Zuschauer und Star
Unser digitales Ich in der Doppelrolle
Im Labyrinth verirrt
„Heutzutage verirren wir uns in einem Labyrinth aus Spiegeln, das unser Selbstbild verzerrt“[1], schreibt der Anthropologe Thomas de Zengotita. Er behauptet, dass unsere Bildschirmtechnologie im digitalen Zeitalter einen neuen Gipfel der Sucht erreicht hat. Denn unsere Bildschirme ermöglichen es uns, in einer Doppelrolle zu leben: als Zuschauer und Star zugleich.
In dem kurzen Moment, in dem wir die Aufmerksamkeit vieler erregen – sei es durch unsere Bilder, Tweets oder Memes – werden wir zum Star. Und wenn wir dabei zusehen, wie gut wir ankommen und wie sehr wir gemocht werden, sind wir gleichzeitig auch Zuschauer. In den sozialen Medien wird unsere Doppelrolle als Zuschauer und Star sichtbar „in der besonderen Intensität, dem hingebungsvollen Leuchten auf dem Gesicht einer fremden Person an einem zufälligen, öffentlichen Ort, die sich völlig versunken über ihr Smartphone beugt… die Meinungen zu einem Trendthema auf Twitter teilt und gleichzeitig spürt, wie die Aufmerksamkeit um sie herum zunimmt, während sie auf einer Energiewelle von Kommentaren quer durch das Land um die Welt reitet – es ist wie die Berührung einer kosmischen Kraft, dank des kleinsten und mächtigsten persönlichen Bildschirms – des Smartphones“[2]. Wenn wir sehen, dass andere uns ihre Aufmerksamkeit schenken, werden wir süchtig nach dem Gefühl, gesehen zu werden. Wir werden zu Zuschauern unseres digitalen Ichs.
Geformt und verändert
Unsere digitalen Fotos und Selfies verstärken diese Selbstprojektion nur noch. Laut weltweiten Statistiken machen wir mittlerweile mehr als eine Billion digitale Fotos pro Jahr. Wir werden zu Schauspielern vor unseren eigenen Handys oder den Handys unserer Freunde. Wir modifizieren uns und filtern unser Aussehen. Und dann werden wir zu Zuschauern unserer Selbst, denn „jedes Selfie ist die Performance einer Person, wie sie gerne von anderen wahrgenommen werden möchte“[3]. Aus Furcht, als Langweiler zu gelten, sind wir auf der Suche nach einer Identitätsprojektion, die bei anderen Zustimmung findet.
„Auf eine zutiefst süchtig machende Weise existieren wir sowohl als Star als auch als Zuschauer.“
Unsere Kultur, in der immer eine Kamera griffbereit ist, hat uns verändert. Bis zum Jahr 1920 hielt niemand es für nötig, für ein Foto zu lächeln. Heute müssen wir alle bereit sein, jeden Moment fotografiert zu werden und die perfekte Pose für ein Foto einzunehmen. Wahrnehmung ist alles, und in den sozialen Medien formen wir das Schauspiel um uns selbst. Während wir die von uns ausgewählte Rolle vor der Kamera spielen, stellen wir fest, dass uns die Magie computergenerierter Bilder (CGI) in die Hände gelegt wurde. Wir können unser digitales Selbst jetzt durch zahllose Filter, Linsen und Bitmojis bearbeiten – eine einzigartige Möglichkeit der Verformbarkeit unseres Ichs, die so noch keiner Generation in der Geschichte der Menschheit zur Verfügung stand.
Da ich ein Buch geschrieben habe speziell zum Thema Smartphones und wie sie unser Selbstbild formen und verformen, werde ich hier nicht näher darauf eingehen[4]. Bei diesem Projekt ist es wichtig zu verstehen, dass das Verformen und Zurschaustellen die sozialen Medien zu einem unwiderstehlichen Spektakel machen, weil wir der perfekt inszenierte Star im Mittelpunkt des Geschehens werden. Als Ergebnis dieser kulturellen Verschiebung spüren wir alle die Verlagerung vom Sein zum Erscheinen. Unsere selbstinszenierten Bilder – unser digitaler Auftritt – werden das Allerwichtigste für uns. Auf eine zutiefst süchtig machende Weise existieren wir sowohl als Star als auch als Zuschauer. Und soziale Medien „zeugen von der Kraft dieses doppelten Aspekts der Darstellung, einer wechselseitigen Intimität, die kein anderes Medium, geschweige denn die Realität, erreichen kann“[5].
[1] Thomas de Zengotita, „We Love Screens, Not Glass“, online unter: https://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/03/we-love-screens-not-glass/284356/ (Stand: 11.12.2021).
[2] Ebd.
[3] Nicholas Mirzoeff, How to See the World: An Introduction to Images, from Self-Portraits to Selfies, Maps to Movies, and More, New York: Basic, 2016, S. 62.
[4] Tony Reinke, Wie dein Smartphone dich verändert, 3. Aufl., Augustdorf: Betanien, 2021.
[5] Thomas de Zengotita, „We Love Screens, Not Glass“, online unter: https://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/03/we-love-screens-not-glass/284356/ (Stand: 11.12.2021).