„Die Leiden des Christus ergänzen“?
Was Paulus’ Leidensverständnis mit uns heute zu tun hat
Der Kolosserbrief lässt uns hin und wieder ratlos zurück. Paulus nennt in diesem kurzen Brief Jesus „den Erstgeborenen aller Schöpfung“ (1,15), er spricht über die „Beschneidung des Christus“ (2,11), nennt seltsame Anbetungspraktiken (2,18; 2,23) und erwähnt seinen unbekannten Brief an die Gemeinde in Laodizea (4,16) – um nur einige knifflige Abschnitte zu nennen.
Einer der schwierigsten Verse in diesem Brief ist jedoch Kolosser 1,24: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und ergänze in meinem Fleisch, was noch aussteht von den Bedrängnissen des Christus für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“
Was könnte denn noch an den Bedrängnissen des Christus fehlen? Und wie sollte Paulus denn etwas daran ergänzen können?
Eine Vielfalt an Auslegungen
Dieser Vers wurde in der römisch-katholischen Kirche sowohl vor als auch nach der Reformation als Begründung der Lehre vom Gnadenschatz der Kirche verwendet (man könnte das die „Heilssichtweise“ nennen) [1]. Heutzutage kämpfen römisch-katholische Gelehrte nicht mehr für diese Sichtweise. Über die Jahrhunderte hinweg haben jedoch hunderte von Theologen versucht, den Sinn des Verses auf andere Weise zu verstehen.
Der Reformator Johannes Calvin liefert eine der längsten Entgegnungen auf die „Heilssichtweise“ von Kolosser 1,24. Seine Auslegung könnte man die „Sichtweise der mystischen Einheit“ nennen. Die mystische Einheit der Gläubigen mit Christus ist der Dreh- und Angelpunkt von Calvins Verständnis dessen, was es heißt „das zu ergänzen, was an den Bedrängnissen des Christus noch aussteht“:
Daher, wie Christus einmal in seiner eigenen Person gelitten hat, so leidet er täglich in seinen Gliedern, und auf diese Weise werden diese Leiden aufgefüllt, welche der Vater durch seinen Ratschluss für seinen Leib bestimmt hat.
Bis in die 1950er Jahre hinein war Calvins Auslegung unter protestantischen Pastoren und Theologen am weitesten verbreitet. Diese Ausleger bezogen sich sehr häufig auf den Bericht der Bekehrung des Saulus in Apg 9,4. Dort stellt Jesus ihm die bemerkenswerte Frage: „Warum verfolgst du mich?“ (und nicht: „Warum verfolgst du meine Gemeinde?“).
Obwohl die „Sichtweise der mystischen Einheit“ in mancherlei Hinsicht hilfreich ist, hat sie doch ihre Schwachstellen. Das Hauptproblem ist folgendes: Selbst wenn Paulus darüber reden würde, wie Jesus weiterhin Seite an Seite mit Christen leidet, auf welche Weise ist Paulus dann in der Lage, diese mystischen Leiden zu „ergänzen“ oder zu „vervollständigen“? Warum hat Paulus scheinbar eine klare und definierte Menge an Leiden vor Augen?
„Wenn du Teil der Mission Gottes wirst, um Anbeter für Ihn zu gewinnen, dann wirst du ein Maß an Leiden oder Schmerzen erleben.“
Wegen dieser Schwachstellen wurde in den 1950er Jahren eine andere Auslegung prominent, die bis heute die am häufigsten zu findende unter den Kommentatoren ist. Man könnte sie als die „Sichtweise der messianischen Wehen“ bezeichnen. Diese Auslegung gründet sich auf einigen angeblichen Parallelen in jüdischen Schriften und behauptet, dass die Gemeinde vor der Wiederkunft Jesu eine gewisse Menge an Leiden ansammeln muss. Und diese ganz bestimmte Menge an Leiden wird durch Männer wie Paulus „abgearbeitet“, der sich selbst einsetzte und mehr Leiden auf sich genommen hat, als ihm eigentlich zugemessen war.
Aber auch diese Sichtweise hat ihre Probleme. Erstens: Es scheint überheblich und fehlgeleitet, wenn Paulus behauptet, dass er in seinem missionarischen Dienst übermäßig viele der von Jesus beschriebenen apokalyptischen Wehen (siehe Mt 24–25) erleben muss. Zweitens: Der Abschnitt scheint anzudeuten, dass die Leiden des Paulus den Gläubigen in Kolossä unmittelbar nützen. Das würde nicht passen, wären die Leiden hauptsächlich eine notwendige Voraussetzung für das Kommen Jesu. Drittens: Viele der angeblichen Parallelen in jüdischen Schriften passen schlecht zum Zeitpunkt des Briefes und dem von Paulus verwendeten Konzept.
Wie sollen wir den Vers also verstehen?
Eine bessere Alternative
Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich ein neuer Konsens herausgebildet: Im Zentrum dieser Auslegung steht die Notwendigkeit des Leids in der Mission. Meiner Einschätzung nach ist das eine hilfreichere und vom Kontext her treffendere Auslegung des Abschnitts.
Wenn wir uns den Kontext anschauen, dann sagt Paulus weiter: „Ihr Diener [d.h. Diener der Gemeinde] bin ich geworden nach der Verwaltung Gottes, die mir im Blick auf euch gegeben ist, um das Wort Gottes zu vollenden“ (Kol 1,25). Hier verwendet Paulus wiederum die Idee der „Vollendung“. Er „ergänzt“ Christi Bedrängnisse (1,24) und „vollendet das Wort Gottes“ (1,25). Was ist hier das verbindende Element?
Es ist die Mission. Paulus sagt, dass er seine ihm von Gott gegebene Mission unter den Heiden ausführt. Und bei der Ausübung dieser Mission macht er die Botschaft geographisch gesehen „vollendet“ bekannt, indem er sie bis ans Ende der ihm bekannten Welt trägt und im ganzen römischen Reich Außenposten des Reiches Gottes errichtet.
Was meint er, wenn er darüber spricht, dass noch etwas „aussteht“? Das, was noch aussteht, sind die Leiden, die noch notwendig sind, um dafür zu sorgen, dass das Evangelium sich noch weiter ausbreitet, bis es bei allen Heiden bekannt ist. Das steht parallel zu Jesu eigener Mission, das Evangelium dem jüdischen Volk zu bringen (dieselbe Wortwahl von „Diener“ und „völlig verkündigen“ findet sich in Röm 15,8.16.19).
Wie also ergänzt Paulus das, was noch aussteht? Die Antwort lautet: Indem er die Botschaft des Evangeliums bis ins Herz des Römischen Reiches trägt.
Und wie genau sind diese Leiden „für euch“ (d.h. für die Kolosser) gewesen? Die Antwort lautet: Die Leiden des Paulus haben sowohl den Heiden im Allgemeinen genutzt (wie man an der enormen Reichweite der Botschaft sieht; Kol 1,6a), als auch der Gemeinde in Kolossä im Besonderen (wie man an ihrem Festhalten am Evangelium sieht; Kol 1,6b–8).
Was bedeutet das für mich?
Wenn du Teil der Mission Gottes wirst, um Anbeter für Ihn zu gewinnen, dann wirst du ein Maß an Leiden oder Schmerzen erleben. Das bedeutet es, sich ihm anzuschließen, bis das Evangelium an die Enden der Erde gebracht ist. Dieses Leiden kann etwas vermeintlich kleines sein, wie zwischenmenschliche Spannungen oder die Verlegenheit beim Versuch, anderen von deinem Glauben zu erzählen. Es kann aber auch etwas so großes sein, wie dein Leben aufs Spiel zu setzen oder mit deiner Familie an einen Ort zu ziehen, wo nur wenige den Namen „Jesus“ jemals gehört haben.
„Wenn du es zur Zeit so bequem hast wie nie zuvor, dann ist es gut möglich, dass du noch nicht wirklich teilnimmst an Gottes Mission zur Verbreitung des Evangeliums.“
Die Kehrseite der Medaille ist: Wenn du es zur Zeit so bequem hast wie nie zuvor, dann ist es gut möglich, dass du noch nicht wirklich teilnimmst an Gottes Mission zur Verbreitung des Evangeliums. Wenn du wie Paulus deine Missions-Geschichte als Teil der Missions-Geschichte Gottes in Christus siehst, dann wirst du neue Kraft und ein größeres Ziel finden, während du dich um diejenigen kümmerst, die weit entfernt von ihrem Schöpfer sind.
Und, das klingt jetzt vielleicht seltsam: Auch du wirst das ergänzen, was noch an den Bedrängnissen des Christus aussteht.
[1] Nach dieser Sichtweise sind die Leiden des Paulus (und anderer Heiligen) Teil eines Gnadenschatzes, der den übrigen Gläubigen „gnadenbringend“ zugute kommen.