Reformierte Theologie

Artikel von Carl R. Trueman
28. März 2022 — 11 Min Lesedauer

Was mit Reformierter Theologie gemeint ist

Im aktuellen gemeindlichen und theologischen Sprachgebrauch hat der Begriff „Reformierte Theologie“ eine ganze Bandbreite von Bedeutungen. Zum einen kann er sich auf jede Variante des Protestantismus beziehen, deren Anhänger Gottes souveränes Wirken in der Errettung betonen, anstatt den freien Willen des Menschen.[1]

Im engeren Sinn bezieht sich der Begriff auf jene protestantischen Kirchen, die sich zu den Drei Formen der Einigkeit (Heidelberger Katechismus, Lehrregeln von Dordrecht und Niederländisches Glaubensbekenntnis, Anm. d. Übers.), den Westminster Standards oder dem baptistischen Glaubensbekenntnis von 1689 bekennen und diese lehren.

Die Geschichte Reformierter Theologie

Die Reformierten Kirchen führen ihre Ursprünge auf die Schweizer Reformation zurück. Besonders wichtig waren hierbei die Erneuerungsbestrebungen in der Stadt Zürich unter der Leitung Ulrich Zwinglis (1484–1531). Theologisch unterschied sich Zwinglis von Luthers Reformation durch ihren Fokus auf die Schrift als normierende Richtschnur der liturgischen Praxis (deshalb wurden z.B. aus den Zürcher Kirchen Buntglasfenster entfernt und Gottesdienste sehr einfach und Wort-zentriert gestaltet) und die Ablehnung der Lehre der Realpräsenz im Abendmahl. Letztere führte auf dem Marburger Religionsgespräch 1529 offiziell zum Bruch zwischen Luther und Zwingli und dadurch zur dauerhaften Trennung der Reformierten und der Lutherischen Kirchen.

Obgleich Zwingli den ersten, prägenden Impuls für die Reformierte Theologie gab, spielten andere bald eine größere Rolle. Heinrich Bullinger führte nach Zwinglis Tod die Zürcher Reformation fort. Martin Bucer erwirkte vergleichbare Reformen in Straßburg. Männer wie Johannes Calvin, Pierre Voiret und Guillaume Farel wirkten in Genf und seinem Umland.

Im späteren 16. Jahrhundert breiteten sich die Reformierten Kirchen in Frankreich, den Niederlanden, England und Schottland aus, gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden Reformierte Kirchen in ganz Europa gegründet.

Zu dieser Zeit etablierte sich die Reformierte Theologie zudem an den Universitäten, was zum Ende des 16. und durch das 17. Jahrhundert hindurch zur Blüte des Reformierten Gedankenguts führte. Als ihre wohl größten Vertreter sind John Owen in England und Gisbertus Voetius in den Niederlanden zu nennen. Doch diese so fruchtbare Phase sollte nicht von Dauer sein. Der Einfluss der aufklärerischen Denkmuster auf die Universitäten am Ende des 17. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass die Reformierte Theologie, die in der traditionellen Metaphysik verwurzelt war, bald entweder bis zur Unkenntlichkeit verändert oder aus den Lehrplänen verdrängt wurde.

In der jüngeren Geschichte spielte die Reformierte Theologie eine bedeutende Rolle im politischen und kulturellen Leben der Niederlande – insbesondere durch Abraham Kuyper, der eine Denomination, eine Zeitung, eine Universität und eine politische Partei gründete. Darüber hinaus war er sogar Premierminister. Mit Kuyper entwickelte die Reformierte Theologie Ambitionen im Bereich der Kultur, wie es sie seit der Reformation im 16. Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte. Auch fand sie in Herman Bavinck (Kuypers Freund und Mitstreiter) einen ihrer wortgewandtesten und begabtesten Theologen. Bavincks vierbändige Reformierte Dogmatik steht für den letzten, groß angelegten Versuch einer umfassenden Darlegung Reformierter Theologie im Dialog mit der Moderne. Bedauernswert ist dagegen, dass die Niederländisch-Reformierte Theologie in Südafrika teilweise als Rechtfertigung für die Apartheid diente, obwohl sie in ihrer liberaleren Form auch eine Grundlage für Regimegegner wie Alan Boesak war.

In Schottland boten die Free Church of Scotland und ihre Bildungseinrichtung, das New College, vor allem durch bedeutende Theologen wie William Cunningham und James Bannerman theologische Führung. Im Amerika des 19. Jahrhunderts war das Princeton Theological Seminary das Zentrum Reformierter Theologie, seine beiden bedeutendsten Dozenten, Charles Hodge und Benjamin Breckinridge Warfield, leisteten wichtige theologische Beiträge, speziell zu Fragen der Evolutionslehre und der Autorität der Schrift. Darüber hinaus wurde Korea und (nach der Teilung) Südkorea dank amerikanischer Missionsbemühungen zu einem Zentrum der Reformierten Theologie in der nicht-westlichen Welt.

Der bedeutendste Theologe der Mitte des 20. Jahrhunderts war Karl Barth, auch wenn seine Theologie (besonders in Fragen der Erwählung und des Schriftverständnisses) signifikant von der Reformierten Bekenntnistradition abweicht. Nach der Ära Bavinck wurden die rechtgläubigeren und Bekenntnis-gebundenen Strömungen der Reformierten Theologie eher von Theologen außerhalb der großen Konfessionen und Akademien vertreten, die im Wesentlichen die früheren Traditionen wieder aufgriffen. Eine Ausnahme hiervon bildet das Spätwerk des anglikanischen Theologen John Webster, welcher an den Universitäten von Oxford, Aberdeen und schließlich St. Andrews unterrichtete.

Was die Reformierte Theologie auszeichnet

Wie das Luthertum und der Anglikanismus sieht sich die Reformierte Theologie den typisch protestantischen Lehren der Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben, der Genugsamkeit der Schrift und ihrer normativen Autorität, wie auch einer grundsätzlichen Ablehnung des Sakramentalsystems und des Lehramtes der Kirche verpflichtet.

Erlösung

Wie Luther folgten auch die Reformierten Augustinus und der mittelalterlichen, anti-pelagianischen Tradition, indem sie die Souveränität Gottes bei der Erlösung durch Vorherbestimmung und Gnadenwahl von Ewigkeit her betonten. Mit dem ging der Glaube an die Gewichtigkeit der Erbsünde und der menschlichen Verderbtheit einher, welche es dem Menschen unmöglich macht, seine eigene Errettung zu bewirken. Unter Reformierten Theologen findet sich dennoch ein gewisses Spektrum an unterschiedlichen Meinungen, ob besagte Vorherbestimmung als einfach (Gottes Erwählung einiger zum ewigen Leben und das daraus resultierende „Übergehen“ anderer) oder doppelt (Gottes aktiver Entschluss, manche zu erwählen und andere zu verwerfen) zu verstehen ist, wie auch bezüglich des Infra- oder Supralapsarismus (die Frage, ob Gott in seiner ewigen Erwählung Menschen als hypothetisch gefallen oder nicht gefallen erdacht hat).

„Die Reformierte Theologie sieht sich den typisch protestantischen Lehren der Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben, der Genugsamkeit der Schrift und ihrer normativen Autorität, wie auch einer grundsätzlichen Ablehnung des Sakramentalsystems und des Lehramtes der Kirche verpflichtet.“
 

Auch beim Thema des Sühneopfers Christi finden sich unterschiedliche Ansichten über dessen Umfang.[2] Wenngleich alle rechtgläubigen Ausprägungen Reformierter Theologie das Konzept einer universellen Erlösung ablehnen, ist die Geschichte der Reformierten Tradition seit der Reformation von Debatten über die hypothetische Genugsamkeit und Intention des Sühneopfers gekennzeichnet. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Aufkommen des Amyraldismus, welcher seinen Ursprung an der Akademie von Saumur in Frankreich hatte. Teile des dortigen Lehrkörpers vertraten eine hypothetisch universelle Reichweite des Sühneopfers, ohne aber eine universelle Erlösung zu lehren.

Sakramente und Christologie

Im Zentrum des Unterschieds zwischen den beiden Haupttraditionen des Protestantismus, den Reformierten und den Lutheranern, stehen die Sakramente. Reformierte verstehen die Taufe im Kontext des Bundes zwischen Gott und den Gläubigen als Ersatz der Beschneidung und Rückschau auf Gottes einseitige Hingabe zu seinem Volk im Bund der Gnade. Deshalb praktizieren die Reformierten (wie auch die Lutheraner) die Kindertaufe, sehen diese (im Gegensatz zu den Lutheranern) aber nicht als Moment der Wiedergeburt, sondern als Zeichen des Eintritts in die sichtbare Kirche an. Reformierte Baptisten lehnen die Kindertaufe ab, behalten aber das Bundes-bezogene Verständnis bei, welches Gott als den Handelnden in den Vordergrund stellt, anstatt die Taufe einfach auf ein nach außen gerichtetes Glaubensbekenntnis zu reduzieren.

Über das Abendmahl finden sich unterschiedliche Ansichten innerhalb der Reformierten Tradition. Zwinglis Verständnis als Gedächtnishandlung der christlichen Gemeinschaft wie auch Calvins Position werden innerhalb der Bekenntnistradition vertreten. Den Gegenpunkt dazu stellen primär Luther und das Luthertum. Luther verfocht die Realpräsenz des ganzen Christus in seiner göttlichen wie auch seiner menschlichen Natur im Brot und Wein des Abendmahls. Spätere lutherische Theologie drückte dies folgendermaßen aus: „Der gesamte Christus ist im, mit und unterdem Brot und Wein gegenwärtig.“ Der Schlüssel hierfür liegt in der Vorstellung, dass in der Inkarnation die göttlichen Eigenschaften direkt an die menschliche Natur übertragen wurden und es der menschlichen Natur Jesu dadurch ermöglichten, an der Allgegenwärtigkeit seiner göttlichen Natur teilzuhaben, wodurch sie im Brot und Wein gegenwärtig sein kann. Zudem beharrten die Lutheraner darauf, dass Ungläubige beim Empfang des Sakraments Christus wirklich empfangen – jedoch zu ihrer Verdammnis.

Die Reformierte Sicht lehnt die Vorstellung der direkten Übertragung der Attribute ab, vertritt aber die Auffassung, dass die Eigenschaften der göttlichen Natur Christi an die Person Christi als Mittler und dadurch nur indirekt an seine menschliche Natur kommuniziert wurden. Obwohl Christi Gottheit wirklich mit seiner Menschheit vereint ist, ist sie durch diese nicht limitiert. Daher bleibt die Menschheit Christi begrenzt und nicht dazu befähigt, im Brot und Wein gegenwärtig zu sein, sitzt sie doch gerade zur Rechten des Vaters im Himmel. Bekannt wurde diese Position als extra Calvinisticum.

Während Zwinglianer und Calvinisten bezüglich dieses christologischen Ansatzes und ihrer Ablehnung der lutherischen Sicht (dass Ungläubige wahrlich den Leib und das Blut des Herrn im Abendmahl essen) übereinstimmen, gibt es zwischen beiden Lagern entscheidende Unterschiede.

„Die Heilige Schrift wurde von den Reformierten Kirchen üblicherweise als Richtschnur der Gottesdienstgestaltung gesehen.“
 

Zwinglianer sehen das Abendmahl demnach als bloße Gedächtnishandlung, deren Bedeutung darin liegt, dass sie die Gläubigen an Christi Tod erinnert und im Hier und Jetzt miteinander verbindet. Calvin und die, welche ihm in dieser Hinsicht folgen, sehen es nicht als bloße Gedächtnishandlung, sondern auch als Siegel und Zeichen des Gnadenbundes. Durch den physischen Akt des Essens lässt der Heilige Geist den Gläubigen durch den Glauben wahrhaftig Christus essen und macht ihn dem Gläubigen noch gegenwärtiger. Ein und derselbe Christus wird somit auf einem anderen Weg empfangen. Der einzige Kontext jedoch, in dem die Sakramente korrekt vollzogen und empfangen werden können, ist für Reformierte wie auch für Lutheraner die Verkündigung des Wortes: Nur wenn sie im Zusammenhang mit der Verheißung Gottes in Christus verstanden werden, lässt es sich vermeiden, dass die Sakramente selbst zu Götzen verkommen.

Politik und Kultur

Im Laufe der letzten hundert Jahre wurden seitens der Reformierten Theologie verschiedene Modelle des Verhältnisses zwischen Kirche und gesellschaftlichen Problemen entworfen. Zur Linken bot das Werk Jürgen Moltmanns der Befreiungstheologie eine Inspirationsquelle. Zur Rechten setzte sich die Theonomie-Bewegung (auch Christian Reconstructionism genannt) mit Rousas J. Rushdooneys und seinen Schülern dafür ein, das alttestamentliche Gesetz auf die Gesellschaft der Gegenwart anzuwenden. In jüngerer Zeit wurde die im 16. und 17. Jahrhundert bedeutende Tradition des Naturrechts innerhalb der Reformierten Theologie durch das Werk von David VanDrunen wiederbelebt. Zu einer Zeit, in der der Protestantismus seine Soziallehren im Kontext politischer und ethischer Herausforderungen einer post-christlichen Gesellschaft neu bewerten muss, steht dies (gemeinsam mit seinem Fokus auf die Zwei-Reiche-Lehre) für eine neue und fruchtbare Entwicklung innerhalb der Reformierten Ethik.

Gottesdienst

Wenngleich keine einzelne Form der Liturgie von der Reformierten Theologie vorgeschrieben ist, wurde die Heilige Schrift von den Reformierten Kirchen üblicherweise als Richtschnur der Gottesdienstgestaltung gesehen. Daraus ergibt sich ein von ästhetischer und formeller Einfachheit geprägter Gottesdienst, deren Schwerpunkt auf dem Gebet, der Lesung und Verkündigung des Wortes, wie auch den Sakramenten und dem Gesang (historisch gesehen überwiegend Psalmen, heute auch andere Loblieder) liegt. Eine derartige Anbetung wird als praktische Umsetzung der Reformierten Hingabe an die Genugsamkeit der Schrift gesehen – nicht nur für Lehre und Ethik, sondern auch für die Gestaltung des Gemeindelebens.

Literaturhinweise


[1]  Ein klassisches Beispiel hierfür ist die „Young, Restless and Reformed“-Bewegung (dt. „Jung, Ruhelos und Reformiert“, eine dem US-amerikanischen Evangelikalismus im Beginn des 21. Jahrhunderts entstammende Bewegung, die das Reformierte Heilsverständnis des 16. Jahrhunderts wiederentdeckte. Anm. d. Redaktion).

[2] Die Vertreter der „unbegrenzten“ (oder auch „universellen“) Sühne sind der Ansicht, der Sühnetod Jesu schenke allenMenschen die Möglichkeit der Rettung – er sei also in seinem Umfang unbegrenzt und in seiner Wirksamkeit begrenztdurch die Entscheidung des Menschen. Vertreter der „begrenzten“ (oder auch „wirksamen“) Sühne argumentieren hingegen, Jesu Tod bewirke für die Erwählten allein die tatsächliche Sühnung und Errettung – er sei also in seinem Umfang begrenzt auf Gottes Volk und in seiner Wirksamkeit unbegrenzt, vgl. den Artikel „Für wen ist Christus gestorben?“. (Anm. d. Redaktion)