Mit Gegnern Freundschaft schließen?

Bavinck und sein „kritischer“ Freund

Artikel von James Eglinton
8. April 2022 — 9 Min Lesedauer

Vor zwei Jahren verstarb Ruth Bader Ginsburg, Richterin am US-amerikanischen Supreme Court. Ihr Tod löste neues öffentliches Interesse an einem besonderen Thema aus: dem Wert von Freundschaften zwischen Menschen, deren Ansichten über das Leben und die Welt weit auseinanderklaffen. Die Liberale Ginsburg hatte während ihres Berufslebens eine langjährige Freundschaft zu ihrem Richterkollegen Antonin Scalia gepflegt – einem Menschen, der (zumindest in ideologischer Hinsicht) kaum unterschiedlicher hätte sein können.

Die Freundschaft der beiden erstreckte sich auch auf ihre Familien, die manchmal miteinander Silvester feierten. Es gibt ein denkwürdiges Foto aus einem gemeinsamen Familienurlaub in Indien, auf dem man Scalia und Ginsburg zusammen auf einem Elefanten reiten sieht. In einer Zeit, in der Freund oft als gleichbedeutend verstanden wird mit Jemand, der die Welt genauso sieht wie ich, ist dies ein bemerkenswertes Bild.

Ihre ungewöhnliche Freundschaft war in den letzten Jahren das Thema zahlreicher Artikel, Radiosendungen und sogar einer Oper. Ihr merkwürdig gegenkulturelles Beispiel ließ die Leute fragen: Was finden sie an einer derartigen Freundschaft? Wie kann das funktionieren? Blieben sie Freunde, weil sie die Unterschiede ignorierten, oder gedieh ihre Beziehung gerade wegen dieser Unterschiede? Wie verstanden sie allgemein das Wesen von Freundschaft? Brauche ich Freunde aus anderen ideologischen Lagern? Natürlich sind diese Fragen auch für Christen relevant: Sollten auch wir solche Freundschaften schätzen?

Ein seltsames Paar

Um diese Fragen zu beantworten, können wir eine ähnlich verblüffende Freundschaft zwischen einem Christen und einem radikalen Skeptiker als Beispiel heranziehen – zwischen Herman Bavinck (1854–1921), einem der größten christlichen Theologen des 20. Jahrhunderts, und seinem lebenslangen Freund Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936), einem liberalen Skeptiker, der später zum Islam konvertierte. Bavinck und Snouck waren in ihrem Kontext, den Niederlanden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ebenfalls hochrangige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die aufgrund ihrer tiefen Freundschaft so etwas wie ein seltsames Paar waren.

Beide, sowohl Bavinck als auch Snouck, waren Pastorensöhne. Sie lernten sich in den 1870er Jahren als Studenten an der Universität Leiden kennen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten hätte ihr Leben aber kaum unterschiedlicher verlaufen können. Snoucks Vater war Pastor der etablierten Niederländisch-reformierten Kirche gewesen. Er wurde aber seines Amts enthoben, weil er seine erste Ehefrau „treulos verlassen“ hatte und mit einer jüngeren Frau (Christiaans Mutter) nach London durchgebrannt war. Die Familie Snouck Hurgorje führte einen Doppelnamen und gehörte zum niederländischen Adel. Christiaan war ein junger Aristokrat, der allerdings einem fragwürdigen Zweig des namhaften Familienstammbaumes angehörte.

Bavinck dagegen kam aus bescheideneren Verhältnissen. Hermans Vater Jan war Sohn eines Zimmermanns und wurde Pastor in der kleineren, theologisch konservativen Christlich-reformierten Kirche.

Nachdem Herman und Christiaan als Studenten Freundschaft geschlossen hatten, blieben sie für den Rest ihres Lebens in engem Kontakt, obwohl ihre Ansichten über die Jahre nur noch weiter auseinanderdrifteten. Wir haben kein Foto, auf dem sie gemeinsam auf einem Elefanten reiten. Doch wir haben einen lebenslangen Briefwechsel, in dem sie sich über persönliche Kämpfe austauschten, einander in Fragen des Glaubens und der Politik zu überzeugen suchten, die Schriften des anderen lasen und kritisierten, und die Freuden und Herausforderungen des Lebens miteinander teilten.

„Bavinck und Snouck fordern uns heraus, aus christlicher Sicht über das Wesen von Freundschaft nachzudenken – inmitten einer Kultur, in der Freundschaft zunehmend im Gleichschritt mit vorgefertigten politischen Ideologien zu gehen hat.“
 

Diese Briefe geben Einblick in eine reiche und offene Freundschaft zwischen zwei tiefgründigen Denkern und Freunden, die radikal unterschiedliche Ansichten über das Christentum hatten. Sie fordern uns heraus, aus christlicher Sicht über das Wesen von Freundschaft nachzudenken – inmitten einer Kultur, in der Freundschaft zunehmend im Gleichschritt mit vorgefertigten politischen Ideologien zu gehen hat und in der wir ermutigt werden, uns unsere Freunde in der eigenen Echokammer zu suchen.

Ein pragmatischer Anfang

Während ihrer Studentenjahre wurde das Gepräge der Universität Leiden – der ältesten und renommiertesten Universität der Niederlande – von Aristokratensöhnen beherrscht. Der typische Leidener Student der 1870er Jahre trug einen Doppelnamen, entstammte einer Adelsfamilie und war mit vielen seiner Mitstudenten verwandt oder verschwägert. Snouck gehörte im Grunde in diese Umgebung, Bavinck dagegen nicht.

Und doch fanden beide schnell heraus, dass sie hier Außenseiter waren: Bavincks familiärer Hintergrund war nicht hochkarätig genug, und Snoucks Familie war mit einem Skandal belastet. Zudem standen die beiden jungen Männer der liberalen Theologie ihrer Professoren kritisch gegenüber: Bavinck hing in Lehre und Leben der orthodoxen Lehrmeinung an, wohingegen dem radikalen Zweifler Snouck die forsche und glatte Heterodoxie der Professoren suspekt war.

Doch obwohl sie (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) Außenseiter waren, wurden Bavinck und Snouck nicht deshalb Freunde, weil es keine Alternativen gegeben hätte: Bavinck war nicht der einzige theologisch konservative Student in Leiden, und Snouck fand Anschluss an eine Gruppe anderer liberaler Aristokraten. Warum entschlossen sie sich trotzdem, in diese spezielle Freundschaft zu investieren?

Studenten mussten in den ersten zwei Jahren in Leiden allgemeine Kurse belegen, bevor sie ein Hauptfach wählen konnten. In der Zeit lernten sich Bavinck und Snouck durch einen dieser Kurse kennen – einen Arabischkurs, den Bavinck trocken und schwierig fand. Ihre Freundschaft begann, als sie Lernpartner wurden. Schon bald wurde deutlich, dass sie sich sehr füreinander einsetzten.

Im Jahr 1878 legten die beiden jungen Männer das gleiche Examen ab. Bavinck erhielt ein cum laude, während Snouck lediglich bestand. Darin sah Bavinck eine grobe Ungerechtigkeit, die er auf die persönliche Abneigung eines Professors gegen seinen Freund zurückführte. Er weigerte sich so lange, sein Abschlusszeugnis entgegenzunehmen, bis sein cum laude entfernt worden war. Snouck schrieb daraufhin an Bavinck, dass „mir eine solche Freundschaft unendlich viel mehr bedeutet als Worte auf einem Stück Papier“. Am Ende ihrer Studienzeit war ihre Freundschaft zu einer starken Loyalität geworden.

Unterschiedliche Richtungen

Im weiteren Verlauf ihres Lebens gingen Bavinck und Snouck unterschiedliche Wege: Bavinck wurde ein berühmter Theologe, der seine eigene Ausprägung einer orthodoxen, sozial engagierten christlichen Frömmigkeit bis zum Schluss auslebte. Snouck erwarb einen Doktortitel in Islamwissenschaften. Er reiste nach Mekka, wobei er unterwegs zum Islam konvertierte, um Zutritt zu der nur für Muslime zugänglichen Stadt zu bekommen. Er machte dort einige der ersten Fotos von Mekka während der Pilgerfahrt (Hadsch) und veröffentlichte sie im Anschluss in einem Buch, das ihm internationalen Ruhm einbrachte.

Snouck lebte viele Jahre in der Region, die wir heute als Indonesien kennen, und zwar als Muslim (unter dem Namen Abd al-Ghaffar). Er heiratete muslimische Frauen und wurde Vater muslimischer Kinder. Dann kehrte er in die Niederlande zurück, wo er wieder seine liberale niederländische Identität annahm und eine Niederländerin heiratete. Er war zweifellos der berühmteste Orientalist seiner Generation und war seinerzeit viel bekannter als sein Freund, der Theologe (wobei sich das inzwischen geändert hat).

Trotz dieser beachtlichen Gegensätze, die zwischen beiden in Bezug auf Glauben und Leben bestanden, blieben Bavinck und Snouck lebenslang in regelmäßigem Kontakt, sowohl persönlich als auch brieflich. In ihren Briefen wird deutlich, dass beide eine „kritische Freundschaft“ schätzten. Sie waren der Meinung, dass die eigenen Ansichten schnell schal werden können, wenn man nur von Menschen umgeben ist, die ebenso denken wie man selbst.

„Ein wirklich klarer Denker braucht einen engen Freund, dem er vertrauen kann, der aber seine tiefsten Grundüberzeugungen nicht teilt.“
 

Ein wirklich klarer Denker, so meinten sie, braucht einen engen Freund, dem er vertrauen kann, der aber seine tiefsten Grundüberzeugungen nicht teilt. Bavinck beschrieb ihre Freundschaft einmal als eine unter „Gegnern, die zugleich Freunde sind“.

Aus diesem Grund lasen und diskutierten sie gegenseitig ihre Schriften – was oft zu massiven Unstimmigkeiten zwischen ihnen führte. Ihre Debatten über den Islam, die Säkularisierung, die Autorität der Schrift und vor allem über den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens lassen keinen Zweifel daran, dass zwischen ihren Überzeugungen Welten lagen.

Wie ich in meinem Buch Bavinck: A Critical Biography zeige, wusste Bavinck wahrscheinlich nichts von Snoucks islamischem Doppelleben in Mekka und Indonesien. Ihm schien z.B. nicht klar zu sein, dass Snouck Muslim werden musste, um Mekka betreten zu dürfen. Es hat auch den Anschein, dass Snouck Bavinck anlog, als er wegen seiner Ehe mit einem muslimischen Teenagermädchen zur Rede gestellt wurde. Offensichtlich war ihre Freundschaft nicht immer leicht aufrechtzuerhalten.

Und doch bestand sie fort. Bavincks Buch Philosophie der Offenbarung ist ein apologetisches Werk, das sich an Skeptiker richtet. Es scheint – zumindest teilweise – geschrieben worden zu sein, um Snouck zu überzeugen. Allerdings vermitteln ihre späteren Diskussionen über das Buch nicht den Eindruck, als sei er durch Bavincks Argumentation gewonnen worden.

Obwohl sich beide dessen bewusst waren, dass die Distanz zwischen ihnen über die Jahre nur zu wachsen schien, hielten sie bis zum Schluss an ihrer „kritischen Freundschaft“ fest. Snouck schrieb z.B. am Tag vor Bavincks Tod an dessen Frau, Johanna Bavinck-Schippers, über seinen letzten Besuch an Bavincks Sterbebett: „Ich bin immer noch tief bewegt von meinem letzten Besuch: niedergeschlagen, aber auch erbaut. Ich habe meinen guten Freund niemals anders als fromm gekannt, von 1874 bis 1921.“

Eine solche Freundschaft hat mit Sicherheit etwas Faszinierendes. Die Geschichte von Bavinck und Snouck zeigt uns zwei Menschen, die die gleichen Fragen stellten, sowohl theologisch als auch in Bezug auf die Gesellschaft. Doch sie taten das mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen und Blickwinkeln: Ist es möglich, Gott zu erkennen? Wenn ja, wie? Ist Religion nur eine Frage menschlicher Kultur (Snouck) oder ist sie eine Gegebenheit, die auf etwas Höheres verweist (Bavinck)?

Über ihr Leben hinweg betrachtet war diese Freundschaft ein ehrliches – und sehr langes – Gespräch zwischen zwei Denkern, die einer zweifachen Motivation folgten: den anderen zu überzeugen und von ihm zu lernen. Dieses Beispiel bleibt auch ein Jahrhundert später noch lehrreich. Es trug nicht unwesentlich dazu bei, dass aus Bavinck der kompetente, scharfsinnige und überzeugende Autor wurde, als der er heute von vielen geschätzt wird. Und doch bleibt es ein allzu seltenes Beispiel – möglicherweise ebenso selten, wie man rivalisierende Richter auf dem gleichen Elefanten sitzen sieht.