Der zerrissene Vorhang: Was hat es damit auf sich?
Kein Zutritt!
In Der Herr der Ringe versperren die Türen von Durin den Zugang zu Moria im Nebelgebirge. In Der König von Narnia verschließt oder aber gewährt ein geheimnisvoller Schrank den Weg nach Narnia. Und in Harry Potter und der Stein der Weisen bewacht ein riesiger dreiköpfiger Hund namens Fluffy den Eingang zu den unterirdischen Kammern. Ein Hauptmerkmal dieser Geschichten ist ein Hindernis, das den Weg zum angestrebten Ziel versperrt.
Das eindrücklichste Hindernis in der Geschichte des Volkes Israel war der sorgfältig gewebte Vorhang in der Mitte des Tempels, der das Heiligtum vom Allerheiligsten abtrennte. Im Heiligtum durften Priester regelmäßig dienen, aber durch den Vorhang hindurch in die Gegenwart Gottes durfte nur der Hohepriester einmal im Jahr treten (vgl. 2Mose 26,33–35; 3Mose 16,2). Der Vorhang bewachte den Eingang zum Allerheiligsten.
Es gibt aber zwei Ausnahmen, in denen dieser Vorhang durchbrochen wird.
In einer beeindruckenden Zukunftsvision in der Offenbarung wird beschrieben, wie der Tempel Gottes im Himmel geöffnet wird, wenn Christus seine ewige Königsherrschaft antritt. Die Bundeslade – die 586 v.Chr. bei der Eroberung durch die Babylonier verloren ging – wird ohne Vorhang für alle sichtbar sein (vgl. Offb 11,19).
Aber auch am Tag der Kreuzigung Jesu finden wir einen Vorgeschmack auf diesen ultimativen Höhepunkt.
Was geschah im Tempel?
In Jesu letzten Minuten passierte eine ganze Menge. Finsternis bedeckte die Erde; ein Erdbeben erschütterte die Umgebung, sodass die Gräber entschlafener Heiliger sich öffneten; Jesus schrie mit lauter Stimme und „der Vorhang im Tempel riss von oben bis unten entzwei“ (Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45).
Obwohl auch andere Vorhänge (griech. „katapetesma“) den Tempel schmückten, beziehen sich die Evangelisten hier wahrscheinlich auf den Vorhang vor dem Eingang zum Allerheiligsten, da sie im Griechischen einen bestimmten Artikel verwenden. Er war der bedeutendste Vorhang und hatte für Juden einen überaus wichtigen symbolischen Wert (vgl. Josephus’ Jüdischer Krieg; Philos Vom Leben Moses) – für jüdische und christliche Leser muss hier klar gewesen sein: Die Rede ist von „dem Vorhang“ (vgl. Hebr 9,2–3).
Inmitten des ganzen Tumults und dieser endzeitlichen Ereignisse wurde der Vorhang von oben nach unten zerrissen (was im Griechischen im Passiv steht) – was auf Gottes direktes Eingreifen vom Himmel aus hindeutet. Er zerriss den Vorhang, der die Menschen von seiner Gegenwart abschirmte.
Aber warum? Auf den ersten Blick erscheint dieses Detail ziemlich verwirrend.
Was ist die Botschaft des zerrissenen Vorhangs?
1. Gericht über das Tempelsystem
Das Zerreißen dieses bedeutungsvollen Vorhangs ist ein Hinweis darauf, dass der Tempel in Jerusalem bald nicht mehr das Zentrum der Anbetung sein würde. Jesus hatte verkündet, das Haus Gottes werde verwüstet werden (vgl. Lk 13,35). Er vertrieb Menschen aus dem Tempel, weil Trubel, Kommerz und Korruption aus einem Haus des Gebets eine Räuberhöhle gemacht hatten (vgl. Mk 11,15–17). Und er sagte die Zerstörung des Tempels mit erschreckender Genauigkeit voraus (vgl. Lk 19,41–44; Mt 24,15–28) – die sich 70 n. Chr. ereignete.
Ein altbekanntes Muster wiederholte sich.
Israels rein äußerliche Religion hatte schon einmal dafür gesorgt, dass die Herrlichkeit Gottes von Cherubim aus dem Tempel entfernt wurde, nachdem er durch die Babylonier zerstört worden war (vgl. Hes 11,22–23). Das Zerreißen des Vorhangs, der mit Cherubim bestickt war, deutet auf eine ähnliche Weise auf das Versagen und das Ende des Tempelsystems hin (vgl. Tertullians Gegen Marcion).
„Der zerrissene Vorhang macht deutlich, dass alle Gläubigen einen noch nie dagewesenen Zugang zu Gott erhalten haben.“
Der Vorhang war ein Symbol dafür, was wirklich den Zugang zur Gegenwart Gottes versperrt, sowohl zur Zeit Jesu als auch in unserer: Rituale, mit denen man sich abmüht, ohne mit dem Herzen dabei zu sein. Das Zerreißen des Vorhangs war also ein prophetisches Zeichen dafür, dass der irdische Tempel sein Ablaufdatum erreicht hatte.
Durch eine Art göttliche Ironie werden die wahrscheinlich einzigen Zeugen des Zerreißens des Vorhangs Priester gewesen sein, die die Abendopfer im Heiligtum darbrachten. Sie wurden Zeugen der Aufhebung ihres Dienstes, während der Mann, den sie abgelehnt hatten, außerhalb der Stadt geopfert wurde.
2. Zugang zum Vater durch Christus
Durch die Aufhebung des alten Bundes ist eine neue Zeit angebrochen. Der zerrissene Vorhang macht deutlich, dass alle Gläubigen einen noch nie dagewesenen Zugang zu Gott erhalten haben.
Wir bekommen einen Einblick in diese wunderbare Wirklichkeit durch die Worte des Apostels Johannes. Als Jesus sagte: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten!“ (Joh 2,19), erwiderten die Juden, es habe 46 Jahre gedauert den Tempel des Herodes zu errichten (vgl. Joh 2,20). Johannes erklärt uns: „Er aber redete von dem Tempel seines Leibes“ (Joh 2,21). Jesus selbst ist der neue Tempel, das neue Allerheiligste – ohne einen Vorhang, der uns hindern könnte, mit ihm Gemeinschaft zu haben.
Paulus’ Beschreibung der Gemeinde als der neue Tempel zeigt uns einen weiteren Blickwinkel auf (vgl. 1Kor 3,16; Eph 2,21). Der Vorhang im Zentrum des Tempels in Jerusalem war Teil einer Reihe von Hindernissen, die alle von Jesus beseitigt worden sind.
Der äußere Vorhof der Nationen wurde aufgehoben, da Jesus alle Nationen durch den Glauben zu sich zieht. Der Vorhof der Frauen wurde aufgehoben, da Jesus Männer, Frauen, Juden und Griechen zu gleichwertigen Erben Gottes macht (vgl. Gal 3,28). Der Priestervorhof wurde aufgehoben, da Jesus alle Christen zu einem heiligen Priestertum geweiht hat (vgl. 1Petr 2,9). Durch seinen Dienst beseitigte Jesus alle Hindernisse, die den Eingang zum Tempel blockierten und die in dessen Aufbau symbolisiert waren. Der innere Vorhang war einfach der letzte Schritt.
„Der lebendige Gott wohnt nun nicht mehr in einem physischen Gebäude, sondern in der Gemeinde.“
Der lebendige Gott wohnt nun nicht mehr in einem physischen Gebäude, sondern in der Gemeinde. Diese besteht aus den unterschiedlichsten Männern und Frauen, die in Christus vereint sind und in ihm ungehinderten Zugang zum Segen Gottes haben.
3. Christi Eintritt in das himmlische Heiligtum
Obwohl die meisten Theologen an diesem Punkt aufhören, möchte ich eine weitere Vermutung anstellen, was es mit dem Vorhang auf sich haben könnte. Ich stütze mich dabei auf den Hebräerbrief, die einzige andere Stelle im Neuen Testament, die darauf Bezug nimmt.
Der Hebräerbrief zeigt uns, dass das wahre Allerheiligste im Himmel ist. Das irdische ist nur ein Schatten des wahren Heiligtums (vgl. Hebr 9,24). Im Lichte dessen wird das Werk Christi beschrieben:
- Er vergoss sein Blut auf der Erde (vgl. Hebr 13,12).
- Er ist auferstanden und in den Himmel aufgefahren (vgl. Hebr 4,14).
- Er ist in das himmlische Heiligtum eingetreten, um sein eigenes Opfer vor Gott darzubringen (vgl. Hebr 9,24; 10,12–14).
- Dadurch ist er „ins Innere, hinter den Vorhang“ getreten (vgl. Hebr 6,19–20).
Wir lesen sogar, dass sein Fleisch, das auf der Erde zerrissen wurde, uns einen „neuen und lebendigen Weg“ durch den Vorhang in das himmlische Heiligtum gebahnt hat (vgl. Hebr 10,19–20).
Es lässt sich also darauf schließen, dass diese geheimnisvolle Parallele zwischen himmlischem und irdischem Tempel sich auch auf den Vorhang bezieht. An Karfreitag zerriss der Vorhang des irdischen Tempels als Bild für eine himmlische Realität: Jesus ist durch den himmlischen Vorhang getreten, um sein Blut im himmlischen Heiligtum darzubringen.
„Jesus selbst ist der neue Tempel, das neue Allerheiligste – ohne einen Vorhang, der uns hindern könnte, mit ihm Gemeinschaft zu haben.“
Der irdische Vorhang ist zerrissen, der himmlische Vorhang ist offen. „Diese [Hoffnung] halten wir fest als einen sicheren und festen Anker der Seele, der auch hineinreicht ins Innere, hinter den Vorhang“ (Hebr 6,19).
Unbegrenzter Zugang
Kommen wir also zurück zur Offenbarung: Der himmlische Tempel, das himmlische Jerusalem, ist das Ziel von Gottes Volk, das die gesamte Schöpfung umfasst (vgl. Offb 21,2–3). Unser König und Hohepriester, Jesus, ist uns dorthin vorausgegangen. Der Tempel des dreieinigen Gottes ist Gott (vgl. Offb 21,22). Der Tempel steht offen für alle, weil er alles erfüllt. Durch den Glauben kann nun nichts mehr den Zugang versperren.