Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg
„Imaginäre Gärten mit echten Kröten darin.“ Mit diesen Worten beschrieb ein Autor die Gleichnisse Jesu. Es handelt sich um ausgedachte Geschichten mit Bezügen zum echten Leben. Es sind imaginäre Gärten, in denen echte Kröten zu finden sind. Häufig sind wir diese Kröten.
Matthäus 20,1–16 beginnt mit einer in der alten Welt typischen Situation: Ein Landbesitzer braucht Arbeiter, weshalb er Tagelöhner anheuert. Als der Tag voranschreitet, braucht er weitere Arbeiter. Also geht er mehrmals am Tag hin und her, bis es nur noch eine Stunde bis zum Feierabend ist.
Dann tut der Weinbergbesitzer etwas Seltsames. Er ruft am Ende des Tages alle zusammen und zahlt den Männern, die nur eine Stunde gearbeitet haben, den vollen Tageslohn. Diese schockierend großzügige Handlung ruft Begeisterung in der Menge hervor. Die Arbeiter, die den ganzen Tag gearbeitet haben, rechnen schnell nach. „Wenn die Eine-Stunde-Arbeiter einen Denar bekommen haben, dann werden wir im Geld schwimmen“, werden sie sich wohl gedacht haben. Heute scheint ihr Glückstag zu sein.
Und so können wir gut verstehen, dass sie enttäuscht sind, als sie mit der Bezahlung an der Reihe sind und ihnen der gleiche Lohn ausgehändigt wird, den auch die zuletzt eingestellten Arbeiter erhalten haben. Das ist noch untertrieben. Sie sind wütend – wütend genug, um sich öffentlich bei ihrem Wohltäter zu beschweren. Der Besitzer antwortet, dass er die faire und abgesprochene Summe gezahlt hat. Wie er sein Geld sonst ausgibt, auch wenn das bedeutet, denen gegenüber, die weniger Gelegenheit zur Arbeit hatten, großzügig zu sein, ist seine Angelegenheit. Die nörgelnden Arbeiter waren nicht ungerecht behandelt worden. Ihr emotionaler Aufruhr ist auf Erwartungen zurückzuführen, die auf Neid und nicht auf Ungerechtigkeit beruhten.
In der Geschichte der Kirche gab es viele Versuche, dieses Gleichnis zu erklären. Einige schlagen vor, dass die fünf verschiedenen Einstellungen von Arbeitern fünf Stufen der Weltgeschichte repräsentieren, in denen Gott Menschen zu sich gerufen hat. Oder sie repräsentieren verschiedene Lebensabschnitte, in denen man Christ werden kann. Die Aussage ist dann, dass Gott zu allen gnädig ist und alle in seinem Königreich willkommen heißt, egal, wann sie gerufen werden. Einige sagen, das Gleichnis sei ein Bild für Gottes zukünftiges Reich, in dem alle geretteten Menschen in den Himmel kommen, egal, wie viel sie für Gott gearbeitet haben. Die weiteste und vielleicht populärste Interpretation ist, dass dieses Gleichnis lediglich ein Bild von Gottes unglaublicher und wunderbarer Gnade und Großzügigkeit ist – das Evangelium „in a nutshell“.
Jede dieser Interpretationen hat ihre Berechtigung. Aber es gibt noch mehr zu sehen. Der Schlüssel ist, dem Kontext, den Matthäus uns für dieses Gleichnis gibt, Aufmerksamkeit zu schenken. Die Geschichte, die unserem Gleichnis vorangeht, handelt von einem reichen Synagogenvorsteher, der Jesus schließlich doch nicht folgt, weil seine Liebe zu seinem Besitz zu groß war (Mt 19,16–22). Die Jünger reagieren geschockt. Jesus verspricht ihnen daraufhin außerordentliche Belohnungen dafür, dass sie alles aufgegeben haben, um Ihm nachzufolgen (Verse 23–30). Das Versprechen, dass die Jünger auf zwölf Thronen sitzen werden, beschäftigt sie so sehr, dass Jakobus und Johannes kurz danach diejenigen sein wollen, die Jesus am nächsten sitzen wollen (20,20–28).
„Leben entsteht, wenn wir unsere Augen nicht horizontal auf das ausrichten, was andere haben, sondern vertikal auf die Großzügigkeit des Besitzers der ganzen Erde.“
Dieser Kontext zeigt uns, dass das Gleichnis direkt auf unser Herz abzielt: Es geht um das Problem von Selbstgefälligkeit und Neid. Nachdem der junge Vorsteher mit leeren Händen weggegangen und den einfachen Jüngern die Herrschaft versprochen worden war, stiegen in ihnen selbstgefällige und stolze Gedanken hoch. Schließlich hatten sie die weise Entscheidung getroffen, Jesus nachzufolgen. Mit dem Gleichnis erinnert Jesus sie daran, dass all ihre Segnungen aus Gottes Großzügigkeit entspringen und sie es nicht selbst geschafft haben. Gleichzeitig dringt Jesus direkt in unsere Herzen, die zu Neid neigen, ein. Jesus fordert seine Jünger auf, nicht darauf zu schauen, was andere haben, und nicht bitter und neidisch zu werden. Rivalität zerstört die Seele, weil alles im Leben ein Geschenk Gottes ist.
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg gibt uns einen Eindruck von Gottes großzügiger Gnade uns und anderen gegenüber. Leben entsteht, wenn wir unsere Augen nicht horizontal auf das ausrichten, was andere haben, sondern vertikal auf die Großzügigkeit des Besitzers der ganzen Erde, auf den König Jesus, der uns Freunde nennt und uns weise und großzügig gibt.