Im Weltabenteuer Gottes leben
Günter Thomas, Professor für systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, hat in seinem aktuellen Buch eine schonungslose Abrechnung mit dem Gegenwartsprotestantismus vorgelegt. Weil der Evangelischen Kirche die Gewissheit der Lebendigkeit Gottes abhandengekommen ist, so behauptet er, hat sie nichts eigenes mehr zu sagen. Zwar bemühten sich gewisse Gruppierungen um Reformen. Diese blieben jedoch im Organisatorischen stecken und arbeiteten mit Instrumentarien, die wir aus der Wirtschaft kennen. Die Kirche frage: „Wie können wir uns der Konkurrenz anpassen?“ Genau das zeige aber, dass die Kirche nicht mehr an die eigene Sendung glaube. Dass die Theologen trotzdem tiefenentspannt ihre Bücher schreiben, so als gäbe es keine Krise, mache alles nur noch schlimmer. Was Thomas fordert, ist kein pragmatisches Anpassungsmanöver, sondern eine theologische Neuorientierung. Um zu zeigen, wo das Problem liegt, knüpft Thomas an ein Raster des Kirchenvaters Augustinus an. In seinem Gottesstaat unterscheidet dieser zwischen drei Typen der Theologie und entsprechend drei Formen der religiösen Praxis (vgl. S. 30). Es gibt demnach eine politische Theologie (theologia civilis), eine mythische Theologie (theologia fabularis) und eine philosophische Theologie (theologia naturalis). Die politische Theologie sei inhaltlich vage und könne von der Obrigkeit benutzt werden, um bestimmte Dinge durchzusetzen. Die mythische Theologie lebt in Erzählungen. „Es ist die heiße Religion der Popularkultur, voller Konflikte und Gewalt, voller Dramatik, reich an Emotionen und eher frei von staatsbürgerlicher ethischer Orientierung“ (S. 31). Die philosophische Theologie ist hingegen eher kühl. Sie baut auf die Vernunft und das gute Argument.
„Weil der Evangelischen Kirche die Gewissheit der Lebendigkeit Gottes abhandengekommen ist, so behauptet er, hat sie nichts eigenes mehr zu sagen.“
Laut Thomas wurde die Gottesfrage im Abendland zu einem philosophisch-intellektuellen Abenteuer (vgl. S. 3). Die Philosophie sei ihr wichtiger als die Literaturwissenschaft oder die Medienwissenschaft. Das habe zu zwei Fehlentwicklungen geführt. Die an der Philosophie ausgerichtete Theologie und Kirche „übersieht die mächtigen Praktiken und Kräfte der mythischen Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft“ (S. 33). Zudem stehe der lebendige Gott nicht mehr im Fokus.
„Gerät allerdings Gottes dramatische Lebendigkeit aus dem Blick, so gewinnt im Verbund mit einer inhaltlichen Entleerung eine Moralisierung des Protestantismus enorme Schubkraft. Ein letzter Grund und ein erstes Prinzip haben aber wenig, ja wohl gar nichts mit dem Gott Abrahams, mit dem Geist Gottes oder dem erwarteten Messias zu tun. Philosophen singen nicht“ (S. 33–34).
Die aufgeklärte Theologie sei in die Falle der Selbstüberschätzung der Philosophie getappt. Sie wird am Ende deren „Verachtung für das verrückte, unvernünftige, unmoralische und irgendwie irre Geschehen der mythischen Erzählmaschine teilen“ (S. 38). Was aber die Menschen am Leben erhalte, sei im Wesentlichen durch Erzählungen geprägt (vgl. S. 34– 37). „Der Mensch war schon immer ein homo narrans, ein Geschichtenerzähler“ (S. 35). Somit wird die Säkularisierung nach Thomas dadurch sichtbar, dass sich die Menschen von den biblischen Erzählungen abwenden und bei konkurrierenden Mythen Orientierung suchen.
Thomas geht so weit, dass er die Abwendung Gottes von seiner Kirche ins Spiel bringt – für mich ein Glanzpunkt des Buches. Das klingt dann so:
„Könnte es aber sein, dass sich der lebendige Gott dann, wenn seine Lebendigkeit nicht mehr gesehen wird, abwendet? Könnte es sein, dass in der Weltchristenheit die überall schrumpfenden liberalen Kirchen des Westens nicht die Fackel tragen, sondern sich als ein erschöpfter und ausgezehrter Läufer letztlich selbst aus dem Lauf der Christentumsgeschichte nehmen? Könnte es sein, dass sie eine Episode in der Geschichte sein werden, weil sich Gott von ihnen abgewandt hat? Könnte es sein, dass Jesus das Versprechen ‚ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende‘ nicht aufkündigt, aber eben an anderer Stelle weiterführt, weil die westlichen Kirchen ihn gar nicht als lebendigen Christus dabeihaben möchten? Könnte es sein, dass Gott sein Angesicht vom westlichen Protestantismus abgewendet hat?“ (S. 60)
„‚Könnte es sein, dass Gott sein Angesicht vom westlichen Protestantismus abgewendet hat?‘“
Ein weiterer Glanzpunkt ist für mich die Kontur der Unterscheidung von Versöhnung und Erlösung. Während die Versöhnung in Christus bereits geschehen ist, warten wir, so Günter Thomas, auf die endgültige Erlösung. Sobald wir diese Spannung auflösen, betreten wir seiner Meinung nach theologische Irrwege. Zwei Fehlentwicklungen benennt er konkret: Wer die Erlösung der Welt aus den Augen verliert, „vergisst den noch ausstehenden Überschuss an Neuheit in der Auferweckung des Gekreuzigten und in der Ausgießung des Geistes, der in dieser Zeit noch nicht eingelöst ist“ (S. 84). „Alle Theologien, die gegen eine Jenseitigkeit polemisieren und sofort eine Weltflucht wittern, übersehen die das Leben zerstörerisch überschattende Macht des Todes“ (S. 84).
Fatal wirke es sich indes ebenfalls aus, wenn die Versöhnung zugunsten der Erlösung vergessen werde. Erlösung werde dann „entspannt und vergemütlicht“ oder – wie etwa bei Margot Kässmann oder Heinrich Bedford Strohm – „verdiesseitigt“. Eine Theologie, die sich von zeitlichen Zielvorstellungen vereinnahmen lasse, sei nicht mehr als ein Verstärker für das, was andere sowieso schon sagen (vgl. S. 101).
„Die liberalen Kirchen des Westens haben das Verständnis der Mission als Teilhabe an Gottes eigener Sendung weithin so umgebaut, dass Mission als Einladung zur Konversion herausfällt. Mission ist Sorge für Gerechtigkeit und Frieden. Mission ist Sorge für ein gutes Leben, für die Verbesserung des Lebens“ (S. 165).
Das Essay Im Weltabenteuer Gottes leben hat mich stellenweise gepackt. Günter Thomas ist ein strenger Diagnostiker, der viele Probleme schonungslos, aber nicht gnadenlos, aufdeckt und leidenschaftlich für die Teilhabe an der Lebendigkeit Gottes wirbt. Gleichwohl hege ich einige Zweifel an seiner Vision vom „Weltabenteuer Gottes“. Ein Manöver nährt meine Bedenken besonders: die Flucht ins erzählerische Potenzial des Glaubens.
Erzählungen unterhalten wunderbar. Die Leute wollen Geschichten hören. Letztlich möchten sie aber auch wissen, ob die Geschichten, die ihnen erzählt werden, stimmen. Die Frage, ob die Botschaft vom Kreuz Mythos oder Wahrheit ist, darf gestellt und muss beantwortet werden. „Wir sind nicht ausgeklügelten Mythen gefolgt“, heißt es im 2. Petrusbrief 1,16. Die Kirche kann sich diesem Ruf nach Rechtfertigungsgründen für ihren Glauben nicht einfach entziehen, indem sie sich auf das Feld der mythischen Theologie oder der kirchlichen Praxis zurückzieht. So ein fideistisches Manöver wird die historische und vernünftige Kritik sowieso nicht zum Schweigen bringen. Dieser Herausforderung kann sich Günter Thomas, der Präferenzen für die theologischen Ansätze von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer zu haben scheint, nicht entziehen. Heiß darf und soll der Glaube sein! Doch nur dann, wenn er offenbarungstheologisch vernünftig begründet ist.
Insgesamt weist das Essay aber in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass viele Christen, die unter aktuellen Entwicklungen im Protestantismus leiden, sich von diesem Appell zum hoffnungsvollen Realismus provozieren lassen.
Buch
Günter Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben: Impulse zur Verantwortung für die Kirche, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2020, 363 Seiten, 16,00 Euro.