Eine Feministin findet zu Christus

Buchauszug von Rosaria Butterfield
17. November 2021 — 10 Min Lesedauer

Wie erreichte Gott eine überzeugte und radikale Nichtchristin? Nutzte er eine evangelistische Veranstaltung? Oder war es ein Buch, weil sie einen Doktortitel in Literaturwissenschaften besaß? Nein, Gott benutzte eine Einladung zum Abendessen in einem einfachen Haus, von einem bescheidenen Ehepaar ausgesprochen, das einfach nur das Evangelium authentisch auslebte. Rosaria Butterfield berichtet:

Ich schrieb Bücher, hielt Vorlesungen, betreute Abschlussarbeiten und gab Bachelor- und Masterkurse. Ich leitete das Bachelorstudienprogramm in Englisch und Textwissenschaften an der Syracuse University. Ich war ein aufgehender Stern. Ich war darauf aus, die Welt zu verändern. Ich war nicht auf der Suche nach mehr Freunden. Und ich war definitiv nicht auf der Suche nach Freunden, die dachten, ich sei eine Sünderin.

Bis heute kann ich nicht wirklich erklären, warum Ken und Floy und ich so gute Freunde wurden – abgesehen von ein paar einfachen Wahrheiten.

Die erste Wahrheit ist, dass Ken und Floy mich nicht losließen. Ich versuchte zu verschwinden. Das hätte nicht allzu schwierig sein sollen angesichts der Tatsache, dass wir in unterschiedlichen Einflusskreisen unterwegs waren. Aber sie waren ein dienendes Team und wollten einfach nicht loslassen. Jede Woche meldete sich einer von beiden entweder telefonisch oder per E-Mail. Es wurde einfacher, mich jede Woche zu den Mahlzeiten zu ihnen zu gesellen, als ihnen aus dem Weg zu gehen. Verstehen Sie mich nicht falsch – die Smiths waren weder Nervensägen noch Stalker. Aber sie waren unerschütterlich präsent. Erst später verstand ich, dass niemand Menschen ausweichen kann, die im Gebet präsent sind. Ken und Floy beteten jeden Tag für mich – ihre Erzfeindin. Sie dachten über mich nach und beteten für mich, als wäre ich ihre Tochter. Das schuf einen Sog des gegenseitigen Verstehens, der im Himmelreich entstand und vor dem ich nicht weglaufen konnte.

Das zweite verbindende Element war dieses: Insgeheim war ich hingerissen von Ken und Floys Gastfreundschaft. Menschen aller Couleur kamen und gingen. Floys Mahlzeiten waren wie meine: einfach und reichlich. Wir servierten beide viel Reis und viele Bohnen. Floys Küchenschränke standen voller großer Einmachgläser, die mit Bohnen in vielen Farben gefüllt waren. Am Ende einer langen Reihe von farbenfrohen Bohnengläsern stand ein Kochbuch: More with Less: Suggestions by Mennonites on How to Eat Better and Consume Less of the World’s Limited Food Resources.[1]

Menschen betraten das Haus der Smiths mit ihren Bibeln (das war neu) und ihrem Psalmenbuch (einer Sammlung von Psalmen, die in vierstimmiger A-cappella-Musik gesetzt waren und wie ein Liederbuch verwendet wurden; das war neu und irgendwie cool, so wie alle alten Dinge für jeden echten Geisteswissenschaftler wahrhaft cool sind). Die Menschen, die durch Kens Tür kamen, waren sowohl kulturell als auch musikalisch gebildet. Sie wussten, wie man ein Buch aufschlägt und darin liest. Sie wussten außerdem, wie man die Tenorstimme eines Psalms entwickelt, der in einer vierstimmigen Harmonie geschrieben war. Ich respektierte diese Fähigkeiten. Noten und antike Texte zu lesen ist eine seltene Kunst. Ich fühlte mich von ihren schlichten und unaufdringlichen Fähigkeiten angezogen.

Die Menschen, die sich im Haus der Smiths versammelten, waren tiefgründig, bewandert und reflektiert, auch wenn ich glaubte, dass sie völlig falsch lagen. Sie lasen die Bibel zudem anders als jedes andere Buch, das ich Menschen in einem öffentlichen Rahmen habe aufschlagen sehen. Sie lasen die Bibel in der ersten Person und im Präsens. Sie sagten nicht nur, dass sie sie für ein lebendiges Buch hielten, das Gott selbst gehörte. Sie behandelten sie auch genauso. Im Gebet redeten sie so mit Gott, als hätten sie einen guten Draht zu ihm.

„Die Musik der Psalmen rief etwas in mir hervor, etwas, das zwischen bitterem Zorn und insgeheimer Zustimmung schwankte.“
 

Doch wenn sie das Psalmenbuch aufschlugen, erwachte irgendetwas tief in mir zum Leben. Vierstimmige Harmonien, ganz sicher. Ron im Bass, Diana im Alt, eine Reihe von ernsthaften Jungs mit pickeligen Gesichtern, die zu Hause unterrichtet wurden, im Tenor, Sopranstimmen, die die höchsten Noten mühelos zierten, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich wurde an einen Chorlehrer in der Musikschule erinnert, der vierstimmige Harmonien mit einem Haus verglich: das Fundament im Untergeschoss (Bass), der Boden (Tenor), die Wände (Alt), das Dach (Sopran). Der Gesang im Haus der Smiths baute ein wohlproportioniertes Haus. Das ist etwas so Seltenes, dass ich ins Nachdenken kam. Die Qualität der Musik war hervorragend. Doch die Worte, die sie sangen, waren verblüffend, entwaffnend, Anstoß erregend, sogar abstoßend. Die Musik war wie ein scharfes südamerikanisches Chili mit schwarzen Bohnen und einem Hauch von Honig. Es wirkte nach, und man konnte nicht sagen, ob es scharf oder süß war, bis man auf eine scharfe Chili biss und die Tränen flossen. Die Musik der Psalmen rief etwas in mir hervor, etwas, das zwischen bitterem Zorn und insgeheimer Zustimmung schwankte.

Das dritte verbindende Element bestand darin, dass wir beide unsere Feinde gerne nah bei uns hatten. Das wurde durch die offene Tür ihres Hauses deutlich. Das war eine Fähigkeit, die ich von ihnen lernen wollte. In der Theorie sagte ich oft dasselbe. Ich sagte Dinge wie: „Da, wo alle dasselbe denken, denkt keiner besonders viel.“ Oder: „Halte deine Feinde in deiner Nähe; wie ein Pferd, das ausschlägt, können sie dich am Ende nicht hart treffen, wenn du in ihrer Nähe stehst.“ Dennoch bestand meine Tischgemeinschaft Jahr für Jahr meistens aus denselben weißen, sich als lesbisch bezeichnenden Doktorandinnen der Geisteswissenschaften. Nicht wirklich vielfältig, trotz unserer intersektionalen Ansprüche gegen Unterdrückung. Die einzige Ausnahme bildete gelegentlich eine aus China adoptierte Tochter. Die AIDS-Krise diversifizierte unser Geschlecht. Und J., mein Transgender-Freund, diversifizierte unsere Geschlechtsidentität. Aber zum größten Teil waren die Menschen in meinem Kernbereich alle gleich.

Hier war ich nun – ein Feind –, der gerade ein Buch gegen diese Leute verfasste. Und hier war ich – und amüsierte mich ungeachtet der gewaltigen Kluft zwischen unseren Weltanschauungen, die für uns alle real und wahr und entscheidend war.

Und das war keine einmalige Sache, wie ein aus dem Moment heraus entstandenes Gedicht, das im Krieg anlässlich eines Waffenstillstands verfasst wird. Diese Sache – für mich war sie etwas Wöchentliches, aber für sie etwas Tägliches, wie ich vermutete. So lebten diese Christen. Und das war unwiderstehlich und stark. Trotz allem waren Ken und Floy, Ron und Robyn, Dee, Bill, Renee, Nora und Bud mein Rudel geworden. Zumindest sonntagsabends, an dem Tag, den sie den „Tag des Herrn“ nannten.

Ich kreuzte nicht jede Woche auf. Ich konnte es nicht ertragen. Sie schon. Da war ich mir sicher.

Die Zeit im Haus der Smiths verhielt sich am Sonntagabend unnatürlich. Keine Eile, keine Studentenarbeiten benoten, keine hektischen Telefonanrufe von Kollegen, mit denen man über andere Kollegen tratschte. Keine Strategietreffen. Ich lernte, mein loses Maul zu zügeln – wenigstens sonntagsabends.

„Ich verachtete sie. Ich verspottete sie. Ich machte mich über unser Bibellesen und unseren Psalmengesang lustig. Und sie liebten mich. Sie bezogen mich ein und beteten für mich.“
 

Ich war Vorsitzende des ETS-Programms – Englisch und Textwissenschaften. Wir brüsteten uns damit, das erste Anglistikinstitut im Land zu sein, das die traditionellen Anglistikfächer im Bachelorstudium durch einen poststrukturalistischen und kulturtheoretisch basierten Lehrplan ersetzt hatte. Einführung in die Anglistik war Vergangenheit. Dieser primitive Hilfskurs wurde zum Kursangebot des Studiengangs für Literarisches Schreiben herabgestuft. Das war eine separate akademische Einheit, die sogar in einem anderen Gebäude untergebracht war. Einführung ins wissenschaftliche Schreiben war ebenso out wie die Lektüre klassischer Literatur im Sinne des Autors, wie es der alten Schule entsprach. Rezeptionsästhetik, pomo (postmoderne), kritische Theorie ersetzte sie. Wir, die wir diese Revolution anführten, bezeichneten uns selbst (insgeheim) als die Pomo Homos. Wir betrachteten das als Kompliment.

Im Haus der Smiths leitete Pastor Ken etwas, das sie als „Hausandacht“ bezeichneten. Dabei gingen sie den Jakobusbrief durch. Ich war fasziniert. Jakobus war ein schrecklich praktisches Buch, dachte ich. Und es war faszinierend in seiner Einfachheit.

Jakobus enthielt für mich außerdem ein paar geistreiche Spitzen. Tratsch, die Zunge als Brandstifter, Schimpfwörter.

Was sollte ich mit meinen Kollegen reden, wenn wir nicht über andere Kollegen tratschen konnten?

Wie konnte ich einen Satz ohne ein Schimpfwort beenden? Aber der beste Teil des Abends war der Gesang.

Musikalisch gebildete Menschen sind schwer zu finden. Ich freute mich wahnsinnig, dass ich welche gefunden hatte. In meiner Alltagswelt hatten wir einen schwulen Männerchor – und die Leute da waren sehr, sehr gut. Aber irgendwie interessierten sich die Lesben in meinem Kreis nicht dafür. Und so war ich in meiner LGBTQ-Gemeinschaft auf einen Platz im Publikum verwiesen. Die Psalmen in vierstimmiger Harmonie zu singen war auf eine neue Art sinnlich für mich.

Ich übte sogar zu Hause und wärmte meine Stimme für unser „Psalmensingen“ auf. Einmal, als ich gerade Tonleitern als stimmliche Aufwärmübung für den Psalmengesang sang, schaute meine Partnerin mich mit hochgezogener Augenbraue an:

„Was genau macht ihr da in dem Sektenhaus?“

So nannten wir Ken und Floys Haus: das „Sektenhaus“.

Ich verachtete sie. Ich verspottete sie. Ich machte mich über unser Bibellesen und unseren Psalmengesang lustig. Und sie liebten mich. Sie bezogen mich ein und beteten für mich.

„Ich wärme meine Stimmbänder auf “, antwortete ich. Als ob es für mich das Unspektakulärste auf der Welt wäre, das zu tun.

Ich hatte es mit Meditation probiert.

Ich hatte pflichtbewusst meine Yogamatte ausgerollt, meine Patschuli- und Lavendel-Räucherstäbchen angezündet und leise „Ommmmm“ gesummt.

Ich schloss mich Meditations- und Lesegruppen an. Ich brütete über den Einzelheiten östlicher Weisheit von Thich Nhat Hanh[2] und Shunryu Suzuki[3]. Aber ich konnte aus mir heraus keinen Frieden produzieren. In meinem Inneren brodelte es von Mühe und Ärger. Es war, als ob Pandora bei jedem meiner Herzschläge aufstoßen müsste. Um ehrlich zu sein, es hatte mir vorher nie wirklich etwas ausgemacht, dass sich durch meinen Mund die Disharmonie vermehrte. Die Postmoderne schließt ihren Frieden mit der Unstimmigkeit. Doch die Bibel schätzte die dualen Gegenüberstellungen, die ich so verabscheute. Und die Psalmen schlugen tief in meinem Inneren Wurzeln, so wie Worte das tun, wenn man sie genug respektiert, um sie zu singen.

Diese Christen redeten von einem Frieden, der von außen, von Gott selbst, kam.

Das war neu.

Diese christliche Gemeinschaft, die sich jede Woche im Haus der Smiths versammelte, war zwar ein kleines bisschen wie meine LGBTQ-Gemeinschaft – insbesondere im Hinblick auf ihre zu Hause stattfindende Tischgemeinschaft und ihre nicht-nur-auf- Einladung Dynamik. Sie war jedoch völlig anders als meine Herkunftsfamilie. Aber diese christliche Gemeinschaft war auch mehr als meine LGBTQ-Gemeinschaft – und das sah ich. Diese Gemeinschaft war mit ihren guten Absichten nicht auf sich allein gestellt. Gott hatte sie gefunden, und sie hatten einen guten Draht zu ihm. „Wie kann so etwas geschehen?“, fragte ich mich.

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Dieser Buchauszug stammt aus Offene Türen öffnen Herzen von Rosaria Butterfield. Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.


[1] Zu dt. etwa: Mehr mit weniger: Vorschläge von Mennoniten, wie man sich bes- ser ernähren und weniger von den begrenzten Nahrungsmittelressourcen der Welt verbrauchen kann.

[2] A. d. V.: Ein buddhistischer Mönch aus Vietnam.

[3] A. d. V.: Ein japanischer Zen-Meister.