Lehrt die Schrift, dass Jesus vollkommen Gott ist?

Eine alte, immer noch aktuelle Frage

Artikel von Gregory Lanier
10. Januar 2022 — 9 Min Lesedauer

Immer noch eine Diskussion

Das Bekenntnis, dass der wahre Gott aller Schöpfung dreieinig ist – Vater, Sohn und Heiliger Geist – ist tief im Boden der christlichen Theologie verwurzelt. Einer der meistdiskutierten und zuweilen irritierendsten Aspekte dieses Bekenntnisses ist die Frage: „Lehrt die Schrift wirklich, dass Jesus vollkommen Gott ist?“

In der Alten Kirche gab es zahlreiche Kämpfe an dieser Front, als Theodotus, Noetus, Arius, Nestorius und Eutyches (und weitere) die vollumfängliche Gottheit Jesu Christi auf unterschiedliche Weise in Frage stellten. Eine Reihe von Schriften und Konzilien, denen eine namhafte Gruppe von frühen Kirchenvätern vorstand (von Athanasius bis zu Kyrill von Alexandria), verteidigte die überlieferte Lehre und verwarf die konkurrierenden Thesen als falsch. Die zentralen Lehren wurden in den Glaubensbekenntnissen von Nizäa (325 n.Chr.) und Chalcedon (451 n.Chr.) auf den Punkt gebracht.

Aber die Diskussionen sind nicht verschwunden. Außerhalb der Kirche wird die christliche Lehre, dass Jesus vollkommen Gott ist, von den Zeugen Jehovas und den Mormonen abgelehnt. Zum Beispiel gibt die Bibel der Zeugen Jehovas (die Neue-Welt-Übersetzung) bekanntlich Johannes 1,1 mit „das Wort war ein Gott“ wieder und schreibt Jesus so die Stellung eines gottähnlichen oder quasi engelhaften Wesens zu, aber nicht mehr als das. Ferner bestätigt zwar der Koran einige Wahrheiten über Jesus – wie seine Geburt durch Maria und seine Rolle als Prophet. Doch das Bekenntnis, Jesus sei der vollständig göttliche Sohn Gottes, betrachtet der Islam als Schirk, d.h. als die unvergebbare Sünde, Allah „Partner“ an die Seite zu stellen (z.B. Q ‘Imran 3:151; Q Nisa’ 4:48). Und der saure Regen des Säkularismus hat seit mehr als zwei Jahrhunderten jegliche Möglichkeit eines Gott-Menschen überhaupt zerfressen. Stattdessen wird der Standpunkt vertreten, diese Lehre sei erfunden worden und als heidnische griechische Theologie in die Kirche eingezogen.

„Die unerhörte ‚Enthüllung‘ des Neuen Testamentes ist, dass Jesus nicht nur einfach der Messias ist, sondern mehr als ein Messias.“
 

Selbst innerhalb der Kirche wird Jesus oft bestenfalls als „idealer Mensch“ oder vielleicht auch nur als guter Lehrer betrachtet – besonders in den Großkirchen. Doch in ähnlicher Weise zeigen sich auch viele evangelikale Christen verwirrt oder widersprüchlich. Eine 2018 von Ligonier Ministries und LifeWay Research in den USA durchgeführte Studie ergab, dass fast 95 Prozent derer, die sich als evangelikale Christen bezeichneten, die Lehre von der Dreieinigkeit bejahten. Doch zugleich glaubten etwa 80 Prozent, dass Jesus Christus das „erste und größte von Gott geschaffene Wesen“ ist.[1] Das Schockierende daran ist, dass die Befragten offenbar den massiven Widerspruch zwischen diesen beiden Standpunkten nicht erkannten. Daher besteht die klare Notwendigkeit, Christologie (d.h. die Lehre von der Person und dem Werk Jesu) erneut in den Fokus zu nehmen. Das kann viele Formen annehmen: die Lehren des Athanasius wieder in Erinnerung rufen, antike und moderne Irrlehren widerlegen, die orthodoxe Lehre anhand einer historischen oder modernen systematischen Theologie zusammenfassen, die komplexen Gedanken Karl Barths ordnen.

Jeder dieser Wege wäre fruchtbringend, aber ich beabsichtige, etwas noch Grundlegenderes zu tun. Ich möchte nicht nur bekräftigen, dass die Schrift lehrt, dass Jesus Christus vollkommen Gott ist, sondern ich möchte normalen Christen helfen zu verstehen, wie sie das tut. Es ist eine Sache, die „richtige“ Antwort zu wissen; es ist eine andere Sache, zu verstehen, wie die neutestamentlichen Autoren dorthin kommen – sozusagen ihre Arbeit offenzulegen.

Ein solches Vorhaben ist keineswegs neu. Zahlreiche Forscher – insbesondere aus den Reihen des selbsternannten „Early High Christology Clubs“ (sinngemäß: Club derer, die davon überzeugt sind, dass bereits seit der Frühzeit der Gemeinde eine hohe Christologie vertreten wurde; zu diesem gehören u.a. Richard Bauckham, Martin Hengel und Larry Hurtado) – haben diese Themen in letzter Zeit nicht nur anhand der Glaubensbekenntnisse und der Kirchenväter untersucht, sondern auch anhand der Schrift selbst. Doch die überwiegende Mehrzahl ihrer Arbeiten konzentriert sich dabei auf einen einzelnen Aspekt des Themas oder auf eine bestimmte Gruppe von Schriften (wie die Paulusbriefe), zudem beschränken sich die Veröffentlichungen größtenteils auf wissenschaftliche Monographien und Artikel. Es ist höchste Zeit, dass diese Erkenntnisse so präsentiert werden, dass sie eine breitere Öffentlichkeit erreichen.[2]

Kurz: Ich trete dafür ein, dass die vollständige trinitarische Christologie, die das Fundament des Christentums bildet, bereits seit den ersten Tagen im gesamten Neuen Testament zu finden ist, dass sie aus den Lehren Jesu selbst abgeleitet wird und im Alten Testament verwurzelt ist. Anders gesagt: Ich möchte aufzeigen, wie die Lehren, die später in den Glaubensbekenntnissen zusammengefasst wurden, schon seit Beginn der christlichen Gemeinde in der Schrift gefunden werden können.

Aber zunächst: die menschliche Natur des Sohnes

Angesichts all dessen sind viele Christen überrascht, wenn sie hören, dass die Alte Kirche ebenso viel Zeit mit der Diskussion verbrachte, ob Jesus Christus vollkommen Mensch war – was heute kaum mehr wirklich diskutiert wird –, wie mit der Diskussion, ob er vollkommen Gott war.[3] Während das Nizänische Glaubensbekenntnis sich auf die Frage nach der vollständigen Gottheit Jesu konzentriert („Wir glauben an … Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit … wahrer Gott vom wahren Gott“)[4], betont das Chalcedonense sein Menschsein. Es bekräftigt: Jesus Christus „ist vollkommen in der Gottheit und derselbe vollkommen in der Menschheit, zugleich wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch … in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert erkannt“.[5]

Es wäre daher ein Fehler, die Gottheit Jesu zu erörtern, ohne auf die historische Lehre der Kirche zu verweisen, dass die beiden Naturen – göttliche und menschliche – nicht vollständig getrennt werden können. Dennoch kann man die beiden in mehrerer Hinsicht voneinander unterscheiden („unvermischt“ lt. Chalcedon), und es ist wertvoll zu verstehen, was die Schrift über beide Naturen lehrt. Man bräuchte ein ganzes Buch, um die Zusammenhänge zu klären, wie Jesus Christus zugleich vollständig Mensch und vollständig Gott ist. An dieser Stelle gebe ich lediglich einen Überblick über neutestamentliche Schlüsselaussagen, die seine menschliche Natur bestätigen, bevor ich dann seiner göttlichen Natur umfassendere Aufmerksamkeit widme.

Erstens wird in verschiedenen Abschnitten festgestellt, dass Jesus im vollsten nur denkbaren Sinn Mensch ist und nicht nur eine sichtbare Gottes- oder Engelserscheinung. Matthäus 1,16, Lukas 2,6–7 und Galater 4,4 erklären, dass Jesus von einer Frau „geboren“ wurde. Ähnlich bestätigt Johannes 1,14, dass Jesus die gleiche Art „Fleisch“ (gr. sarx) „wurde“, die jeder Mensch besitzt. Er ist „im Fleisch“ „geoffenbart worden“ (1Tim 3,16), er ist „gleichermaßen dessen teilhaftig geworden“ (Hebr 2,14). Überall in den Evangelien tut Jesus Dinge wie essen, gehen, schwitzen, Gefühle zeigen, schlafen und so weiter. Selbst – oder vielleicht besonders – nach Jesu Auferstehung geben sich die Verfasser der Evangelien alle Mühe zu unterstreichen, dass sein auferstandener Körper immer noch ein vollkommen menschlicher Körper ist, wenn auch ein verwandelter. Wir sehen das in Johannes 20,27 (Thomas berührt Jesu Wunden) und in Lukas 24,42–43 (Jesus isst ein Stück Fisch). Der Apostel Johannes betont, er habe Jesus „gesehen“ und „betastet“ (1Joh 1,1), und erklärt, dass jeder, der leugnet, „dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist“, ein Verführer und „Antichrist“ ist (2Joh 7). Tatsächlich ist das vollständige Menschsein Jesu eine Scheidelinie, die die wahre Christenheit vom Unglauben trennt.

„Tatsächlich ist das vollständige Menschsein Jesu eine Scheidelinie, die die wahre Christenheit vom Unglauben trennt.“
 

Zweitens zeigt das Neue Testament, dass die menschliche Natur Jesu nicht nur eine wahre Tatsache, sondern von zentraler Bedeutung für die Realisierung von Gottes Erlösungsplan ist. Sein Menschsein war wesentlich, um alles zu erfüllen, was von dem menschlichen Messias oder Erlöser erwartet wurde. Ich nenne nur einige wenige Aspekte: Jesus ist

  • der eschatologische Prophet wie Mose (Apg 3,22),
  • ein Priester nach der Ordnung Melchisedeks (Hebr 5,10),
  • der König wie David (Mt 21,9; Röm 1,3), der aus Davids Geschlecht stammt (Mt 1,1–18),
  • der Gesalbte oder Messias/Christus (Lk 2,11; 9,20; Joh 20,31),
  • der zweite und größere Adam (Röm 5,14; 1Kor 15,45),
  • der Knecht, der leiden und stellvertretend sterben sollte (Apg 8,32–33; 1Petr 2,22–23),
  • die „Wurzel“ Isais und der „Stern“ aus Jakob (Offb 5,5; 22,16, wo Jes 11,1 bzw. 4Mose 24,17 anklingt),
  • der Hirte der Herde Israels (Joh 10,14; Hebr 13,20).

All diese Aspekte beruhen auf Verheißungen des Alten Bundes und werden in Christus verwirklicht. Streng genommen erfordert keiner dieser Aspekte, dass er durch eine vollkommen göttliche Person erfüllt werden muss. Aber vorgesehen ist, sogar oft ziemlich ausdrücklich, eine menschliche Erfüllung (z.B. das Vergießen von Blut, das Halten des Gesetzes anstelle von Adam). Entsprechend betonen diese Texte, dass Jesus Christus die Errettung speziell als menschlicher Mittlervollbringt (1Tim 2,5). Ohne seine vollständig menschliche Natur gäbe es keine Erlösung von Menschen.

Wie verfährt das Neue Testament nun weiter, inwiefern lehrt es, dass Jesus konkret ein göttlicher messianischer Erlöser ist? Auf welche Weise ist er nicht nur ein menschlicher Prophet, Priester, König und Mittler, sondern mehr als das, nämlich voll und ganz Gott? Die unerhörte „Enthüllung“ des Neuen Testamentes ist, dass Jesus nicht nur einfach der Messias ist, sondern mehr als ein Messias.[6]


[1] Vgl. Ligonier Ministries und LifeWay Research, „The State of Theology“, online unter: www.thestateoftheology.com(Stand: 04.12.2021).

[2] Larry W. Hurtado ist diesen Schritt gegangen. In seinem Buch Honoring the Son: Jesus in Earliest Christian Devotional Practice (Bellingham: Lexham, 2018) fasst er seine Erkenntnisse aus 30 Jahren Forschung über die Gottesdienstformen der Alten Kirche zusammen.

[3] Die Doketismus-Debatte – in der es um die Behauptung ging, Jesus sei nur dem Anschein nach Mensch gewesen – begann (u.a.) mit Serapion. Der Doketismus wurde durch die ökumenischen Konzilien verworfen.

[4] Andreas Janssen, Benjamin Misja (Hrsg.), Bekenntnisschriften des Protestantismus, Bellingham: Faithlife, 2018.

[5] Ebd.

[6] In Anlehnung an Andrew Chester, „The Christ of Paul“, in: Markus Bockmuehl, James Carleton Paget (Hrsg.), Redemption and Resistance: The Messianic Hopes of Jews and Christians in Antiquity, London: T&T Clark, 2007, S. 121.