Das Ende aller Gewissheiten?
Gottes Souveränität und christliche Nächstenliebe in der Ukraine
„Krieg ist das Ende aller Gewissheiten“ schrieb der Tagesspiegel vom 9. März 2022. Menschen in der Ukraine verlieren ihre Häuser, ihre Grundversorgung, ihre Heimat. „In Deutschland machen die Bilder von Leid und Zerstörung vielen bewusst, wie zerbrechlich der Frieden in Europa ist – und damit all die Fundamente, auf denen ihr Wohlergehen und das ihrer Familien ruht.“[1] Christen können einen anderen Blick einnehmen auf den Schrecken des Unheils, das sich förmlich vor unseren Augen abspielt – und viele unserer Brüder und Schwestern in der Ukraine tun das auch.
Wenn Krieg plötzlich alles verändert
Ich telefoniere mit meinem Freund Eduard in Lviv. Er ist Bibellehrer an einem der prägendsten Bibelseminare in der Ukraine. Als ich 2019 dort unterrichtete, studierten weit über hundert junge Ukrainer aus dem ganzen Land dort. Seit der russischen Invasion am 24. Februar findet kein Unterricht mehr statt. In meiner Vorlesung über Biblische Theologie sprachen wir damals über Kriege im Alten Testament, Feindesliebe in der Bergpredigt und die Frage, ob sich die jungen Männer, die sich dort für den Dienst als Pastoren ausbilden ließen, für den Militärdienst melden sollten. Damals herrschte bereits Krieg im Osten des Landes. Heute ist er überall. In diesen Tagen sind einige von ihnen zum Bibelseminar zurückgekehrt – mit ihren Familien und zusammen mit über 1000 Flüchtlingen, die allein innerhalb der ersten Woche nach Kriegsbeginn aus den Teilen des Landes gekommen sind, wo der Krieg am stärksten tobt. Ihre Zahl steigt täglich. Die Klassenräume sind notdürftig, aber liebevoll zu Matratzenlagern umfunktioniert worden. Alle Lehrer und Mitarbeiter des Seminars helfen dabei, die täglich eintreffenden Flüchtlinge unterzubringen und sie mit Nahrung, Kleidung und Medizin zu versorgen. Sie organisieren Transporte zur Grenze in die Nachbarländer. Vor allem aber halten sie zweimal täglich kurze Gottesdienste ab und führen dutzende seelsorgerliche Gespräche.
Wo Theologie praktisch wird
Ich frage Eduard, wie er diesen Krieg empfindet. Ob er eher pessimistisch oder optimistisch ist, angesichts der schrecklichen Nachrichten überall aus dem Land, der traurigen Schicksale vor seinen Augen, der Angriffe und Sirenen in seiner eigenen Stadt und der düsteren Aussichten für seine Zukunft. Seine Antwort:
„Es ist vor allem eine Zeit in der wir als Christen ungekannte Möglichkeiten haben, unseren Glauben zu bezeugen.“
„Wir haben so etwas noch nie erlebt. Nie zuvor konnten wir so vielen Menschen das Evangelium verkündigen, die es noch nie vorher gehört hatten. Ich glaube, es ist vor allem eine Zeit in der wir als Christen ungekannte Möglichkeiten haben, unseren Glauben zu bezeugen. Während wir uns vor der Invasion darauf konzentriert haben, christliche Leiter auszubilden und geistlich zu prägen, konzentrieren wir uns jetzt darauf, vielen Menschen zu dienen – sowohl materiell als auch durch die Predigt des Evangeliums.“
Wie Gottes Souveränität sich zeigt
Wie passen diese Gegensätze zusammen? Die Kulmination des Bösen und die Ausbreitung von Hoffnung und Herrlichkeit? Für Eduard zeigt sich hier in seltener Klarheit die Souveränität Gottes über seine ganze Schöpfung, auch in den schrecklichsten Folgen des Sündenfalls:
„Selbst inmitten dieses Desasters, das über das ukrainische Volk gekommen ist, beobachten und erleben wir Gottes Schönheit und Liebe in den Taten vieler Menschen, die hingegeben ihren Nächsten dienen. Viele Christen und Gemeinden aus Lviv und Umgebung haben sich mit uns zusammengeschlossen in diesem Dienst. Während der Krieg weitergeht, zeigt sich ständig die Schönheit, Güte und Wahrheit Gottes.“
„‚Während der Krieg weitergeht, zeigt sich ständig die Schönheit, Güte und Wahrheit Gottes.‘“
Eduard betont immer wieder die positiven Auswirkungen dieser schweren Krise. Vor allem, wie viele Menschen nun das Evangelium von Jesus Christus hören. Aber auch, die geistliche Erneuerung in den Kirchen seines Landes, die sich angesichts der drohenden Gefahr im Gebet vereinen und ihre große Abhängigkeit von Gott anerkennen. Er ist dankbar, dass Gott ukrainische Christen darin bestärkt, mutig und standhaft zu bleiben, aber auch die Botschaft eines liebenden, gnädigen und rettenden Gottes mit ihren Mitmenschen zu teilen.
Eine andere Perspektive
Mein Freund hat sich entschieden, mit seiner Familie im Land zu bleiben solange es geht. Für ihn und viele andere Christen in der Ukraine ist dieser Krieg schrecklich, aber offensichtlich nicht das Ende aller Gewissheiten. Ihre Gewissheit ist eine andere als die, deren Verlust viele Menschen in diesen Tagen beklagen:
- Es ist die Gewissheit, mit der Mose dem grausamen ägyptischen Despoten Pharaoh ausrichten ließ: „Eben deshalb habe ich dich bestehen lassen, um dir meine Macht zu zeigen, und damit man auf der ganzen Erde meinen Namen verkündigt“ (2Mose 9,16).
- Es ist die Gewissheit, mit der Hesekiel das Schicksal von einem halben Dutzend feindlicher Nationen in der Hand eines souveränen Gottes wägt und erwartet, „sie werden erkennen, dass ich der HERR bin“ (Hes 25–29).
- Es ist die Gewissheit, mit der die betende Gemeinde in Jerusalem bekennt, dass der Machtmissbrauch von Herodes und Pilatus und der Hass des Volkes, die Jesus ans Kreuz brachten, Teil von Gottes Plan war, sich in seiner Gnade zu verherrlichen entsprechend dem „was deine Hand und dein Ratschluss vorherbestimmt hat, dass es geschehen sollte“ (Apg 4,24).
Als Christen und Gemeinden tun wir gut daran, die historischen Ereignisse dieser Tage auch aus dieser Perspektive zu betrachten – und entsprechend zu handeln. Wir können das Zeugnis ukrainischer Christen im Land finanziell unterstützen, solange es möglich ist. Wir können Glaubensgeschwister aufnehmen, die ihre Heimat verlassen mussten. Vor allem aber können wir gezielt und andauernd beten, dass Gott sich inmitten der Leiden dieses Krieges verherrlicht und seine Gemeinde – dort und hier – in der Überzeugung bestärkt: Krieg ist nicht das Ende aller Gewissheiten.