Wie wird man Missionar?

Artikel von Tim Keesee
3. Mai 2022 — 7 Min Lesedauer
„Als er aber hinzog, begab es sich, dass er sich Damaskus näherte; und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel. Und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die zu ihm sprach: ‚Saul! Saul! Warum verfolgst du mich?‘ Er aber sagte: ‚Wer bist du, Herr?‘ Der Herr aber sprach: ‚Ich bin Jesus, den du verfolgst. … Steh auf und geh in die Stadt hinein, so wird man dir sagen, was du tun sollst!‘“ (Apg 9,3–6)

Was die Berufung zum Missionar betrifft, hatte Saulus von Tarsus das Nonplusultra: ein helles Licht, eine Stimme vom Himmel und klare Anweisungen. Besser geht es nicht! Aber wir anderen Normalsterblichen sollten unsere Erwartungen in Bezug auf die Art und Weise, wie der Herr uns führt, nicht zu hoch hängen. Wie David Sills in seinem hilfreichen Buch The Missionary Call feststellt, gibt es viel Unklarheit und Missverständnisse über „den Ruf“. So schreibt er über das Damaskus-Erlebnis: „Wir müssen uns vor Augen halten, dass diese Erfahrung nur beschreibt, was Paulus widerfuhr, aber dass sie nicht vorschreibt, wie jede missionarische Berufung sein sollte.“[1]

„Wir müssen uns vor Augen halten, dass diese Erfahrung nur beschreibt, was Paulus widerfuhr, aber dass sie nicht vorschreibt, wie jede missionarische Berufung sein sollte.“
 

Im Laufe der Jahre habe ich bei unzähligen Tassen Kaffee Gespräche mit Christen geführt, die oft aufrichtige, aber doch recht konfuse Vorstellungen darüber hatten, was es heißt, „berufen zu sein“. Dabei schlug das Pendel der Erwartungen für eine „Berufung” in beide Richtungen aus. Auf der einen Seite sind diejenigen, die sich „berufen“ fühlen, was aber außer ihnen anscheinend niemand bemerkt. Sie werfen mit dem Wort „Last“ um sich, als wiege es überhaupt nichts. Und sie lieben es, ins „Missionsfeld“ auszureisen, das sich für sie aber nur außerhalb des US-Kernlands befindet. Obwohl ich ihre Initiative und ihren Enthusiasmus schätze, finde ich es in diesen Fällen manchmal schwer, zwischen individueller Berufung und persönlichem Ehrgeiz zu unterscheiden.

Oft haben diese Leute kaum eine Verbindung zu einer Gemeinde – abgesehen von der Suche nach finanzieller Unterstützung. Die Gemeinden sollen ihnen vor allem ermöglichen, „Gottes Ruf“ zu folgen. Und wenn sie es jemals in ein anderes Land schaffen, werden sie vermutlich erwarten, dass auch die einheimischen Gläubigen dort ihre missionarischen Träume wahr werden lassen. Den Rat, erst einmal in ihrem Heimatland Menschen zu Jüngern zu machen, bevor sie es in einer Fremdsprache versuchen, quittieren sie mit einem höflichen Lächeln. Unter ihnen gibt es auch etliche, die stur und eigensinnig sind, aber in den meisten Fällen hatten sie einfach nie die Gelegenheit, von Mentoren aus der Gemeinde in der Jüngerschaft angeleitet zu werden – von Mentoren, die ein umfassendes und tiefes Verständnis von Gott und dem Evangelium haben.

Am anderen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die auf „einen Ruf“ warten, der aber nie kommt. Sie dienen ihrer Gemeinde treu, sind bei allen Veranstaltungen dabei und interessieren sich ernsthaft und unter Gebet für die Mission, hatten aber nie ein Damaskus-Erlebnis. Weil es in ihrem Leben weder eine solche Berufung noch ein Zeichen oder ein nasses Vlies gab, trauen sie sich nicht hinauszugehen. Natürlich beruft Gott nicht jeden dazu, ihm in der Fremde zu dienen, aber es kann auch sein, dass wir aus unseren eigenen Ängsten heraus Mauern errichten. Oft sind die ersten Hindernisse, die wir auf dem Weg zu dem vom Evangelium noch unerreichten Teil der Welt überwinden müssen, nicht Grenzübergänge, Stacheldraht oder ISIS – es sind die starken Mauern guter Werke rund um unsere Komfortzone.

In der Seelsorge muss der „Vielflieger“ genauso wie der „Kirchenbankdrücker“ (und alle anderen dazwischen) zum Kreuz gebracht werden. In Matthäus 16 sagt Jesus seinen Jüngern, während sie unterwegs nach Jerusalem sind, dass Leiden und Tod am anderen Ende des Weges auf ihn warten und dass er „gehen ... müsse“. Und er fährt fort: „Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach! Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“ (Mt 16,24–25).

Diese Berufung – die radikale Forderung, bei der es um Leben und Tod geht – gilt jedem Gläubigen. Diese überwältigende Berufung in die Kreuzesnachfolge ist besser als ein Blitz vom Himmel und dauerhafter als Gefühle oder Vliese. Die Nachfolger Christi sollen ihrem Herrn nachfolgen. Sie sollen sich vollständig mit ihm identifizieren, ihn ganz und gar annehmen, ihm in allem folgen – was immer es kostet und ganz gleich, wohin es sie führen mag. Anders als die Jünger, die diesen Ruf zum ersten Mal hörten, als Kreuze noch keine dekorativen Schmuckstücke waren, erhalten wir durch Gottes Gnade diesen Ruf nun auf der anderen Seite von Golgatha und dem leeren Grab! Er ist auferstanden. Er ist mit uns. Immer.

Deshalb ist der „Ruf in die Mission“, welchen ich am häufigsten von denjenigen erzählt bekomme, die Christus seit Jahren an schwierigen, weit entfernten Orten dienen: eine gefestigte, lebensverändernde Überzeugung, dass Jesus lebt und gegenwärtig ist – eine essentielle Erkenntnis, welche auch Paulus auf seinem Weg nach Damaskus erfuhr. Und daher höre ich immer wieder, ob sie nun in Afghanistan, China oder Nordafrika dienen: „Hierher zu kommen war für mich nur der nächste Schritt in der Nachfolge Jesu.“ Obwohl sie das Gewicht des Kreuzes zu spüren bekamen, haben sie einen Blick auf Jesus erhascht und eilen ihm nach.

„Beim Ruf in die Mission geht es nicht so sehr darum, dass wir irgendwohin gehen, sondern vielmehr darum, dass wir unserem auferstandenen König in seinen leuchtenden Fußstapfen nachfolgen.“
 

Eine typische Erfahrung erscheint mir Hudson Taylors Berufung zum Missionar zu sein. Man sollte meinen, der Pioniermissionar Taylor, der das Landesinnere Chinas für das Evangelium erschloss und Tausende Mitarbeiter für diesen Dienst mobilisierte, müsste eine dramatische Begegnung mit Gott gehabt haben. Die hatte er tatsächlich – aber ohne Lichter und Stimmen. Nachdem sich Taylor mit 17 Jahren bekehrt hatte, widmete er sich hingebungsvoll den Evangelisationsbemühungen seiner Gemeinde und „sog die Heilige Schrift in sich auf, bis er in ihrer Sprache dachte“, so ein Biograph.[2] Später beschrieb Taylor einen Tag, an dem er im Gebet Gottes Gegenwart erlebte:

„Gut erinnere ich mich noch daran, wie ich in meiner Herzensfreude meine Seele vor Gott ausschüttete. Wieder und wieder bekannte ich ihm meine dankbare Liebe für all das, was er für mich getan hatte. … Ich bat ihn inständig, mir doch eine Aufgabe für ihn zu geben als Zeichen meiner Liebe und Dankbarkeit; irgendeinen selbstverleugnenden Dienst, egal wie anstrengend oder unbedeutend er auch sein mag. ... Die Gegenwart Gottes wurde unaussprechlich real und segensreich, und ich erinnere mich … dass ich mich auf dem Fußboden lang ausstreckte und mit unaussprechlicher Freude und mit unaussprechlicher Ehrfurcht vor ihm dalag. Zu welchem Dienst ich angenommen worden war, wusste ich nicht, doch ein tiefes Bewusstsein, dass ich nicht mehr mir selbst gehörte, ergriff von mir Besitz und ist seitdem nie von mir gewichen.“[3]

Hudson Taylors missionarische Berufung ereignete sich in der überströmenden Freude des Evangeliums, die sein Herz erfüllte. Dies war sein Damaskus-Erlebnis mit Christus, welcher sagte: „Folge mir nach.“ Und das tat er. Beim Ruf in die Mission geht es nicht so sehr darum, dass wir irgendwohin gehen, sondern vielmehr darum, dass wir unserem auferstandenen König in seinen leuchtenden Fußstapfen nachfolgen.


[1] Sills, M. David. The Missionary Call, Moody Publishers, 2008, S. 55.

[2] Broomhall, A.J. The Shaping of Modern China: Hudson Taylor’s Life and Legacy, Volume 1, Overseas Missionary Fellowship, 2005, S. 156.

[3] Ebd., S. 157. Die dt. Übersetzung des Zitats stammt aus Howard und Geraldine Taylor, Das geistliche Geheimnis Hudson Taylors, Liebenzeller Mission, 1980, S. 11.