Cleo Smith und das Versagen der säkularen Moral
Ganz Australien atmete am Morgen des 3. November 2021 erleichtert auf.
Die vierjährige Cleo Smith war 18 Tage zuvor von einem Campingplatz auf mysteriöse Weise aus dem Zelt ihrer Familie verschwunden und man hatte sie nun lebendig und wohlauf gefunden. Man fand sie im Haus eines Mannes namens Terrance Darrell Kelly, der daraufhin angeklagt wurde, Cleo entführt zu haben.
Die Reaktionen auf Cleos Rettung fielen so aus, wie man es erwartet: Erleichterung, außerdem moralische Empörung, dass jemand ein Kind entführt. Sicherlich wäre es schwierig, heute in Australien irgendjemanden zu finden, der die Entführung eines Kindes für vertretbar hält. Es besteht also große Einigkeit, dass Cleos Entführung eine böse Tat war. Aber kann eine säkulare Weltanschauung eine überzeugende Erklärung liefern, warum eine solche Tat falsch ist?
Eine solche Frage mag auf den ersten Blick seltsam wirken: Ist es nicht offensichtlich, dass es falsch ist, ein Kind zu stehlen? Wie kann ein geistig gesunder Mensch das anders sehen? Und doch: Zwar ist die säkulare Welt davon überzeugt, dass Kindesentführung falsch ist. Aber sie hat Schwierigkeiten, überzeugend zu begründen, warum es falsch ist.
Wir wollen das genauer untersuchen und uns ansehen, wie Moral in einer säkularen Weltanschauung funktioniert.
Säkulare Sicht Nr. 1: Menschen können ihre Moralvorstellungen selbst wählen
Im heutigen individualistischen Westen vermitteln uns unsere säkularen Institutionen eine gewisse Vorstellung davon, was richtig und falsch ist (z.B. Menschenrechte und Gleichheit). Aber sie liefern uns keinen Grund, weshalb wir das glauben sollten.
Der Autor Tim Keller verweist auf die hohen moralischen Standards unserer Gesellschaft in Bezug auf Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, und fährt dann fort:
„Doch wenn wir heute nach den Gründen für diese Maßstäbe fragen, können unsere [säkularen] kulturellen Institutionen keine Antwort geben. Alle früheren Gesellschaften konnten auf gemeinsame ethische Grundlagen verweisen – heilige Schriften, alte Traditionen oder die Weisheit der Weisen, die ausdrückten, was als moralische Ordnung der Welt verstanden wurde.“
Und weiter:
„Die moderne, säkulare Moralität ist dagegen ‚selbstautorisierend‘. Jede Moral sollte persönlich oder vielleicht kollektiv gewählt werden. Es gibt keine objektiven Maßstäbe, die man vorfinden würde und übernehmen müsste, also erschaffen wir sie auf die ein oder andere Weise selbst.“[1]
Ich habe dies oft erlebt, sowohl als Student als auch als Universitätsgeistlicher auf einem säkularen Campus. Uni-Studenten – der beste und klügste Teil der säkularen Gesellschaft – vertreten im Allgemeinen die Auffassung, dass wir unsere Moral selbst wählen. Mit anderen Worten: Moral ist relativ, nicht absolut.
Aber obwohl die säkulare Welt behauptet, es gäbe keine moralischen Absolute und Moral sei relativ, verurteilt sie andere Menschen für ihre moralischen Anschauungen. Sie verurteilt Leute, die Kinder entführen. Sie verurteilt weiße Polizisten, die unbewaffnete farbige Männer töten. Doch wenn Moral nicht mehr ist als eine Entscheidung, die der Einzelne oder die Gesellschaft trifft, dann wird sie gleichbedeutend mit einer Mode oder einem Geschmack. Es mag sein, dass es dem „Geschmack“ mancher Leute oder Kulturen entspricht, Kinder zu entführen, so wie sie auch in Kleidungsfragen einen anderen „Geschmack“ haben als wir. So wie es keinen grundsätzlichen Standard gibt, welcher Kleidergeschmack „besser“ ist als andere, so gibt es dann auch keinen grundsätzlichen Standard, welche moralischen Geschmäcker „besser“ sind.
Im Rahmen dieser Sichtweise ist es also nicht möglich, die moralischen Geschmäcker anderer Menschen oder anderer Kulturen zu verurteilen. Und doch verurteilen Menschen unserer säkularen Gesellschaft laufend die Moralvorstellungen anderer, obwohl sie verkünden, Moral sei relativ. Unsere säkulare Welt ist an dieser Stelle inkonsistent und unlogisch. Mit der Auffassung, Moral sei lediglich ein persönliches oder soziales Konstrukt, ergibt unsere moralische Empörung keinen Sinn, und ebenso wenig Moral überhaupt.
Wir benötigen einen anderen Ansatz, um „richtig“ und „falsch“ zu erklären.
Säkulare Sicht Nr. 2: Moral ist wie Verkehrsregeln
Eine andere säkulare Sicht besagt, dass Moral so etwas wie Verkehrsregeln ist: Die Gesellschaft (und unser persönliches Leben) funktioniert besser, wenn wir uns als Gesellschaft auf gemeinsame moralische Werte einigen und uns an sie halten. Dies ist die „Gesellschaftsvertrag“-Theorie der Moral.[2]
So argumentiert der atheistische Journalist Phillip Adams:
„Moral ist einfach nur ein Hilfsmittel. Das sind Richtlinien, die wir wie eine Ampel aufstellen, um die Dinge zu regeln. Um Zusammenstöße zu vermeiden. Um die Dinge in einigermaßen geordneten Bahnen zu halten … Wenn man in einem bedeutungslosen Universum lebt, dann ist offensichtlich, dass es letzten Endes auch keine absolute Moral gibt.“[3]
Aber diese Sicht wirft viele Probleme auf.
Erstens: Wie sollen wir mit anderen Gesellschaften umgehen, die sich andere moralische Regeln ausdenken als wir? Wenn Moral nicht mehr ist als erfundene Regeln, auf die sich unsere Gesellschaft zufällig geeinigt hat, wie können wir dann andere Gesellschaften verurteilen, die sich auf andere Regeln einigen – z.B. dass es in Ordnung ist, Homosexuelle zu töten oder Frauen zu unterdrücken?
Zweitens: Es besteht weiterhin ein Rechtfertigungsproblem. Diese Sicht möchte sagen, dass Regeln gut sind, weil sie das beste Ergebnis für die größte Anzahl von Menschen erzielen. Aber sie erklärt nicht, weshalb das gut sein soll.
Stattdessen kann sie versuchen, Moral zu einem Appell an das Eigeninteresse zu machen, z.B. „Ich sollte andere nicht töten“, denn das ist besser für mich: „Damit ist weniger wahrscheinlich, dass ich selbst getötet werde.“ Aber wenn eine Handlung deswegen schlecht ist, weil sie „mir schadet“, dann wird alles „richtig“, mit dem ich ungestraft durchkomme: eine Affäre hinter dem Rücken meines Ehepartners, ein zwielichtiges Geschäft – all das wird „moralisch gut“.[4]
Drittens: Die allgemeine Erfahrung bezüglich Moral zeigt, dass sie sich nicht am Eigeninteresse orientiert. Wenn wir die moralische Verpflichtung spüren, etwas zu tun (oder nicht zu tun), dann ist das eine Mahnung, auf bestimmte Weise zu handeln, selbst wenn uns das nichts nützt. Man denke an den Whistleblower, der seinen gut bezahlten Job verliert, weil er die geheimen Machenschaften seiner Firma aufdeckt. Oder an einen Franzosen, der im Zweiten Weltkrieg eine jüdische Familie versteckte, obwohl er damit sich und seine Lieben in große Gefahr brachte.[5]
Die Gesellschaftsvertrag-Theorie kann daher keinen triftigen Grund nennen, weshalb es grundsätzlich falsch ist, Eltern ihre geliebten Kinder zu stehlen, sei es nun in Australien oder im Kongo.
Doch was ist mit der Evolution? Gewiss erweist sie sich als überzeugender Ursprung unserer Moral?
Säkulare Sicht Nr. 3: Moral ist ein Produkt der Evolution
Die evolutionäre Moraltheorie (EMT) ist unsere nächste Herausforderung.[6]
Für die EMT ist es kein Problem, einzuräumen, dass unsere moralischen Gefühle nichts weiter als Gefühle sind. Unsere Vorfahren entwickelten gemeinnützige Verhaltensweisen im Umgang mit anderen – nicht, weil dieses Verhalten „gut“ oder „richtig“ wäre, sondern einfach, weil ihnen das half zu überleben.[7] Entsprechend sind wir heute durch unsere Gene so programmiert, dass wir soziales Verhalten als „gut“ betrachten.
Aber wenn Moral nichts weiter ist als ein Gefühl, das unseren Vorfahren einst beim Überleben half, dann sind wir nicht verpflichtet, ihr zu folgen – nicht mehr, als wir anderen Gefühlen verpflichtet sind (die vermutlich deshalb noch existieren, weil sie uns über unsere Gene weitergegeben wurden), z.B. den Gefühlen, die uns Stammesdenken und Gewalt nahelegen.
Wenn die EMT überhaupt etwas belegt, dann belegt sie gleichzeitig zu viel und zu wenig. Sie droht jedes angepasste Verhalten „Moral“ zu nennen. Und sie liefert dennoch keine Begründung, weshalb man jene Strategien, die zufällig mit der traditionellen Moral übereinstimmen, „gut“ nennt.
Säkulare Sicht Nr. 4: Moral beruht allein auf Vernunft
Schließlich besagt ein weiterer gängiger Ansatz, dass einzig die menschliche Vernunft „richtig“ und „falsch“ unterscheiden kann: Das Tun des Guten ist rational, und das Tun des Bösen ist irrational.
Aber auch diese Sicht scheitert auf verschiedenen Ebenen.
Zunächst: Das Tun des Bösen kann rational sein.
Ist es falsch, in einer Prüfung zu betrügen? Ich weiß, dass sowohl Christen als auch säkulare Zeitgenossen das bejahen würden.[8] Aber nun beantworte mir folgende Frage: Ist es rational oder irrational, in einer Prüfung zu betrügen?
Die Antwort ist nicht so eindeutig.
Stell dir vor, du kannst in einer Prüfung betrügen und damit durchkommen, und das bedeutet, dass du diesen richtig guten Job bekommst oder die Note, die du für die Zulassung an der renommierten Universität brauchst – dann mag es ziemlich „vernünftig“ sein, in einer Prüfung zu betrügen.
Das Gleiche könnte man für ein lukratives Geschäft sagen: Warum nicht die Vorschriften umgehen, wenn du dafür am Ende ein paar Tausend mehr in der Tasche hast? Oder wenn du in einer unglücklichen Ehe lebst – warum sich nicht auf eine außereheliche Affäre einlassen, wenn du dir sicher bist, damit durchzukommen? (Offenbar denken Millionen von Verheirateten so: Es gibt Unternehmen, die aus der ehelichen Untreue ein Geschäft machen und Affären vermitteln.)
Kurz gesagt, wenn die Vorteile, etwas Illegales/Unmoralisches zu tun, größer sind als das Risiko, erwischt zu werden – warum es nicht tun?
Das ist eine rationale Kalkulation. Eine rationale Kalkulation, die geradewegs zum Bösen führt.
Auf der anderen Seite: Es kann irrational sein, das Gute zu tun.
Der jüdische Kommentator Dennis Prager fragt:
„War es rational oder irrational für einen Nichtjuden, wenn er im Zweiten Weltkrieg unter dem Nazi-Regime sein Leben riskierte, um einen Juden zu verstecken? Uns ist allen klar, dass dies moralische Größe auf höchstem Niveau ist. Aber war es vernünftig?“
Er fährt fort:
„Nicht wirklich. Man kann kaum etwas Vernünftigeres tun als Selbsterhaltung. Darüber hinaus habe ich in all den Studien, die ich über nichtjüdische Juden-Retter während des Holocausts gelesen habe – und ich habe viele gelesen –, niemals gelesen, dass irgendein Retter sein Handeln damit begründet hätte, es sei eine vernünftige oder rationale Sache gewesen. Kein einziger.“
Der menschlichen Vernunft ist daher nicht zu trauen, wenn man herausfinden will, was „gut“ und „böse“ ist. Deshalb ist sie als Grundlage für die Moral nicht geeignet.
Ein Hinweis auf Gott
Die säkulare Sicht von Moral kann keine Antwort auf die ganz grundlegende Frage geben, warum es falsch ist, ein Kind zu entführen. Die christliche Sicht kann das.[9]
„Die Bibel betrachtet ‚richtig‘ und ‚falsch‘ nicht als soziale Konstrukte oder bedeutungslose Illusionen. Aus biblischer Perspektive wurde diese Unterscheidung von einem Gott, der in sich selbst moralisch ist, in das Gewebe der Realität hineingewebt.“
Die Bibel betrachtet „richtig“ und „falsch“ nicht als soziale Konstrukte oder bedeutungslose Illusionen. Aus biblischer Perspektive wurde diese Unterscheidung von einem Gott, der in sich selbst moralisch ist, in das Gewebe der Realität hineingewebt.
Die christliche Sicht auf die Realität kann eine stimmige Antwort geben, weshalb es falsch ist, ein vierjähriges Kind zu entführen: Stehlen verstößt gegen Gottes objektives moralisches Gesetz, das für die Menschheit bindend ist (vgl. 2Mose 20,15; 1Tim 1,10).
Während das Christentum immer mehr aus den westlichen Ländern verschwindet, „wissen“ säkulare Menschen immer noch, dass es falsch ist, ein Kind zu entführen: Die Entführung von Cleo Smith rief in unserer Kultur einen Schrei der Empörung hervor. Und doch bleibt für unsere säkulare Kultur die grundlegende Frage ungeklärt, warum Cleos Entführung falsch war.
Hier sehen wir ein Versagen der säkularen Moral.
[1] Timothy Keller, Glauben wozu? Religion im Zeitalter der Skepsis, Gießen: Brunnen, 2019, S. 231.
[2] Vgl. ebd. S.235–236 und 369–370.
[3] Phillip Adams, Adams vs. God – The Rematch, Melbourne University Publishing, 2012.
[4] Keller, Glauben wozu?, S. 370.
[5] Ebd.
[6] Phillip Gorski, „Where Do Morals Come From?“, online unter: *Public Books, 15.02.*2016, https://www.publicbooks.org/where-do-morals-come-from/ (Stand: 04.03.2022). Zitiert in Keller, Glauben wozu?, S. 234–235.
[7] Ich lasse an dieser Stelle die andere Frage außen vor, nämlich warum die Fürsorge für Menschen, die nicht zu unserem Stamm gehören, (dies wird von säkularer Seite üblicherweise als moralischer Wert betrachtet) uns beim Überleben geholfen haben sollte. Vgl. Keller, Glauben wozu?, S. 234–235.
[8] Die Beispiele in diesem Abschnitt verdanke ich dem jüdischen Sozialkommentator Dennis Prager, vgl. sein Video zu diesem Thema.
[9] Auch wenn dies kein zwingendes Argument für die Existenz Gottes ist, so ist es doch ein Hinweis darauf, dass er existiert.