Du musst dir nicht selbst vergeben

Artikel von John Beeson
19. Februar 2022 — 4 Min Lesedauer

Sie sitzt vor mir in meinem Büro, Tränen laufen ihr über das Gesicht. Vor zwei Jahren war ihre Mutter in einem Hospiz gestorben, während sie selbst zuhause im Bett lag und schlief. Dabei hatte sie nur versucht, eine ordentliche Portion Schlaf zu bekommen, nachdem sie tagelang an der Seite ihrer Mutter ausgeharrt hatte. „Ich kann mir das einfach nicht vergeben. Ich habe sie alleine sterben lassen. Ich wusste doch, dass ich bei ihr sein sollte, aber ich war egoistisch. Niemals werde ich mir das vergeben können.“

Viele andere Menschen haben mir Ähnliches anvertraut. Erkennst du dich darin wieder? Mit welcher Schuld plagst du dich ab? Welche Lasten trägst du mit dir herum, weil du dir selbst nicht vergeben kannst? Wenn Christus dir vergeben hat – musst du dir nicht auch selbst vergeben?

Es gibt so viele, die in einem Gefängnis feststecken, weil sie sich selbst nicht vergeben können. Meine Freundin ist nicht die Einzige. Sie fühlt sich gefangen. Niemals wird sie hören, wie ihre Mutter ihr vergibt. Deshalb hat sie das Gefühl, sich aus dieser Schuld nicht entlassen zu können.

Was sagt die Schrift dazu?

Warum kannst du dich aus deiner Sünde nicht entlassen? Weil sie zu groß ist? Weil du weißt, dass du dich nicht geändert hast? Weil die Auswirkungen deiner Sünde nicht rückgängig zu machen sind?

„Du musst dir nicht selbst vergeben, weil du dir gar nicht selbst vergeben kannst.“
 

Dann habe ich eine gute Nachricht für dich – eine wirklich gute Nachricht. Du musst dir nicht selbst vergeben, weil du dir gar nicht selbst vergeben kannst.

Ich weiß, diese Antwort klingt fremd. Unsere heutige, therapeutisch ausgerichtete Kultur lehrt uns, dass Selbstvergebung nicht nur eine Form der Vergebung unter anderen ist, sondern sogar die wichtigste von allen. Die Psychotherapeutin Beverly Engel schreibt in Psychology Today: „Ich bin überzeugt, dass Selbstvergebung der wirksamste Schritt ist, den Sie tun können, um sich von lähmender Scham zu befreien.“ Aber die entscheidende Frage für Christen lautet: Kannst du ein biblisches Beispiel dafür nennen, dass jemand sich selbst vergibt?

In der Bibel gibt es die Kategorie der Selbstvergebung nicht. Was für eine befreiende Wahrheit! Scham und Schuld in deinem Leben sind nicht abhängig davon, wie weit du fähig bist, dir selbst zu vergeben.

Zwei Arten der Vergebung

In der Bibel gibt es zwei – und nur zwei – Arten der Vergebung: die Vergebung anderer und Gottes Vergebung. Horizontal und vertikal.

Die horizontale Vergebung ist unser Kennzeichen als Christen. Andere um Vergebung zu bitten ist nicht nur optional. Einander zu vergeben ist nicht nur optional. Paulus schreibt:

„So zieht nun an als Gottes Auserwählte, Heilige und Geliebte herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Langmut; ertragt einander und vergebt einander, wenn einer gegen den anderen zu klagen hat; gleichwie Christus euch vergeben hat, so auch ihr.“ (Kol 3,12–13)

Es reicht nicht, Gott um Vergebung zu bitten. Wir müssen außerdem diejenigen um Vergebung bitten, die wir verletzt haben.

Doch so wichtig die horizontale Vergebung ist, noch grundlegender ist die vertikale Vergebung, die allein von Gott kommt. Nachdem David in abscheulicher Weise durch Ehebruch und Mord zweifach gegen Bathseba und Urija gesündigt hatte, schreit er zu Gott: „An dir allein habe ich gesündigt!“ (Ps 51,6). Wie kann David so etwas sagen? Will er seine schrecklichen Sünden gegen Urija und Bathseba herunterspielen?

Wohl kaum.

David erkennt: So furchtbar seine Sünde auf der horizontalen Ebene auch ist, sie ist auf der vertikalen noch viel schlimmer. Er hat sich massiv gegen seinen Schöpfer vergangen – der zugleich der Schöpfer von Urija und Bathseba ist –, indem er ein Leben entwürdigt und ein anderes ausgelöscht hat. David hat seinen gerechten Bundesgott durch seine bösen Taten angegriffen, den Bund gebrochen.

Sing! Dir ist vergeben.

Aber weißt du, welchen Prozess David nicht durchmacht? Den Prozess der Selbstvergebung. Er erwägt nicht eine Sekunde, ob er sich selbst vergeben muss. Oder ob er sich nun, nachdem er Gott um Vergebung gebeten hat, selbst geißeln muss, um seine Sünde vollständig loszuwerden. Es kann für das moderne therapeutische Empfinden wirklich schockierend sein, wie schnell David sich frei fühlt. Er rechnet damit, dass er sogleich, nachdem er Vergebung erfahren hat, die Kühnheit besitzen wird, zu singen: „Errette mich von Blutschuld, o Gott, du Gott meines Heils, so wird meine Zunge deine Gerechtigkeit jubelnd rühmen“ (Ps 51,16).

„Es kann für das moderne therapeutische Empfinden wirklich schockierend sein, wie schnell David sich frei fühlt.“
 

Hast du diese Freiheit erfahren? Hast du jemals die vollständige Vergebung Gottes so tief empfunden, dass du nicht anders konntest als vor Freude zu singen?

In der vertikalen Vergebung kannst du die Kraft und Befreiung erfahren, die dem Kreuz entspringt. Und dann schickt sie dich zurück auf die horizontale Ebene, wo du in der Gemeinschaft Wiederherstellung erfährst.

Lieber Mitsünder, wirst du von Schuld gequält? Bitte diejenigen um Vergebung, gegen die du gesündigt hast. Bitte Gott, deinen Retter, um Vergebung – er hat durch den Tod Jesu deine Erlösung erkauft. Und dann sing! Feiere die Vergebung. Genieße deine Freiheit.