Predige auch die anstößigen Texte

Artikel von Jeff Medders
30. März 2022 — 6 Min Lesedauer

Wann hast du zum letzten Mal eine Predigt über 1. Mose 38 gehört? Könntest du aus dem Kopf schildern, was dort steht? Die Geschichte aus dem darauffolgenden Kapitel, aus 1. Mose 39, kennst du sicher gut: Joseph erteilt den sexuellen Avancen von Potiphars Frau eine Absage. Aber was steht in 1. Mose 38? Es ist in der Tat eine anstößige Geschichte, schmutzig, widerlich und unbequem. 1. Mose 38 ist nicht jugendfrei – doch nicht darüber zu predigen, ist gefährlich.

Die Erzählung, wie der gerechte Joseph sich Potiphars Frau entzieht, ist in Podcasts und auf Kanzeln immer wieder Thema. Aber wenn wir nicht aufpassen, können wir zu der irrtümlichen Annahme verleiten, dass sexuelle Sünde immer nur in einem bestimmten Setting stattfindet – nämlich dem, wo ein Mann den Verführungsversuchen einer Frau widerstehen muss. Die Gefahr besteht, dass wir unbewusst ein Bild der Frau als Ursache sexueller Sünde zeichnen. #ChurchToo existiert nicht ohne Grund. Um sexuelle Sünde zu identifizieren, brauchen wir einen breiteren Blick. 1. Mose 38 macht uns im Kontext von 1. Mose 39 auf die sexuelle Sünde von Männern aufmerksam – Onan und Juda – und auf die Sünde von Missbrauch und Vernachlässigung, die Tamar erleidet.

Predige auch die anstößigen Texte – sie erzählen das reale Leben

Warum wir keine Predigten über 1. Mose 38 hören, ist offensichtlich. Wer von uns ist scharf darauf, über einen Mann zu reden, dem befohlen wird, seiner verwitweten Schwägerin gemäß der kulturellen Gepflogenheit Kinder zu zeugen? Wer möchte schon die Aufmerksamkeit auf Onans Coitus interruptus und auf den Samen am Boden lenken? Wer freut sich auf einen homiletischen Moment über Juda, der seine Schwiegertochter Tamar schwängert, weil er sie für eine kultische Prostituierte hält? Kein Theologiestudent träumt wohl davon, eines Tages über diese Texte auf der Kanzel predigen zu dürfen. Und hier fängt das Problem an.

Wir wissen, dass jeder Abschnitt der Heiligen Schrift von Gott stammt und dazu dient, dass wir als Christen reifen (2Tim 3,16; Mt 4,4). Deswegen ist es unbedingt notwendig, dass Pastoren das gesamte Wort predigen – zu gelegener oder ungelegener Zeit, bequeme oder unbequeme Texte.

Unsere Gemeinden müssen den grauenhaften Bericht aus 1. Mose 38 hören, denn das ist die Welt, in der wir leben. Sexueller Missbrauch, Lügen, Skandale, Heuchelei und Missbrauchsopfer – dieses Drama aus dem alten Orient liegt uns gar nicht so fern. Du denkst, die Menschen wollen von diesen fürchterlichen Skandalen nichts wissen? Du täuschst dich. Nicht ohne Grund sind Skandale und widerliches Verhalten das Hauptthema von einigen der beliebtesten Sendungen wie Breaking Bad, The Morning Show oder Tiger King (allesamt bekannte amerikanische Serien). Das ist unsere Lebenswirklichkeit. Und auch die Ortsgemeinde ist betroffen. Gott spricht diese Sünden und Traumata an. Texte wie 1. Mose 38 werfen Licht auf sexuelle Sünde, Missbrauch und Vernachlässigung und rufen zu Umkehr und Gerechtigkeit auf.

Anstößige Texte sind ein Ruf zu Buße und Gerechtigkeit

Unsere Gemeinden müssen „1. Mose 38-Predigten“ hören. In jeder Gemeinde gibt es Menschen, die die Sünden von Onan und Juda begangen haben – sexuelles Fehlverhalten, Unzucht oder Abweichungen vom Muster der Ehe eines Mannes mit einer Frau. „Solche sind etliche von euch gewesen“ (1Kor 6,11). Manche Männer und Frauen sind Sklaven digitaler Prostitution und brauchen den schockierenden Bericht in 1. Mose 38, um zu einem Wandel im Licht zu kommen.

Aber auch die andere Seite von 1. Mose 38 dürfen wir nicht vergessen. In unseren Gemeinden haben wir Mitglieder und Besucher, die missbraucht worden sind. Wie Tamar halten sie Ausschau nach Hoffnung und Gerechtigkeit. Andere in unseren Gemeinden denken, dass Missbrauch und sexuelle Fehltritte nur „da draußen“ vorkommen. Sie haben keine Ahnung, dass die Missbrauchsopfer auf der anderen Seite des Ganges sitzen könnten. Als Pastoren müssen wir für diese Menschen und in diese Situationen hinein predigen. Gott ist letztendlich der Richter. Aber wir Pastoren müssen die Missbrauchs-Täter zur Buße rufen und Gerechtigkeit für die Opfer verkünden. Um diese Dinge geht es in 1. Mose 38.

„Gott begegnet uns ganz unten. Dort, in den Trümmern unseres Lebens, zeigt Gott uns den Ausweg.“
 

Predigten über 1. Mose 39, wo Joseph vor Potiphars Frau flieht und die Fetzen seines zerrissenen Umhangs im Wind flattern, hören wir häufiger. Das Wort vom Widerstand gegen die Versuchung ist notwendig. „Treibt nicht Vorsorge für das Fleisch“ (Röm 13,14 ELB). Aber was ist mit dem Mann, der nicht weggerannt ist? Was ist mit der Frau, die ihrem Joseph getextet hat, dass er vorbeikommen kann, weil ihr Mann gerade das Haus verlassen hat? In diesen Fällen hilft uns 1. Mose 38.

Mit 1. Mose 38 und 1. Mose 39 kannst du Nachfolgern Jesu helfen, sowohl sexuelle Versuchungen zu vermeiden (Joseph) als auch Buße zu tun, wenn sie andere sexuell ausgebeutet haben (Onan und Juda). Predigten über das Vermeiden von Sünde ganz allgemein zu halten oder zu hören ist leicht. Aber wir Pastoren müssen unsere Gemeindemitglieder dazu auffordern, wie Juda ihre konkreten Sünden zu bekennen und zu lassen. Als Licht in die Sache kommt, bekennt er: „Sie ist gerechter als ich“ (1Mose 38,26).

Solche anstößigen Texte rufen uns zur Buße. Missbrauchs-Täter wie Onan werden zur Buße gerufen. Wir sollten nicht übersehen, dass Onan tot umfällt. Dieses ernste Wort offenbart uns Gottes Herz für die Missbrauchten. Gott sieht. Er lässt das Böse nicht ungestraft durchgehen.

Wir lieben die Höhepunkte von Joseph und 1. Mose 39. Aber wir brauchen auch die Tiefpunkte von 1. Mose 38. Gott begegnet uns ganz unten. Dort, in den Trümmern unseres Lebens, zeigt Gott uns den Ausweg. Unsere sexuelle Vergangenheit muss nicht das Ende der Geschichte sein.

Tamar und Joseph: Die Gerechtigkeit siegt, selbst wenn sie verliert

Als sich Tamars Bauch durch Judas Zwillinge zu runden beginnt – noch ahnt er nicht, dass sie von ihm sind –, will er Tamar wegen des (augenscheinlichen) sexuellen Verrats an der Familie verbrennen lassen. Was tut Tamar? Sie sagt: „Der Typ, der mich geschwängert hat, hat sein Handy im Puff vergessen.“ Und siehe da, es gehört Juda. Es ist seine Handyhülle, sein Hintergrundbild, sein Klingelton. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan. Juda tut Buße. Juda bekennt. Tamar wird freigesprochen und rehabilitiert. Sie wird mit Kindern gesegnet, von denen zuerst Boas, dann David und schließlich Jesus von Nazareth abstammen.

„Gott erlöst und verwandelt, was uns unbegreiflich und ausweglos erscheint.“
 

Ähnlich wie in der Geschichte von Joseph, der wegen seines gerechten Handelns im Gefängnis landet, siegt am Ende der lange Atem der Gerechtigkeit. Tamar gehört in die lange Geschichte der Erlösung – nicht nur am Schluss von 1. Mose 38 oder bei der Nachlese auf Boas’ Feld oder wenn Goliaths Kopf im Terebinthental fällt. Die Erlösung wird vollendet durch Tamars ultimativen Nachkommen, der gerecht lebt, gerecht handelt, Barmherzigkeit liebt, am Kreuz für Sünder stirbt und zu unserer Rechtfertigung aufersteht (Mt 1,3).

1. Mose 38 zeigt uns, dass die Gerechtigkeit in der großen Erlösungserzählung siegen wird. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht in einer Generation, vielleicht erst am Ende des Zeitalters, aber sie kommt so sicher wie der auferstandene Sohn. Wie Tamar wird auch Jesus misshandelt, missbraucht, entehrt – und gerechtfertigt. Gott erlöst und verwandelt, was uns unbegreiflich und ausweglos erscheint.

Die Gerechtigkeit siegt, selbst wenn sie verliert.