Wie du die Briefe (nicht) predigen solltest

Artikel von Bobby Scott
2. Mai 2022 — 12 Min Lesedauer

Wenn du das Buch Auslegungspredigten von David Helm noch nicht gelesen hast, dann nimm dir jetzt eine Minute Zeit und bestelle es. Ich stimme Mark Devers Empfehlung von ganzem Herzen zu: „Wenn ich Predigtlehre unterrichten würde und könnte den Studenten nur ein einziges Buch geben, dann würde ich dieses nehmen.“ Und weißt du was? Das Buch ist nur 120 Seiten lang und darum ideal, wenn du – so wie ich – kurze Bücher voller großer Einsichten schätzt. Helm definiert den Begriff Auslegungspredigt wie folgt:

„Textauslegendes Predigen ist kraftvolles Predigen, weil Form und Botschaft der Predigt der Form und Botschaft des Bibeltextes angemessen untergeordnet sind. So wird, wie Charles Simeon sagte, das aus dem Text herausgeholt, was der Heilige Geist hineingelegt hat – und nicht etwas aus dem Text geholt, wovon der Prediger meint, dass es da sein könnte.“
„Nur allzu leicht täuschen wir uns selbst und denken, dass wir das Wort treu predigen, obwohl wir tatsächlich unsere eigenen Gedanken predigen.“
 

Meine Aufgabe ist es, zu erklären, wie man das nicht tut, wenn man durch die Briefe predigt. Bevor ich anfange, möchte ich bekennen, dass einiges davon meinem eigenen Versagen als Prediger entstammt. Wenn du Prediger bist, dann bin ich mir sicher, dass einiges von dem, was ich schreibe, dein eigenes Versagen enthüllen wird. Nur allzu leicht täuschen wir uns selbst und denken, dass wir das Wort treu predigen, obwohl wir tatsächlich unsere eigenen Gedanken predigen.

Wenn du kein Prediger bist, dann ermutige ich dich, dennoch weiter zu lesen. Warum? Weil wir uns nur allzu leicht selbst täuschen und denken, dass wir eine tiefgründige Predigt gehört haben, wo wir tatsächlich einfach nur zugehört haben, wie jemand einen Text ausschlachtet und dort Dinge hinein- und herausliest, die Gott niemals in den Text hineingelegt hat. Jeder Gläubige muss sorgfältig bedenken, wie er Predigten hört, um sicherzustellen, dass der Prediger das predigt, was das Wort Gottes tatsächlich lehrt. Wenn das Wort Gottes die Christen in Beröa dafür lobt, dass sie anhand der Schrift prüften, was Paulus predigte, dann wäre es weise, wenn du sorgfältig die Predigten untersuchst, die für dich gepredigt werden (vgl. Apg 17,10–11).

Hier also ein paar Möglichkeiten, wie die Briefe nicht ausgelegt werden sollen:

1. Unterlass die Textlesung nicht

Wie oft hast du eine Auslegungspredigtreihe über einen Brief gehalten und entschieden, dass du keine Zeit dafür hast, den Text, über den du predigst, tatsächlich vorzulesen? Denke daran: Die Bibel ist das Wort Gottes, nicht deine Predigt. Paulus ermahnte Timotheus: „Bis ich komme, achte auf das Vorlesen, auf das Ermahnen, auf das Lehren!“ (1Tim 4,13). Es fällt auf, dass Paulus nicht sagt, man soll nur auf das Ermahnen und das Lehren achten, sondern er gebietet als erstes: „Achte auf das öffentliche Vorlesen!“

Gott gebraucht das Wort Gottes, nicht unsere Gedanken über das Wort Gottes, um Gläubige von Herrlichkeit zu Herrlichkeit zu verwandeln (vgl. 2Kor 3,18). Ihr lieben Prediger des Wortes Gottes: Nehmt euch in euren Predigten Zeit, das Wort zu lesen. Wenn du nicht genügend Zeit hast, dann streich zuerst Witze, Anekdoten und Sport-Veranschaulichungen. Deine Leute denken wahrscheinlich sowieso, dass du gar nicht so lustig bist. Und wenn sie Sportfans sind, dann kennen sie sich ohnehin besser aus als du.

Wenn du hörst, wie jemand durch einen Text predigt und ihn nicht vorliest, dann sorge dafür, dass er es das nächste Mal tut. Die Bibel ist Gottes eingehauchtes Wort. Die Predigt deines Pastors ist es nicht.

2. Nimm dir nicht für jeden Brief zehn Jahre Zeit

Ich weiß, ich weiß: Jetzt wird das Eis sehr dünn. Lasst mich versuchen, es zu erklären. Es ist keine Sünde, wenn man    g  a  n  z      l  a  n  g  s  a  m     durch jeden Buchstaben der Bibel predigt. Manche der größten Ausleger der Kirche haben sich im Schneckentempo durch das Neue Testament bewegt. Trotzdem appelliere ich an euch: Die Briefe des Neuen Testaments sind wirklich genau das: Briefe. Deshalb haben die ursprünglichen Empfänger sie in einem einzigen Treffen gehört und erklärt bekommen. Es ist sicher wahr, dass die ursprünglichen Leser dieselbe Kultur und Geschichte hatten wie der Autor. Aber ich behaupte trotzdem, dass Briefe sinnvoll verstanden werden können, wenn man sie über kürzere Zeitspannen hinweg predigt.

Was würde Paulus sonst meinen, wenn er die Klarheit der Schrift in 2. Korinther 1,13 bekräftigt? „Denn wir schreiben euch nichts anderes, als was ihr lest oder auch erkennt; ich hoffe aber, dass ihr bis ans Ende erkennen werdet.“ Mein pastorales Anliegen lautet: Wenn du viele Jahre brauchst, um durch jeden Brief zu predigen, wie wird Gottes Herde denn dann erleben, dass „Alle Schrift nützlich zur Lehre“ ist (außer Gott gewährt dir ein längeres Leben als Abraham)? Unsere Leute müssen den ganzen Ratschluss Gottes hören und lernen. Wenn es dir also in den Genen liegt, dich in deiner Auslegung sehr, sehr, sehr langsam durch die Bibel zu arbeiten, dann biete wenigstens Übersichtskurse an, in denen deine Leute hören, wie die ganze Bibel gelehrt wird.

So wichtig es auch ist, einen Brief wie den Römerbrief sorgfältig zu erklären und anzuwenden, so wichtig ist es für das Volk Gottes, einen Mann Gottes zu hören, der alle Briefe und alle Schrift predigt und das ganze Wort Gottes auf ihre Seelen anwendet, weil alle Schrift nützlich ist.

3. Mach es dir nicht zum Ziel, relevant zu sein

Warum solltest du etwas predigen, was die Apostel und Propheten vor tausenden von Jahren an ihre vormodernen, vorwissenschaftlichen und bäuerlichen Leser geschrieben haben? Schließlich haben sich die Zeiten verändert. Du kennst deine Leute. Du kennst ihre Umstände, ihre Probleme, und ihre Bedürfnisse. Predige ihnen also jeden Sonntag das, wovon du denkst, dass sie es hören müssen - richtig?

Dieser Predigt-Stil ist heutzutage so weit verbreitet. Aber was sagte Jesus? „Wer aus sich selbst redet, sucht seine eigene Ehre“ (Joh 7,18).

Das Predigen ist eine große Verantwortung. Gott offenbarte seine irrtumslose Wahrheit in der Schrift und gab uns ein doppeltes Mittel, um sie zu empfangen: (1) Durch demütige Abhängigkeit vom Geist (vgl. 1Kor 2) und (2) durch die harte Arbeit genauer Exegese (vgl. 2Tim 2,15). Stolz und Eigenständigkeit werden Prediger blind und taub für Gottes Wahrheit machen und sie törichterweise dazu ermutigen, Gottes irrtumsloses Wort durch ihre eigenen Worte zu ersetzen.

Stell dir vor, was für ein Verbrechen es ist, Gottes Worte mit unseren eigenen Worten zu ersetzen und dann das Gewissen der Menschen daran zu binden, als seien es Gottes Worte. Jeder treue Prediger unterwerfe daher den gesamten Predigtprozess von der Exegese bis hin zur Auslegung der Autorität Gottes. Jeder Prediger muss sich verpflichten, das zu predigen, was der Text tatsächlich sagt, und so zu predigen, wie der Text das sagt, was er sagt. Warum? Weil jedes Wort, jeder Satz, jeder Abschnitt, jedes Kapitel und jedes Buch von Gott eingehaucht ist. Weil die ganze Bibel, einschließlich aller Briefe, „nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“ ist (2Tim 3,16).

Durch den Heiligen Geist gestärkte Prediger müssen also die Last der Verantwortung tragen, Gottes Wort zu predigen – und nicht ihre Lieblingssorgen, nicht ihre Steckenpferde, nicht ihre weltlichen Einsichten. Das Wort Gottes ist lebendig und wird daher niemals veralten oder durch die Weisheit irgendeiner Philosophie oder irgendeines Predigers ersetzt werden können.

4. Unterlass das Studium des Textes nicht

Mit „Salbung“ zu predigen (wie es Spurgeon nannte), meint keinesfalls das Predigen ohne Studium. Das Wort Gottes fordert von Predigern, dass wir beim Studieren des Textes schuften, sodass wir es – wie ein Zeltmacher – sauber zuschneiden, wie es sich gehört (vgl. 2Tim 2,15). Jede Anstrengung muss unternommen werden, um dafür zu sorgen, dass klar wird: Gott hat wirklich genau das gesagt, was der Prediger sagt. Das kann nur durch fleißige Arbeit erreicht werden.

Nehmen wir an, du würdest eine Zeitschrift aufschlagen und die Wörter „Er hat sie vernichtet“ lesen. Wie würdest du sie deuten? In dem Sinn, dass ein Mann eine Frau ermordet hat und nun irgendwo ihre Leiche liegt? In dem Sinn, dass jemand irgendwelche Beweise vernichtet hat? Was, wenn du diese Überschrift in einer Sportzeitschrift lesen würdest? Oder als Teil eines politischen Kommentars? Oder im Unterhaltungsteil als Beschreibung eines Films? Dann gäbe es keine Toten und keinen Mörder. Das zu predigen, was der Text sagt, erfordert sorgfältiges Lesen. Und sorgfältiges Lesen bedeutet Lesen im Kontext.

Die Briefe der Bibel sind Schriftstücke an Christen – keine Abhandlungen über systematische Theologie. Sie haben einen historischen Zusammenhang, einen bestimmten Anlass. Leute aus Chloes Umfeld sandten Paulus einen Brief mit einer Liste an Problemen (vgl. 1Kor 1,10–11) und Fragen. Der erste Korintherbrief ist Gottes Antwort auf diese Probleme und Fragen (vgl. 1Kor 7,25; 8,1; 11,17; 12,1; 16,1). Daher kann die Bedeutung biblischer Briefe erkannt werden, indem man Abschnitt für Abschnitt liest, das Thema dieser Abschnitte erkennt und diese Themen mit dem historischen Rahmen in Verbindung setzt – also damit, warum der Brief geschrieben wurde.

Hinzu kommt: Autoren vermitteln Bedeutung durch ihre Wortwahl und die Wortreihenfolge. Betrachte die folgenden Aussagen: „Es geht dir gut.“ „Geht es dir gut?“ Beide Sätze verwenden dieselben Worte, haben aber unterschiedliche Bedeutungen, weil ich die Reihenfolge der Wörter, ihre Beziehung untereinander und ihre Funktion verändert habe. Der treue Ausleger muss der Grammatik und dem Satzbau des Textes im Zusammenhang sorgfältig folgen, um die Absicht des Autors im Text zu erkennen. Er muss die Beziehung zwischen den Wörtern, Ausdrücken und Satzteilen untersuchen. Das erfordert Arbeit! Aber wenn sie treu getan wird, dann ermutigt uns Paulus noch einmal: Durch sorgfältiges Lesen kann der Leser ein genaues und klares Verständnis des Wortes Gottes erlangen (vgl. 2Kor 1,13).

Wer die Bedeutung aus dem Text schöpft und predigt, was der Text sagt, wird gesegnet sein. Wer stattdessen das predigt, wovon er denkt, die Gemeinde wolle es hören (vgl. 2Tim 4,1-4), wird scheitern. Studiere und predige also das Wort. Gott hat es als Mittel für deine Rettung und für die Rettung deiner Zuhörer eingesetzt (vgl. 1Tim 4,16).

5. Unterlasse das Gebet nicht

Warum sollte man beten, wenn das Predigen eine intellektuelle Übung des Lesens und Auslegens von Bibeltexten ist und man dann das weitergibt, was man gelesen hat? Wenn man lesen und das Gelesene interpretieren kann, dann sollte man auch predigen können. Warum also beten?

„Wenn irgendetwas einen Mann ins Gebet bringen sollte, dann das: Ein Sünder zu sein, der vor anderen Sündern steht und die Last hat ‚So spricht der Herr‘ zu verkündigen.“
 

Wir sollten beten, wenn wir predigen, weil es keine gewaltigere Aufgabe auf Erden gibt, und weil niemand ohne Gottes Hilfe dazu in der Lage ist (vgl. 2Kor 2,15-17).

Wenn irgendetwas einen Mann ins Gebet bringen sollte, dann das: Ein Sünder zu sein, der vor anderen Sündern steht und die Last hat „So spricht der Herr“ zu verkündigen. Es ist eine Sache, als Botschafter die Pflicht zu haben, eine Nation zu repräsentieren; doch es ist eine ganz andere Verantwortung, den souveränen Herrscher des Universums zu repräsentieren. Menschen geben die ganze Zeit andere Menschen falsch wieder. Menschen verleumden und beleidigen einander. Aber die Bibel warnt explizit davor, dass nur wenige von uns Lehrer des Wortes Gottes sein sollten, weil wir ein strengeres Urteil empfangen werden (vgl. Jak 3,1).

Lieber Prediger, lass dich um deiner Seele willen und um derer willen, zu denen du predigst, durch das Wort Gottes zum Gebet verpflichten – bevor, während und nachdem du predigst. Von Spurgeon wird gesagt, dass er während er an die Kanzel trat, vor sich hin murmelte: „Ich glaube an den Heiligen Geist, ich glaube an den Heiligen Geist.“ Brüder, ohne die Hilfe des Heiligen Geistes wird es keine Überführung von Sünde geben, wenn ihr predigt. Es wird keine Buße geben. Keine Siege. Kein Wachstum in der Gnade. Keine Christus-ähnliche Verwandlung. All dies ist das Werk, das Gott durch die Verkündigung seines Wortes an sein Volk durch das Wirken des Geistes vollbringt.

Aber lasst euch ermutigen, Brüder. Wenn Gott euch berufen hat zu predigen, und wenn ihr sein Wort in Abhängigkeit von seinem Geist predigt, dann kann keine Macht der Hölle das Ergebnis verhindern. Gott rettet, Gott heiligt, Gott ermutigt, Gott baut seine Gemeinde durch die Predigt seines Wortes. Seid treu, seid demütig, seid eifrig und bleibt abhängig. Lasst euch von Gott, dessen Worte das Universum ins Dasein gerufen haben, gebrauchen, aus seinen Briefen den Schafen, als deren Hirten er euch berufen hat, die Wahrheit zu verkündigen.

Und wenn du kein Prediger bist, dann möchte ich dich an etwas erinnern: Treue Auslegung bringt die genaue Bedeutung des Textes hervor. Wenn du während der sonntäglichen Predigten immer deine Bibel geschlossen halten kannst, wenn du immer nur Geschichten und aktuelle Analogien hörst, dann ermutige deinen Pastor in Liebe, das Wort zu predigen (vgl. 1Tim 4,1–2).