sich selbst sahen, wie andere ihr Wirken wahrnahmen und inwiefern ihr Beispiel heute nachahmenswert ist. Das wäre eine lohnende Diskussion – eine, die vermutlich Indizien „für“ und „wider“ die aktuellen Ansichten über das „biblische Frauenbild“ zutage bringen würde.

Doch das ist nicht das Buch, das Barr für uns geschrieben hat, denn dies ist nicht die historische Methode, mit der sie arbeitet. In Barrs Hermeneutik gelten alle Indizien, die ihr gefallen, als Schlag gegen das „biblische Frauenbild“, wohingegen alle Indizien, die ihr nicht gefallen, auf das Konto des Patriarchats gehen. Wieder und wieder schiebt Barr schnell jeglichen Hinweis beiseite, der ihre These in Frage stellen könnte. Was übrig bleibt, ist eine Betrachtung der Geschichte nach dem Motto: Bei Kopf gewinne ich, bei Zahl verlierst du.

  • „Der Widerhall des menschlichen Patriarchats durchzieht das ganze Neue Testament – von der Exklusivität männlicher Juden über die scharfen Ehebruchsgesetze für Frauen bis zu den Schriften des Paulus. Die frühe Gemeinde versuchte, innerhalb einer jüdischen wie auch römischen Welt ihren Platz zu finden, und vieles aus diesen Welten sickerte in die Gegebenheiten der Gemeinde ein. Zugleich sehen wir überraschend viele Stellen, die die traditionellen Geschlechterrollen untergraben und Frauen als Führungspersönlichkeiten hervorheben.“ (S. 35)
  • „In der Bibel gibt es das Patriarchat, weil die Bibel in einer patriarchalen Welt geschrieben wurde. Historisch gesehen ist es nichts Überraschendes, wenn biblische Geschichten und Abschnitte von patriarchalen Haltungen und Handlungen durchsetzt sind. Überraschend ist dagegen, wie viele biblische Abschnitte und Geschichten das Patriarchat untergraben, statt es zu fördern.“ (S. 36)
  • „Die neutestamentlichen Haustafeln erzählen davon, wie die frühe Gemeinde versuchte, in einer nichtchristlichen und zunehmend feindlichen Welt zu leben. Sie mussten sich einfügen, aber sie mussten auch das Evangelium Christi hochhalten. Sie mussten den Rahmen des römischen Patriarchats so weit als möglich aufrechterhalten, aber sie mussten auch den Wert und die Würde jedes Menschen als im Bild Gottes geschaffen hochhalten. Paulus gab ihnen Vorlagen, um das römische Patriarchat anders zu gestalten.“ (S. 54–55)
  • „Ich habe meinen Studenten erklärt, dass natürlich nicht jeder in der frühen Gemeinde Frauen als Führungspersönlichkeiten befürwortete. Das Ältestenamt ist ein deutliches Zeugnis dessen, wie sich bereits patriarchale Vorurteile der Antike in das Christentum eingeschlichen hatten.“ (S. 68)

Diese Argumentationslinie ist der Schlüssel zu Barrs gesamtem Projekt. Patriarchat ist ein Gestaltwandler (S. 153). Es ist allgegenwärtig, entwickelt sich stets weiter und verändert sich, wenn sich der Lauf der Geschichte ändert (S. 169). Patriarchat ist wie Rassismus (S. 186, 208). Es verschwindet nie. Es passt sich nur an eine neue Welt an. Folglich ist alles, was irgendwie nach „biblischem Frauenbild“ riecht, einfach ein weiteres Anzeichen dafür, wie stark die Welt vom Patriarchat durchdrungen ist.

Wer ist schuld am „biblischen Frauenbild“? Nahezu alle. Die Babylonier führten das Patriarchat von Anfang an ein (vgl. S. 24). Später war es das Römische Reich, das das Neue Testament in patriarchale Farben tauchte (vgl. S. 46–47). Nachdem Abaelard mutig für die Ordination von Diakonissen gekämpft hatte, fügte sich die Kirche den weltlichen Konzeptionen von Macht und verbannte Frauen aus Machtpositionen (vgl. S. 114). Dann zementierte die Reformation tragischerweise die Vorstellung, dass Frauen Ehefrauen und Mütter sein sollten (vgl. S. 123). Später führte das viktorianische Zeitalter unbiblische Auffassungen von Anstand und Reinheit ein (vgl. S. 156). Schließlich schuf die Lehre von der Irrtumslosigkeit im frühen 21. Jahrhundert eine Atmosphäre der Furcht und erwies sich als perfekte Waffe gegen die Gleichheit der Frau (vgl. S. 190 u. 196). Das Patriarchat ist der Bösewicht mit den tausend Gesichtern.

Ich möchte nochmals festhalten: Wenn Barr einfach nur beabsichtigt hätte zu zeigen, dass das „biblische Frauenbild“, wie es manche konservative Christen verstehen und praktizieren, über Jahrhunderte durch außerbiblische Ideen und Kräfte geformt wurde, dann hätte das vermutlich eine überzeugende Argumentation ergeben. Aber dafür müsste Barr zugestehen, dass der derzeitige Eifer gegen das „biblische Frauenbild“ ebenso kulturell bedingt ist und dass er bequem unserem Zeitgeist entspricht.

Man bräuchte dafür auch einen besseren, faireren und intellektuell stringenteren Zugang zur Geschichte an sich – einen Zugang, der nicht aus einer großen monokausalen allumfassenden Theorie besteht, in der jegliches Stückchen historisches Indiz bereits eine von vornherein festgelegte Bedeutung hat. Nun, wenn die biblischen Leiterschaftsmuster und die biblischen Beschreibungen Gottes allzu maskulin klingen, ist das kein Grund zur Sorge – das ist Patriarchat. Wenn Jesus nur männliche Apostel auswählte und Paulus Frauen gebot, sich ihren Männern unterzuordnen, muss man sich nicht wundern – das ist Patriarchat. Wenn die Reformatoren für Ehe und Mutterschaft eintraten – selbstverständlich taten sie das, das ist Patriarchat. Es ist ein abgekartetes Spiel: Die historischen Karten sind bereits verteilt, bevor das wissenschaftliche Spiel überhaupt begonnen hat.

Barrs historische Argumentation „funktioniert“, weil es unmöglich ist, dass sie nicht funktioniert. Welche Referenzen auch immer jemand heranziehen würde – aus der Bibel, von Theologen aller Epochen oder bezogen auf die menschliche Natur an sich – zugunsten der männlichen Autorität in der Gemeinde und zu Hause, für die hohe Berufung der Mutterschaft, für das generelle Prinzip, dass Männer leiten sollten: All das kann als Patriarchat abgetan werden. Im Gegensatz dazu zählt jeder Hinweis auf lehrende oder leitende Frauen – unabhängig davon, um welche Art von Leiterschaft oder Lehre es sich handelt, unabhängig vom historischen Kontext oder der Zuverlässigkeit der historischen Quellen, unabhängig davon, wie sehr die Frauen selbst darauf achteten, die angemessenen Grenzen der Autorität nicht zu überschreiten – als Widerstand gegen das Patriarchat. Nimmt man diese Hermeneutik – zusammen mit der gesamten menschlichen Geschichte als willigem Handlanger –, dann können Barrs These sowie vergleichbare Thesen nicht fehlgehen. Sie sind nicht falsifizierbar. Jedes bisschen Patriarchat bedeutet, dass sie Recht hat, und jedes bisschen Nicht-Patriarchat bedeutet ebenfalls, dass sie Recht hat.

Das ist eine Art, wie man Geschichtsforschung betreiben kann. Aber es wird wohl eine bessere Art geben.

Buch

Beth Allison Barr, The Making of Biblical Womanhood
How the Subjugation of Women Became Gospel Truth, 
BrazosPress, 2021, 256 Seiten, 17,99 Euro.


[1] Beth Allison Barr, The Making of Biblical Womanhood: How the Subjugation of Women Became Gospel Truth, Brazos Press, 2021, S. 37.

[2] Kevin DeYoung, Men and Women in the Church: A Short, Biblical, Practical Introduction, Wheaton: Crossway, 2021.

[3] John Piper, Wayne Grudem (Hrsg.), Die Rolle von Mann und Frau in der Bibel: Zweimal einmalig – eine biblische Studie, Friedberg: 3L, 2008. Eine überarbeitete Neuauflage des englischen Originals Recovering Biblical Manhood and Womanhood erschien 2021 bei Crossway.

[4] Russell Moore, „After Patriarchy, What? Why Egalitarians Are Winning the Gender Debate“, JETS 49 (2006), S. 569–576.

[5] John Piper, „Headship and Harmony: Response from John Piper“, The Standard 74/5 (1984): S. 39–40, einsehbar unter Desiring God: https://www.desiringgod.org/articles/headship-and-harmony (Stand: 22.03.2022).

[6] „Class 5: The High Middle Ages“, Capitol Hill Baptist Church, 24. Juni 2016: https://www.capitolhillbaptist.org/sermon/class-5-the-high-middle-ages/ (Stand: 22.03.2022).

[7] Yusufu Turaki, „Marriage and Sexual Morality“, ESV.org: https://www.esv.org/resources/esv-global-study-bible/marriage-and-sexual-morality (Stand: 22.03.2022), kursive Hervorhebung von Barr.

[8] Robert J. Cara, „Justification of Ordained Office of Deacon Restricted to Qualified Males“, Reformed Faith & Practice 5/3 (2020): S. 38–39, online unter: https://journal.rts.edu/article/justification-of-ordained-office-of-deacon-restricted-to-qualified-males/ (Stand: 23.03.2022).

[9] Chrysostomus, Homilien über den I. Brief an Timotheus, Neunte Homilie, Bibliothek der Kirchenväter (BKV), online unter: https://bkv.unifr.ch/de/works/253/versions/274/divisions/66313 (Stand: 23.03.2022).

[10] Lisa M. Bitel, Landscape with Two Saints: How Genovefa of Paris and Brigit of Kildare Built Christianity in Barbarian Europe, Oxford: Oxford University Press, 2009, S. 180.

[11] Faith Cook, Selina: Countess of Huntingdon: Her Pivotal Role in the 18th Century Evangelical Awakening, Edinburgh: Banner of Truth, 2001.

[12] Margery Kempe, The Book of Margery Kempe, Penguin Classics, New York: Penguin, 2000, S. 164.