Die Hölle wird den Himmel nicht erschüttern

Artikel von David Mathis
13. Dezember 2021 — 11 Min Lesedauer

Der Schrecken des Gerichts und die Verheißung der Freude

Wie viele von uns können, wenn wir ehrlich sind, den Gedanken an das göttliche Gericht nur schwer ertragen? Auch wenn wir der Bibel vertrauen und die Realität (und Richtigkeit) von Gottes Zorn und einer ewigen Hölle anerkennen, versuchen wir doch zumeist, das Thema zu meiden. Auf der einen Seite tolerieren wir zwar Gottes Gericht, andererseits wenden wir uns instinktiv davon ab. Vielleicht ist es uns im Grunde sogar ein wenig peinlich. Wir feiern die Selbstaufopferung Jesu am Kreuz, aber sprechen so wenig wie möglich über die Hölle, selbst wenn wir das Evangelium verkünden.

Die Vorstellung, sich eines Tages daran zu erfreuen, dass sich Gottes Gerechtigkeit und Macht in seinem Gericht offenbaren, scheint fast ungeheuerlich – ganz zu schweigen von dem Gedanken, dass wir ihm auch jetzt schon dafür dankbar sein könnten.

Ein zweiter Blick auf Gottes Zorn

Wenn wir die Hölle aus unserem Bewusstsein verbannen, verpassen wir jedoch weitere und tiefere Einblicke in die Herrlichkeit Gottes. Wir übersehen, bagatellisieren oder vernachlässigen wichtige Facetten von Gottes Wesen.

„Wenn wir der Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift folgen, werden viele von uns schon jetzt mehr Freude nicht nur an seiner Liebe und Gnade, sondern auch an seinem Zorn und seiner Gerechtigkeit finden“
 

Der Zorn Gottes und die Realität des göttlichen Gerichts gehören in der heutigen Zeit zu den anstößigsten Behauptungen des Christentums. Tim Keller entgegnet nicht nur seinen Skeptikern , sondern uns allen: „Wenn das Christentum die Wahrheit ist, dann muss es unser Denken an irgendeiner Stelle schockieren oder korrigieren. Vielleicht ist diese Stelle für Sie die Lehre vom Gericht Gottes“ (The Reason for God, S. 73, [dt. Titel: Warum Gott?]).

Was ist, wenn unsere Scheu vor dem göttlichen Gericht unsere Freude an Gott eher untergräbt als sie zu vergrößern? Geistlich gesunde Herzen werden verständlicherweise nicht durch die Aussicht erwärmt, dass ungläubige Angehörige in alle Ewigkeit dem allmächtigen Zorn Gottes ausgesetzt sind. Doch wenn wir der Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift folgen, werden viele von uns schon jetzt mehr Freude nicht nur an seiner Liebe und Gnade, sondern auch an seinem Zorn und seiner Gerechtigkeit finden. Denken wir anhand zweier biblischer Beispiele über diese Möglichkeit nach.

Gericht und Freude beim Exodus

In 2. Mose 14 stand das Volk Gottes mit dem Rücken zum Schilfmeer und musste zusehen, wie die Armee des Pharao auf sie zukam. Sie schienen in der Falle zu sitzen und gerieten in kollektive Panik. Inmitten ihrer großen Angst versprach Mose: „Der Herr wird für euch kämpfen“ (2Mose 14,14), und als sich das Heer des Pharao näherte,

„da erhob sich der Engel Gottes, der vor dem Heer Israels herzog, und trat hinter sie; und die Wolkensäule vor ihnen machte sich auf und trat hinter sie. So kam sie zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels.“ (2Mose 14,19–20)

Gott, dessen Gegenwart in der Wolkensäule in Erscheinung tritt, stellt sich zwischen sein Volk und deren Feinde. Dies ist ein kriegerischer Akt. Er tritt hervor, um die Seinen zu schützen. Er stellt sich selbst in die Mitte und sagt: Ich nehme diesen Kampf auf mich. Ich werde mein Volk vor seinen Angreifern schützen. Überlasst mir die Ägypter.

Der göttliche Kriegsmann

Schließlich, nachdem er das Meer geteilt hatte und die Israeliten trockenen Fußes hindurchgingen, während sie weiter von den Ägyptern verfolgt wurden, beendete Gott die Schlacht mit furchterregender Gewalt:

„Und es geschah, als die Morgenwache kam, da schaute der HERR aus der Feuersäule und der Wolke auf das Heer der Ägypter und verwirrte das Heer der Ägypter. Und er löste die Räder von ihren Streitwagen und brachte sie ins Gedränge. Da sprachen die Ägypter: ‚Lasst uns vor Israel fliehen, denn der HERR kämpft für sie gegen die Ägypter!‘“ (2Mose 14,24–25)
„Gottes Gerichte inspirieren sein Volk zu einem Lobgesang.“
 

Mose streckte seine Hand aus, die Wasser nahmen wieder ihren normalen Lauf und wir erfahren in 2. Mose 14,27: „So stürzte der HERR die Ägypter mitten ins Meer.“ Gott kämpfte tatsächlich für sie. Er nahm ihren Kampf auf sich. Er schlug ihre Unterdrücker vernichtend, und so begannen sie zu singen, um ihren Gott zu feiern, denn „hoch erhaben ist er“ (2Mose 15,1). Sie sangen: „Der HERR ist ein Kriegsmann, HERR ist sein Name“ (2Mose 15,3).

In 2. Mose 14–15 tritt Gott nicht zum letzten Mal als göttlicher Krieger gegen die Feinde seines Volkes in Erscheinung (siehe auch 5Mose 1,30; 3,22; 20,4; Jos 23,10; 2Chr 20,17; 32,8; Ps 35,1; Jes 30,32; 31,4; Sach 14,3). Besonders beachtenswert ist am Exodus: Gott ist nicht nur ein „Kriegsmann“, sein Volk lobt ihn auch noch dafür. Sie zucken nicht peinlich berührt zusammen. Im Gegenteil, sie freuen sich über seinen Zorn. Sie singen. Sie tanzen sogar (2Mose 15,20). Und warum? Weil er ihre Unterdrücker vernichtet hat.

Zorn dient der Liebe

Das Volk feiert die Liebe Gottes (2Mose 15,13) – aber nicht nur seine Liebe. Die Israeliten feiern auch seinen heftigen Grimm gegen ihre Feinde. Sie genießen es, im Schutz seines Zorns zu sein:

„HERR, deine Rechte ist mit Kraft geschmückt; HERR, deine Rechte hat den Feind zerschmettert! Und mit deiner großen Macht hast du deine Widersacher vertilgt; du hast deinen Grimm losgelassen, der verzehrte sie wie Stoppeln.“ (2Mose 15,6–7)

Im selben Moment, in derselben Handlung, ist Gottes Volk das Objekt seiner unverdienten Liebe, während seine Feindedas Objekt seines wohlverdienten Gerichts sind. Die Erweisung des Zornes Gottes gegen die Ägypter zeigt auch seine unerschütterliche Liebe zu seinem Volk. Er mag ihre Misshandlungen eine Zeit lang geduldig ertragen, doch am Ende zwingt ihn seine Liebe, Gerechtigkeit an den Bösen zu üben. Der göttliche Zorn dient der göttlichen Liebe, und so siegt die Liebe.

Gericht und Freude am Ende

Wir blicken aber nicht nur zurück auf den Exodus, sondern auch nach vorn auf das Endgericht. Auf den Seiten der Offenbarung gibt es mehr Berichte über Blutvergießen als irgendwo sonst in der Heiligen Schrift. Doch was ist der Grundtenor des Volkes Gottes von Anfang bis Ende? Sie beten an (Offb 4,10; 5,14; 7,11; 11,16; uvm.). Ihre Freude an Gott überschlägt sich im Lobpreis.

Während Gottes schreckliche Gerichte eines nach dem anderen über die Bösen hereinbrechen, schmälern die Qualen der Verdammten nicht die Freude der Heiligen im Himmel. Im Gegenteil – Gottes Gerichte inspirieren das Volk gar zu einem Lobgesang. Sie jubeln und wissen sich als Empfänger seiner Gnade, gerade weil seine Gerechtigkeit auf diejenigen herabkommt, die in ihrer Rebellion gegen den Schöpfer verharren.

Wenn die Wolken sich zurückziehen und wir einen Blick in den Himmel erhaschen, so sehen wir dort Märtyrer, die nach Gerechtigkeit schreien: „Wie lange, o Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ (Offb 6,10). Wir hören einen Aufruf der Engel zur Anbetung, „denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen“ (Offb 14,7). Und wir hören noch ein „Lied Moses“, in dem die Heiligen im Himmel verkünden: „Ja, alle Völker werden kommen und vor dir anbeten, denn deine gerechten Taten sind offenbar geworden!“ (Offb 15,4).

Gericht gegen sie und für euch

Wenn die himmlischen Heerscharen Gott anbeten, loben sie die Gerechtigkeit seiner Urteile:

„Gerecht bist du, o Herr, der du bist und warst und der Heilige bist, dass du so gerichtet hast! Denn das Blut der Heiligen und Propheten haben sie vergossen, und Blut hast du ihnen zu trinken gegeben; denn sie verdienen es!“ (Offb 16,5–6)

Der himmlische Lobpreis gipfelt in Offenbarung 18 und 19 in der endgültigen Vernichtung der Bösen. Gottes Gericht ist eine Demonstration seiner Macht vor den Augen seines anbetenden Volkes (Offb 18,8), und angesichts der Zerstörung Babylons werden seine Heiligen zur Anbetung aufgefordert:

„Sei fröhlich über sie, du Himmel, und ihr Heiligen und Apostel und Propheten! Denn Gott hat für euch das Urteil an ihr vollzogen.“ (Offb 18,20)

„Für euch“, ruft der Engel den Heiligen zu. Die göttlichen Urteile gegen die Bösen sind für euch.

Hallelujahs über der Hölle

Der Höhepunkt kommt in Offenbarung 19,1–6. Hier, auf dem Gipfel von Gottes Gericht, bricht sein Volk in vier Hallelujahs aus (Verse 1, 3, 4 & 6) – die einzigen vier in diesem Buch, die auf die Anbetung des Himmels ausgerichtet sind. Weshalb gerade jetzt ein Hallelujah? Das Volk Gottes preist ihn für das Gericht, durch das er es rettet:

„Hallelujah! Das Heil und die Herrlichkeit und die Ehre und die Macht gehören dem Herrn, unserem Gott! Denn wahrhaftig und gerecht sind seine Gerichte; denn er hat die große Hure [Babylon] gerichtet, welche die Erde verderbte mit ihrer Unzucht, und hat das Blut seiner Knechte von ihrer Hand gefordert!“ (Offb 19,1–2)

„Und nochmals sprachen sie: Hallelujah! Und ihr Rauch steigt auf von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Offb 19,3)

Der Tag wird kommen, an dem sich Gottes Volk darüber freuen wird, dass sein Gericht die Bösen getroffen hat (so auch Ps 48,11; 58,10; 96,11–13). Dann werden wir vollständig erfassen, was wir jetzt nur bruchstückhaft fühlen und erkennen.

Was wird aus den Bösen, die wir lieben?

Wir wissen zwar, dass die ewige Vernichtung der Bösen unsere nie endende, stetig wachsende Freude an Gott, dem Allmächtigen, nicht belasten, sondern sogar noch steigern wird. Doch bedeutet dies nicht, dass wir diese Freude jetzt schon in vollem Umfang erleben.

Jesus selbst weinte über die Verlorenheit Jerusalems (Mt 23,37), und der Apostel, der diese Wahrheiten so gut kannte wie kein anderer, schrieb von seiner „großen Traurigkeit und seinem unablässigen Schmerz“ über seine ungläubigen „Verwandten nach dem Fleisch“ (Röm 9,2–3). Und doch konnte er im selben Kapitel staunend jubeln über den Gott, der „seinen Zorn erweisen und seine Macht offenbar machen wollte, mit großer Langmut die Gefäße des Zorns getragen hat, die zum Verderben zugerichtet sind, damit er auch den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit erzeige, die er zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat“ (Röm 9,22–23). Die Tatsache, dass Paulus zugleich eine solche Traurigkeit gepaart mit der Hoffnung auf solche Herrlichkeit empfinden kann, gibt uns eine Vorstellung davon, wozu unsere Seelen fähig sind – selbst schon in diesem Leben.

Die Schrecken der Hölle werden die Freude der Braut Jesu nicht trüben. Es mag uns jetzt in dieser verwirrenden Zwischenzeit unvorstellbar erscheinen, doch letztlich wird die Erweisung von Gottes Gerechtigkeit und Macht in der Zerstörung der Bösen ein Anlass zu Lob und Freude für das Volk Gottes sein.

Freude am Ende – und jetzt schon

Es ist tatsächlich möglich, ewige Freude zu haben an einem Gott des ewigen Zorns. Andererseits könnten wir angesichts eines ungerechten Gottes keine ewige, stetig zunehmende und immer tiefer gehende Freude erfahren. Tief im Innern wissen wir alle, dass wir keinen Gott wollen, der weder zornig noch mächtig ist. Wir wollen keinen Gott, der die Bösen bestätigt oder sie einfach in Ruhe lässt, während sie ihren endgültigen Angriff auf Gott und sein Volk starten. Letztendlich sehnen wir uns nicht nach einem Gott, der untätig bleibt und sein Volk nicht genug liebt, um es vor dem Bösen zu schützen.

Am Ende werden die Grautöne verschwinden, und diejenigen, die sich nicht an Christus halten, werden als das entlarvt, was sie sind: Rebellen gegen ihren Schöpfer. Hasser des Gottes, den wir lieben. Verächter des Christus, den wir anbeten, und seiner Braut. Auf dem Spiel steht nicht weniger als ein kosmischer Krieg, und wir haben ihn zu unserem eigenen Schaden außer Acht gelassen.

Unsere Unfähigkeit, heute schon zu erkennen, dass die ewige Vernichtung der Bösen eines Tages ein Grund zur Freude sein wird, bedeutet nicht, dass wir niemals dazu in der Lage sein werden. Gerade in diesem Zeitalter können wir noch wachsen und reifen. Was wir jetzt noch nicht empfinden können, werden wir noch früh genug erfahren. Wir mögen es im Moment nicht spürbar erleben, aber ganz gewiss im kommenden Zeitalter. Wir werden dann nicht peinlich berührt zusammenzucken. Wir werden Hallelujah schreien. Wir werden der Wahrheit nicht ausweichen, sondern uns an ihr erfreuen. Wir werden uns nicht mehr fragen, wie das alles sein kann. Wir werden es wissen, und wir werden anbeten.