War Augustin der erste Calvinist?

Rezension von Mario Tafferner
1. März 2022 — 16 Min Lesedauer

Ken Wilsons Büchlein War Augustinus der erste Calvinist? ist die deutsche Übersetzung seines ursprünglich auf Englisch erschienen Werkes The Foundation of Augustinian-Calvinism (dt. Das Fundament des Augustinus-Calvinismus, 2019). Dieses wiederum ist eine populäre Zusammenfassung der Resultate seiner Doktorarbeit Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to „Non-Free Free Will“ (Tübingen: Mohr Siebeck, 2019), mit der er 2012 in Oxford promoviert wurde. Der deutsche Titel ist freilich irreführend. Das Buch stellt nicht die Frage, ob Augustinus der erste Calvinist war (das setzt Wilson bereits voraus). Es geht viel mehr darum, ob der lateinische Kirchenvater als erster christlicher Stoiker und Manichäer gelten kann. Wilsons Argument lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Theologen der frühen Kirche lehrten eine „beziehungsorientierte ewige Vorherbestimmung“ (S. 136; kursiv im Original), gemäß derer Gott einzelne Personen auf Grundlage seines Vorherwissens ihres zukünftigen Glaubens auf Basis ihres freien Willens zum Heil erwählte. Während Augustinus in den ersten Jahren seines kirchlichen Schaffens ebenfalls an dieser „traditionellen Theologie“ festhielt, durchlebte er im Jahr 412 n.Chr. eine „Bekehrung“ zum deterministischen Verständnis der Errettung des Menschen, die Wilson durch das Akronym GUPIES darzustellen versucht: „Göttliche Unilaterale Prädetermination von Individuen zu ihren Ewigen Schicksalen“ (S. 29; fett im Original). Der theologische Wandel Augustins sei dabei auf seine Prägung als ehemaligen Manichäer und unverbesserlichen Stoiker zurückzuführen. Im Angesicht der pelagianischen Krise überführte der lateinische Kirchenvater die „traditionelle“ christliche Lehre in einen Synkretismus mit den ihm bekannten philosophischen Konstrukten. Im Zuge seines Arguments spielt Wilson mit theologisch hohem Einsatz. Er bewertet Augustins spätere Theologie als eine „Karikatur des Christen-Gottes, den er erfolgreich mit der manichäischen Gottheit verschmolzen hat“ (S. 118). Die gleichzeitige Identifikation der augustinischen Gnadenlehre mit der calvinistischen Heilslehre, die sein Buch grundlegend durchzieht („Augustinus war der Vater des TULIP-Systems“, S. 146), wirft somit implizit den Vorwurf auf, dass auch Calvinisten der Gegenwart lediglich einen entstellten Gott anbeten. Eine so tiefgreifende theologische Kritik wirft die Frage auf, ob Wilsons kirchengeschichtliche Rekonstruktion seinen dogmatischen Tadel auch stemmen kann. Die von ihm vorgebrachte theologische Problematisierung ist nämlich keine notwendige Folge einer möglichen theologiegeschichtlichen Diskontinuität zwischen Augustins spätere Gnadenlehre und der beziehungsorientierten Vorherbestimmung der frühen Kirche. Was, wenn Theologen vor Augustinus sich in Bezug auf die Willensfreiheit geirrt haben?

Anfragen zur theologischen Methode

Um sein kirchengeschichtliches Argument theologisch fruchtbar machen zu können, muss Wilson davon ausgehen, dass frühchristlichen Autoren wie Clemens und Origenes die biblischen Aussagen zur Willensfreiheit angemessen auslegten. Exegetisch begründet er diese Annahme jedoch genauso wenig, wie seine Überzeugung, dass Augustinus spätere Gnadentheologie der biblischen Heilslehre widerspricht. Obwohl Wilson mit dogmatisch hohem Einsatz spielt, setzt er alles auf eine einzige argumentative Karte: Überlappungen zwischen Augustinus Gnadenlehre und stoischer sowie manichäischer Ideen sollen diese als trojanisches Pferd im christlichen Theologiegebäude entlarven.

Die früheste christliche Verwendung stoischer Gedanken findet sich allerdings nicht bei Augustinus, sondern bei Paulus selbst. In seiner Rede auf dem Areopag zitiert der Apostel aus den Phainomena des stoischen Poeten Aratus: „denn wir sind auch seine Nachkommen“ (Τοῦ γὰρ καὶ γένος εἰμέν). Paulus bezieht diese Aussage allerdings nicht auf Zeus, sondern den lebendigen Gott der Bibel (Apg 17,28).[1] Dass heidnische Philosophen in ihren Überlegungen über Gott stellenweise richtig liegen konnten, bescheinigt uns der Apostel also selbst.[2]

„Historische Kontinuitäten zwischen Augustins Prädestinationslehre und der stoischen Philosophie bzw. der manichäischen Lehre herzuleiten, reicht nicht aus, um die Entwicklung des lateinischen Kirchenvaters theologisch zu problematisieren.“
 

Historische Kontinuitäten zwischen Augustins Prädestinationslehre und der stoischen Philosophie bzw. der manichäischen Lehre herzuleiten, reicht also nicht aus, um die Entwicklung des lateinischen Kirchenvaters theologisch zu problematisieren. Für ein solches Argument wäre der exegetische Beweis biblisch-theologischer Diskontinuitäten zur Gottesrede der Schrift von größerer Wichtigkeit gewesen. Theologisch vermag Wilsons kirchengeschichtliche Rekonstruktion seinen dogmatischen Tadel also nicht zu schultern.

Anfragen zur kirchengeschichtlichen Rekonstruktion

Anders als seine theologische Methode, ist Wilsons kirchengeschichtliche Beweisführung an vielen Stellen hilfreich und überzeugend. Dies gilt z.B. für seine Neudatierung von Augustins theologischem Wandel auf das Jahr 412 n.Chr. Hier bedient sich Wilson einer redaktionskritischen Methode, mit der er Abschnitte aus Ad Simplicianum (396 n.Chr.), die Augustins spätere Theologie beinhalten, als nachträgliche Revision des lateinischen Kirchenvaters selbst herausarbeitet (vgl. S. 123–124).

Auch seiner Rekonstruktion von Diskontinuitäten zwischen Augustinus und der frühen Kirche in Bezug auf die Willensfreiheit ist weitgehend zuzustimmen. So bemerkt z.B. Calvin in seiner Institutio (II,2,4):

„Nun haben zwar die griechischen Kirchenlehrer, unter ihnen besonders Chrysostomus, in der Erhebung des menschlichen Willens ganz besonders jedes Maß überschritten. Indessen sind alle Alten, mit Ausnahme des Augustin, in der Sache dermaßen verschieden schwankend und verworren, dass man beinahe gar nichts gewisses aus ihren Schriften wiedergeben kann.“

Calvins Analyse nimmt allerdings vorweg, dass Wilsons theologiegeschichtliche Interpretation der Diskrepanz zwischen Augustinus und der frühen Kirche als radikaler Bruch der frühchristlichen Soteriologie weniger überzeugend ist. Kirchengeschichtlich nimmt die Auseinandersetzung mit Fragen der Willensfreiheit in der Errettung – und vor allem mit der paulinischen Gnadenlehre – vor Augustinus kaum Form an. Es sind weniger soteriologische Anliegen, die das Denken der frühen Kirche in Bezug auf den Willen und Gottes Handlung am Menschen beeinflussten, sondern ethische Überzeugungen, die ihre Auseinandersetzungen mit Strömungen wie dem Manichäismus oder der Gnosis bestimmten. So schreibt z.B. der Theologe Otto Hermann Pesch mit Bezug auf die frühe Kirche:

„Wenn dennoch die Willensfreiheit einmal thematisiert, gar als wichtiges Problem wahrgenommen wird, so sind die Gegner nicht eine Lehre der Vorherbestimmung auf der Linie des Paulus, sondern gnostische und manichäische Lehren, die das Böse nicht auf Wahlentscheidungen des Menschen, sondern auf ein widergöttliches Prinzip zurückführen.“[3]

Somit drängt sich der Verdacht auf, dass Wilsons „Göttliche Unilaterale Prädetermination von Individuen zu ihren Ewigen Schicksalen“ eine anachronistische Kategorie darstellt. Es scheint, dass sein anti-calvinistisches Programm Wilson dazu veranlasst, vor-augustinische Aussagen zur Willensfreiheit soteriologisch zu klassifizieren, um diese in Konflikt mit Augustinus späterer Heilslehre bringen zu können. Als Kategorie der Rekonstruktion verflacht GUPIES daher unter Umständen die Theologiegeschichte.

Dies wird deutlich, wenn man sich z.B. die Aussagen des Kirchenvaters Origenes (ca. 185-254 n.Chr.), den die Forschung häufig als wichtigste frühchristliche Stimme zur Willensfreiheit darstellt, genauer ansieht.[4] Origenes behandelt die Frage der Willensfreiheit recht detailliert in De principiis III,1.[5] Während viel zu diesem Abschnitt in Bezug auf das vorliegende Thema gesagt werden müsste, können im Rahmen dieser Buchbesprechung lediglich zwei Aspekte hervorgehoben werden.

Origenes versteht die Willensfreiheit als notwendige Konsequenz der biblischen Realität des Gerichtes Gottes. Gegen seine theologischen Gegner will er klar machen, dass es Menschen tatsächlich möglich sein muss, Gutes zu tun und Böses zu verwerfen. Er schreibt daher in III,1,1

„Die kirchliche Lehre enthält aber auch den Satz von dem gerechten Gericht Gottes, welcher, wenn er als wahr angenommen wird, die Hörer zu einem rechtschaffenen Wandel und zu gänzlicher Vermeidung jeder Sünde antreiben muß, vorausgesetzt, daß sie zugestehen, daß Löbliches und Tadelnswerthes in unserer Wahl stehe.“[6]

Oder in III,1,6:

„Daß aber das tugendhafte Leben unser Werk ist, und daß Gott dieses von uns fordert, nicht als von ihm, oder aus einem Andern entsprungen, oder wie Manche glauben, als Sache des Verhängnisses, sondern als unser eigenes Werk; dieß beweist, der Prophet Micha (6,8.), mit den Worten: „ist dir etwa gesagt, Mensch, was gut sey, und was der Herr von dir fordert, als Rechtthun und Barmherzigkeit üben?“ und Moses (V. 30,19.): „Ich lege dir vor den Weg des Lebens und den Weg des Todes, daß du das Gute wählest und darin wandelst“; und Jesajas (1,19).“

Bei Origenes sind ethische und soteriologische Anliegen somit eng miteinander verbunden. Er verteidigt den freien Willen, da Menschen selbstbestimmt gute Werke tun können müssen, um in Gottes Gericht zu bestehen. Dieses theologische Verständnis eines notwendigen gerechten Lebens das „nicht von“ Gott kommt, hat Augustinus aus evangelischer Perspektive ganz zu recht korrigiert, indem er die Notwendigkeit der Gnade behauptete.

Zwischen Augustinus und Origenes steht in erster Linie also nicht die Frage der Erwählung, die Wilson in seiner GUPIES Kategorie so zentralisiert, sondern die Frage des menschlichen Vermögens. Während Origenes den Menschen für frei und stark genug hält, gute Werke zu wählen und zu tun, erkennt Augustinus in der pelagianischen Krise, dass die Sünde den Menschen fundamental schwächt und die Gnade somit unabdingbar macht.

Der genauere Blick in Origenes’ Erörterungen macht einen weiteren Punkt deutlich. Entgegen Wilsons unhinterfragter Annahme frühchristlicher Aussagen zur Willensfreiheit als biblische Orthodoxie, erscheint Origenes dogmatische Beweisführung an einigen Stellen mehr philosophisch als exegetisch motiviert.

Im Abschnitt II,9 beschreibt Origenes die menschliche Willensfreiheit als kosmologische Notwendigkeit. Entgegen den Marcioniten und Valentinianern, die die Unterschiede in der Welt (z.B. arm und reich, Krieg und Frieden, stark und schwach etc.) als Beweis für die Ungerechtigkeit des Schöpfergottes wahrnehmen, behauptet Origenes die gottgewollte Willensfreiheit des Menschen als Erklärung für das Problem dieser Verschiedenheit. Er schreibt z.B. in II,9,6:

„Wir Menschen antworten, um nicht den Hochmuth der Häretiker durch Schweigen zu nähren, aus ihre Einreden also. Daß der Weltschöpfer der gute und gerechte und mächtige Gott zugleich sey, haben wir hinlänglich durch Zeugnisse der Schrift dargethan. Als er am Anfang aller Wesen die vernünftigen schuf, hatte er seinen Grund des Schaffens außer sich, seine Vollkommenheit. Ist nun in ihm, dem Grund des Geschaffenen, keine Verschiedenheit, kein Wechsel, keine Unmacht; so schuf er auch alle, die er schuf, gleich und ähnlich; denn es ist sonst kein Grund zur Ungleichheit denkbar. Weil aber die vernünftigen Geschöpfe, wie wir schon öfters gezeigt haben, und weiter zeigen werden, mit Willensfreiheit begabt sind: so hat die eigene Freiheit den Einen zur Nachahmung Gottes, den andern zum Abfall bestimmt. Md hierin liegt (wie gesagt) der Grund der Ungleichheit unter den vernünftigen Geschöpfen; nicht in dem Willen und Rathschluß des Schöpfers, sondern einzig in der Freiheit des Willens.“

Die biblische Begründung für die Ungleichheit der Welt ist nicht die Freiheit des Willens, sondern dessen Korruption durch die Sünde. Wie kommt Origenes also zu diesem Argument? Der Philosoph Frede bemerkt in seiner Philosophiegeschichte des freien Willens an dieser Stelle überzeugend, dass Origenes sich hier eines stoischen Verständnisses der Willensfreiheit bedient, das er in einen platonisches Rahmen einbaut.[7]

Der Vorwurf, den Wilson an Augustinus stellt, fällt somit auf Origenes zurück. Die frühchristliche Vorstellung vom freien Willen ist eventuell ein trojanisches Pferd heidnischer Philosophien im christlichen Gewand.

„Der Vorwurf, den Wilson an Augustinus stellt, fällt somit auf Origenes zurück. Die frühchristliche Vorstellung vom freien Willen ist eventuell ein trojanisches Pferd heidnischer Philosophien im christlichen Gewand. “
 

Aber das wäre ebenfalls zu flach. Die Frage ist nicht, welche frühchristlichen Theologen von den sie umgebenden Philosophien beeinflusst wurden und welche „sauber“ blieben. Die Frage ist viel mehr, welche frühchristlichen Theologen die Denkkategorien ihrer Zeit dem biblischen Befund entsprechend verwendet haben.

Aus dieser Perspektive wird auch Wilsons Karikatur des Augustinus als Stoiker oder Manichäer fragwürdig. Wie Origenes ist Augustinus kein heidnischer Philosoph, sondern ein christlicher Theologe, der damit ringt, die biblische Lehre in den ihm zur Verfügung stehenden Denkkategorien zu fassen. So schreibt z.B. Mark Edwards, Wilson’s Doktorvater an der Universität Oxford, dass Augustinus zwar die stoische Willenslehre in seiner Definition des freien Willens aufnimmt, diese aber in einen den Stoikern vollkommen fremden christlichen Denkrahmen einbettet:

„Das Fehlen einer Lehre vom Sündenfall bei den Stoikern muss jede Parallele, die zwischen dem stoischen und augustinischen Verständnis des Willens gezogen werden kann, qualifizieren … Die Stoiker haben kein Konzept eines ursprünglichen Fehlers, der die Macht der Vernunft, dass Gute zu erkennen, und die Macht des Willens, dass Gute zu tun, einschränkt, selbst wenn das Gute erkannt wird. Sie hätten Augustins Lehre, dass wir ohne Gnade zwischen einer oder der anderen Sünde wählen müssen, da keine Handlung, die nicht in Liebe gründet, nichts anderes als sündig sein kann, weder erwogen noch verstanden.“[8]

Zum Schluss sollten auch voraugustinische Stimmen wahrgenommen werden, die die Gnadentheologie des lateinischen Kirchenvaters durchaus vorgreifen. Während Wilson z.B. behauptet, dass die Vorstellung einer ererbten Schuld (der „Erbsünde“) eine augustinische Innovation darstellt (vgl. S. 86), findet sich in der Osterpredigt des Melito von Sardes (gestorben ca. 180 n.Chr.) bereits ein Passus, der dieser Auffassung nahekommt:

„Dieser aber [gemeint ist Adam], nachdem er sehr zahlreich und alt geworden war, dadurch, daß er vom Baume gekostet und sich ausgebreitet hatte auf Erden – von ihm wurde ein Erbe hinterlassen seinen Kindern; er hinterließ nämlich seinen Kindern nicht Züchtigkeit, sondern Unzucht; nicht Unvergänglichkeit, sondern Vergängnis; nicht Ehre, sondern Unehre; nicht Freiheit, sondern Knechtschaft; nicht Königsherrschaft, sondern Tyrannei; nicht Leben, sondern Tod; nicht Heil, sondern Verderben. Unerhört und schrecklich wurde auf Erden das Verderben der Menschen. Dieses nämlich fiel ihnen zu: Von der tyrannischen Sünde wurden sie unterjocht und wurden in die Wogen der Begierden geführt, in die sie von den unersättlichen Lüsten hineingetaucht wurden durch Ehebruch, durch Hurerei, durch Schwelgerei, durch Geiz, durch Morden, durch Blutschuld, durch Tyrannei der Schlechtigkeit, durch Tyrannei der Gesetzlosigkeit; …“[9]

Ein weiteres Beispiel soll genügen. In einem jüngeren Aufsatz in der Fachzeitschrift Augustiniana widmet sich die Augustinus-Forscherin Han Iuen Kantzer Komlin der Frage, ob Augustins eigene Berufung auf Cyprian (gestorben 258 n.Chr.) als Vorreiter seiner Gnadenlehre standhält. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Cyprian wie Augustinus davon ausging, dass menschliche Verdienste (das, was Origenes ebenfalls interessierte) vorauslaufende Gnade benötigen.[10] Hier bezieht sie sich vor allem auf Augustins Verwendung eines Abschnitts aus Cyprians De dominica oratione („Über das Gebet des Herren“), in dem der Kirchenvater die Worte „im Himmel und auf Erden“ aus dem Vaterunser auslegt (Kap. 17). Gemeinsam mit Augustinus schließt Kantzer Komlin, dass Cyprians Interpretation vorrausetzt, dass Gott den Glauben der Ungläubigen auch gegen deren Willen bewirken kann

„Man kann es auch so verstehen, geliebteste Brüder: nachdem der Herr befiehlt und uns mahnt, sogar die Feinde zu lieben und auch für die zu beten, die uns verfolgen, sollen wir auch für die bitten, die noch Erde sind und noch nicht angefangen haben, himmlisch zu sein, damit auch an ihnen der Wille Gottes geschehe, den Christus durch die Erhaltung und Erneuerung des Menschen erfüllt hat. Denn die Jünger werden von ihm nicht mehr Erde, sondern das Salz dar Erde genannt, und der Apostel sagt, der erste Mensch stamme vom Lehm der Erde, der zweite aber vom Himmel. Deshalb ist es nur recht und billig, wenn auch wir, die wir Gott dem Vater ähnlich sein sollen, der seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte, — wenn auch wir nach der Mahnung Christi in der Weise beten und flehen, daß wir für das Heil aller Menschen Fürbitte einlegen, damit ebenso wie im Himmel, das heißt: an uns, durch unseren Glauben der Wille Gottes geschehen ist, so daß wir vom Himmel sind, nun auch auf Erden, das heißt: an jenen noch Ungläubigen, der Wille Gottes geschehe und damit sie, die noch von ihrer ersten Geburt her irdisch sind, aus Wasser und Geist neugeboren werden und anfangen, himmlisch zu sein.“[11]

Schluss

Wilsons kirchengeschichtliches Argument kann seinen dogmatischen Tadel aus zwei Gründen nicht tragen. Auf der einen Seite überbewertet er die theologiegeschichtliche Relevanz seiner hilfreichen Rekonstruktionen des augustinischen Wandels zum unfreien Willen. In den Diskussionen des freien Willens in der frühen Kirche ging es um mehr als nur um GUPIES.

Auf der anderen Seite überschätzt er das dogmatische Gewicht seiner historischen Erörterungen. Wilson – so scheint es – hat die Vorstellung einer reinen Theologiegeschichte zwischen Paulus zu Origenes, die erst durch Augustinus Verwendung philosophischer Denkkategorien beschmutzt wurde. Wie oben erörtert, ist ein solches Geschichtsverständnis allerdings problematisch.

Somit stellt Wilson die entscheidenden Fragen nicht: Was, wenn Theologen vor Augustinus sich in Bezug auf die Willensfreiheit geirrt haben? Was, wenn ihre philosophischen Denkkategorien sich vom biblischen Befund entfernt haben? Was, wenn Gott Augustinus biographische Prägung in seiner Vorsehung nutzte, um der Kirche das theologische Handwerkzeug mitzugeben, die biblische Gnadenlehre im Kontext des pelagianischen Streits klarer sehen zu können? Die Beantwortung dieser Fragen verlangen ausführliche exegetische Untersuchungen und tiefe theologische Reflexion.

Wilsons Anspruch, dass Augustinus eine „Karikatur des Christen-Gottes, den er erfolgreich mit der manichäischen Gottheit verschmolzen hat“ produziert hat, kann seine Untersuchung kaum beweisen. Wer mit so hohem theologischem Einsatz spielt, sollte ein besseres argumentatives Blatt auf der Hand haben.

Buch

Ken Wilson, War Augustin der erste Calvinist?: Wenn ein Lehrsystem auf Sand gebaut ist, Düsseldorf: CMV Hagedorn, 2020.


[1] Siehe die Diskussion in Mark Edwards, „Christians and Stoics,“ in The Routledge Handbook of Early Christian Philosophy, ed. Mark Edwards, Abingdon: Routledge, 2021, S. 222–223.

[2] Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie lohnt sich Herman Bavinck, Reformed Dogmatics, Grand Rapids: Baker, 2003, Bd. 1, S. 608–609.

[3] Otto Hermann Pesch, „Wille/Willensfreiheit III: Dogmen- und theologiegeschichtlich,“ in: Theologische Realenzyklopädie, ed. Gerhard Müller et. al., Berlin: De Gruyter, 1976–2004, Bd. 36, S. 79.

[4] Michael Frede, A Free Will: Origins of the Notion in Ancient Thought, Berkeley: University of California Press, 2011, S. 105–106.

[5] Für eine ausführliche Analyse der Willensfreiheit bei Origenes siehe: H.S. Benjamins, Eingeordnete Freiheit: Freiheit und Vorhersehung bei Origenes, Leiden: Brill, 1994.

[6] Die verwendete Übersetzung ist aus der Bibliothek der Kirchenväter: Karl Fr. Schnitzer*, Origenes über die Grundlehren der Glaubenswissenschaft,* Stuttgart: Verlag Imle und Kraus, 1835.

[7] Michael Frede, A Free Will: Origins of the Notion in Ancient Thought, Berkeley: University of California Press, 2011, S. 120, vgl. auch S. 102–104.

[8] Mark Edwards, „Christians and Stoics,“ in The Routledge Handbook of Early Christian Philosophy, ed. Mark Edwards, Abingdon: Routledge, 2021, S. 230; (Übers. d. den Autor).

[9] Der Hinweis auf das Zitat stammt von Ron Kubsch. Die Übersetzung stammt von Josef Blank, Meliton von Sardes: vom Passa, die älteste christliche Osterpredigt, Freiburg im Breisgau: Lambertus, 1963, §49.

[10] Han Iuen Kantzer Komlin, „Grace, Free Will, and the Lord’s Prayer.“ Augustiniana 45 (2014), S. 269–271.

[11] Die Übersetzung stammt von Julius Baer, Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtliche SchriftenMünchen, 1918, S. 179–180.