Die bessere Sicht auf Leid

Interview mit Timothy Keller

Interview mit Timothy Keller  und Matt Smethurst
10. November 2021 — 10 Min Lesedauer

Leid. Gibt es ein Thema, das so beständig und schmerzlich relevant ist? Unzählige Bücher wurden darüber geschrieben – und unzählige Leidende lesen sie. Unter der manchmal glänzenden Fassade, so muss man feststellen, ist diese Welt ein zutiefst tragischer Ort.

Christliche Bücher zum Thema Leid lassen sich in drei Kategorien einteilen. Einige sind philosophisch und behandeln das „Problem des Bösen“ und andere komplexe Fragen aus einer akademisch theoretischen Perspektive. Andere sind theologischer Natur und zielen darauf ab, das Wort Gottes in seiner Fülle zu untersuchen, um herauszufinden, was es über Leid und das Böse zu sagen hat. Wieder andere sind pastoral und sollen denen, die im Griff des Schmerzes gefangen sind, helfen, geistlich zurechtzukommen.

Natürlich überschneiden sich diese Kategorien oft und manche Bücher decken auch mal geschickt zwei der Bereiche ab. Ich kenne jedoch kein Buch, das alle drei so gründlich behandelt wie Tim Kellers Buch Gott im Leid begegnen.[1] Akademisch fundiert und zugleich mit dem Herzen eines Pastors konfrontiert der Gründer der New Yorker Redeemer Presbyterian Church sowohl unseren Verstand, als auch unsere Herzen mit der Hoffnung des Evangeliums, die in der Wahrheit Gottes verankert ist.

Ich habe mit Tim Keller über die überempfindlichen Menschen des Westens, den Bankrott des Säkularismus, die Nützlichkeit des Jüngsten Gerichts, „Gottes Sporthalle“ und vieles mehr gesprochen.


Matt: Du stellst fest, dass wir dem Leid „schockierter und hilfloser gegenüberstehen als [unsere] Vorfahren“.[2] Warum ist das Leiden für den modernen westlichen Menschen besonders traumatisch?

Tim: Die meisten Kulturen – im Gegensatz zu unserer – verstehen Leid als etwas Unvermeidliches und betrachten es als ein Mittel, uns zu stärken und zu bereichern. Unsere säkulare Kultur hingegen schneidet in der Geschichte wahrscheinlich am schlechtesten ab, wenn es darum geht, ihren Mitgliedern bei der Bewältigung von Leid zu helfen. Jede andere Kultur sagt, dass der Sinn des Lebens jenseits dieser Welt und dieses Lebens liegt. Er kann darin bestehen, (a) in den Himmel zu kommen, um für immer mit Gott und seinen geliebten Menschen zusammen zu sein; (b) dem Kreislauf der Reinkarnation zu entkommen, um in die ewige Glückseligkeit einzugehen; (c) der Illusion der Welt zu entkommen, um in die alles umfassende Seele des Universums einzutreten; (d) selbst im Angesicht von Niederlage und Untergang ein moralisches, tugendhaftes und ehrenhaftes Leben zu führen oder (e) in der eigenen Familie und den Nachkommen weiterzuleben. In jedem Fall kann das Leiden, auch wenn es schmerzhaft ist, dazu beitragen, dass du dein Lebensziel erreichst und deine Lebensgeschichte vollendest.

In der säkularen Kultur hingegen besteht der Sinn des Lebens darin, frei zu entscheiden, was dich in diesem Leben glücklich macht. Leid zerstört diesen Sinn. Aus säkularer Sicht kann das Leiden also überhaupt keinen Sinn haben. Es kann kein Kapitel deiner Lebensgeschichte sein – wenn, dann ist es ist nur eine Unterbrechung oder bedeutet sogar das Ende deiner Lebensgeschichte.

Matt: Inwiefern ist die säkulare Sicht auf das Leiden, wie sie der französische Philosoph Luc Ferry ausdrückt, „zu brutal, um ehrlich zu sein“?[3] Inwiefern bietet die christliche Sichtweise dagegen mehr Raum für Trauer und eine feste Grundlage für Hoffnung?[4]

Tim: Ferry bezieht sich auf folgende Bemerkung: „Wenn man tot ist, existiert man nicht mehr und kann sich folglich keine Sorgen mehr über den Tod machen“.[5] Schließlich, so die Überlegung, werde ich, wenn ich tot bin, nichts mehr wissen. Dann sagt Ferry aber, dass jeder, der einen anderen Menschen liebt, Angst vor dem Verlust dieser Beziehung haben muss. Es ist unmöglich, nicht das Bestehen von Liebesbeziehungen zu wollen. Der Tod bedeutet aber aus säkularer Sicht das Ende aller Liebesbeziehungen. Wenn ein säkularer Mensch dann sagt, es gebe keinen Grund, den Tod zu fürchten, scheint das unehrlich zu sein.

Da das Christentum uns die Gewissheit gibt, dass wir unendlich größere und niemals endende Liebesbeziehungen haben werden (in erster Linie zu Gott, aber auch zu anderen), gibt uns dies nicht nur eine größere Hoffnungsgrundlage, sondern auch einen größeren Raum, um unsere Trauer auszudrücken. Wir müssen uns nicht wie die antiken und modernen Stoiker von geliebten Menschen distanzieren, um uns emotional vor der Hoffnungslosigkeit des Todes zu schützen.

Matt: Als Christen glauben wir an das Jüngste Gericht. Wie bewahrt uns diese Überzeugung davor, in unserem Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu passiv oder zu aggressiv zu sein?

Tim: Einerseits zeigt uns der Tag des Jüngsten Gerichts, dass Gott die Sünde, das Böse und die Ungerechtigkeit hasst und wir sie deshalb auch hassen sollten. Das verhindert, dass wir den Status quo einfach so hinnehmen. Das Jüngste Gericht versichert uns andererseits aber auch, dass Gott und die Wahrheit schließlich siegen werden, was bedeutet, dass es nicht allein an uns liegt. Wir können vollkommene Gerechtigkeit nicht durch irgendeine menschliche Initiative herbeiführen. Das bewahrt vor Utopismus und der Grausamkeit, die so oft mit solch einer falschen Hoffnung einhergeht.

Matt: Inwiefern ist die biblische Sichtweise im Gegensatz zum Karma und sogar zum gesunden Menschenverstand „weniger schmeichelhaft für den Nichtleidenden und barmherziger für den Leidenden“?[6]

Tim: Karma besagt, dass der Leidende sein Leid immer persönlich verdient hat – du leidest, weil du in einem anderen Leben etwas getan hast. Wenn du also nicht leidest, muss es daran liegen, dass du in der Vergangenheit gut gelebt und dir dein jetziges, angenehmes Leben verdient hast. Wer die Bibel liest, wird erkennen, dass dies die Sichtweise von Hiobs Freunden ist, die Gott verurteilt. Die Bibel zeigt, dass Leid nicht nach der relativen moralischen Wertigkeit der Menschen verteilt wird: Nicht alle guten Menschen haben ein angenehmes Leben und nicht alle schlechten Menschen haben ein schweres Leben. So laufen die Dinge nicht. „Der Neubruch der Armen gibt viel Speise, aber der Ertrag mancher Leute wird weggerafft durch Ungerechtigkeit“ (Spr 13,23). Und weil die Bibel diese Behauptung aufstellt, ist sie für Nicht-Leidende weniger schmeichelhaft. Aus biblischer Sicht kannst du nicht davon ausgehen, dass deine guten Umstände bedeuten, dass Gott mit dir zufrieden ist. Es könnte seine Art sein, dich zu verurteilen und dich in deiner Selbstgefälligkeit untergehen zu lassen. Und biblisch gesehen kannst du auch nicht davon ausgehen, dass dein Leid eine direkte Strafe für ein Fehlverhalten ist. Man braucht sich nur einmal Johannes 9 und das ganze Buch Hiob anzuschauen.

Matt: Wie kann die biblische Lehre über das Leiden „sowohl zutiefst realistisch als auch erstaunlich hoffnungsvoll“ sein?[7]

Tim: Sie ist zutiefst realistisch, weil sie uns sagt, dass Leid unvermeidlich ist. Niemand entkommt ihm. Es sollte uns nicht überraschen oder schockieren. Die Bibel ist erschreckend nüchtern, wenn es darum geht, dass diese Welt voller Elend ist. Dennoch bietet sie nicht nur ein geistliches Leben nach dem Tod, sondern auch Hoffnung auf eine erneuerte Schöpfung, die Auferstehung und eine materielle Welt, die von Verfall, Leid und Tod befreit ist. Keine andere Religion verspricht so etwas.

Die Bibel stellt das Verhältnis Gottes zum Leid sozusagen als „stärker“ und „schwächer“ dar als jede andere Religion. Auf der einen Seite steht Gott in seiner absoluten Souveränität über dem Leid. Es entzieht sich nie seiner Kontrolle. Es ist immer Teil seines Plans. Auf der anderen Seite ist Gott selbst in die Welt gekommen und hat tatsächlich mit uns gelitten. Keine andere Religion sagt, dass Gott sowohl ein souveräner als auch ein leidender Gott ist. Das ist die theologische Grundlage dafür, warum Christen dem Leiden gegenüber so realistisch und doch gleichzeitig so hoffnungsvoll sein können.

Matt: Eines der Themen, die das Buch durchziehen, ist der Gedanke, dass Leid nicht vermieden oder abgelehnt werden sollte. Warum sollten wir uns auf die Erfahrungen in „Gottes Sporthalle“ einlassen?[8]

Tim: Der Säkularismus sieht das Leiden als völlig nutzlos an, während viele alte Religionen es als nützlich für die Charakterbildung und spirituelle Errungenschaften ansehen. Das Christentum erkennt ebenso wie der Westen die unerhörte Ungerechtigkeit vieler Leiden an, weist aber auch wie in der östlichen Denkweise darauf hin, dass es als „Trainingslager“ dient, um uns geistlich stärker werden zu lassen. Doch ich glaube nicht, dass die Bibel den Hauptgrund des Leidens in unserem Nutzen sieht. Der Hauptgrund, warum wir im Leiden geduldig sein sollten, liegt, glaube ich, darin, dass es Gott verherrlicht – und für uns Christen besteht die größte Freude und Pflicht darin, genau das zu tun. Wenn wir Leiden mit all der Geduld ertragen, die wir aufbringen können, behandeln wir Gott als Gott – und das verherrlicht ihn, unabhängig von allen anderen Ergebnissen, die wir erkennen können.

Matt: Warum waren die frühen christlichen Gemeinden „das Beste, was einem Leidenden passieren konnte“?[9] Was können wir in dieser Hinsicht von unseren geistlichen Vorfahren lernen?

Tim: In der Frühzeit des Christentums war die Gesellschaft stärker geschichtet und die Armen und Randgruppen wurden verachtet. Die Kirche war viel offener für Arme, Frauen und Kinder, Sklaven und Kranke. In gewisser Weise ist es für die Kirchen heute schwieriger, der Welt gegenüber so barmherzig aufzutreten, weil die säkulare westliche Gesellschaft die ursprünglich vom Christentum eingeführte humanitäre Einstellung übernommen hat. Die Christen legten aus vielen theologischen Gründen eine bis dahin unbekannte Barmherzigkeit für alle leidenden Menschen an den Tag, vor allem aber wegen ihres Glaubens an das imago Dei in jedem einzelnen Menschen. Es bleibt offen, ob unsere Gesellschaft, die sich von der Vorstellung von Gott und dem imago Dei verabschiedet, ihre humanitäre Haltung beibehalten kann. Unterdessen muss die christliche Kirche für ihre Fürsorge für die Leidenden mindestens so bekannt sein, wie es unsere geistlichen Vorfahren waren.

Matt: Du erwähnst, wie du vor deiner Krebsoperation vor einigen Jahren „plötzlich alles aus einer neuen, anderen, klaren Perspektive“ sahst: „Das ganze Universum war auf einmal ein großes Reich der herrlichsten Freude und der größten Schönheit. ... Und mit dem Leuchten des Friedens im Herzen schlief ich ein.“[10] Wie kann ein Leidender diese Art von Frieden erlangen?

Das kannst du nicht. Ich meine, es gibt nichts, was du tun kannst, um ihn zwangsläufig herbeizuführen. Er ist ein Geschenk. Du solltest Gott vertrauen und beten und ihm ehrlich dein Herz ausschütten und auf ihn blicken. Er verspricht in Texten wie 1Korinther 10,13, dass man genug Kraft haben wird, um Leid durchzustehen – aber er verspricht nicht, dass er uns Erfahrungen von überragender Freude und Gelassenheit schenkt, so dass für einen Moment der Stress und die Traurigkeit wegzuschmelzen scheinen. Das kann passieren und für solche „Berührungen“ der Liebe Gottes sollten wir unendlich dankbar sein. Aber er verspricht sie nicht und nur er weiß, was wir brauchen und wann. Denke an John Newtons Maxime: „Alles ist nützlich, was Gott uns schickt; nichts kann gut für uns sein, was er uns verweigert.“[11]

Buch

Timothy Keller, Gott im Leid begegnen, Gießen: Brunnen, 2015, 416 Seiten, 22 Euro.


[1] Timothy Keller, Gott im Leid begegnen, Gießen: Brunnen, 2015.

[2] Ebd., S. 26.

[3] Im Original zitiert Tim Keller Luc Ferry mit den Worten „too brutal to be honest“, S. 36. In der deutschen Übersetzung heißt es: „Aber diese Argumentation, so Ferry, greift zu kurz“, S. 50.

[4] Vgl. ebd., S. 59.

[5] Ebd., S. 51.

[6] Ebd., S. 171.

[7] Ebd., S. 18.

[8] Ebd., S. 238–241.

[9] Ebd., S. 391.

[10] Ebd., S. 387.

[11] Ebd., S. 326.