Wie man (nicht) über die Evangelien predigen sollte

Artikel von Aubrey Sequeira
8. November 2021 — 10 Min Lesedauer

Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, besitzt eine Attraktion, nämlich den zweitlängsten Strand der Welt: den Marina Beach von Chennai. Der Marina Beach gehört zu den meistfrequentierten Stränden weltweit, er ist aber auch einer der gefährlichsten. Das Wasser wirkt zwar freundlich und einladend. Aber es passiert selbst geübten Schwimmern, dass sie in einen gefährlichen Sog geraten, von den Fluten mitgerissen werden und in ihnen ein nasses Grab finden.

Es klingt düster, aber an dieses Bild muss ich oft denken, wenn ich versuche, über die Evangelien zu predigen. Arglose Prediger nähern sich diesen Büchern mit einem Gefühl der Vertrautheit und Begeisterung – bereit, ihren Gemeinden diese Porträts Jesu zu enthüllen. Doch dann merken sie plötzlich, wie sie hin- und hergeworfen werden, sie beginnen zu kämpfen und rufen: „Hilfe! Helft mir doch!“

In den Evangelien finden wir tatsächlich wunderbare Porträts Jesu; wir finden in ihnen reichhaltige Theologie. Aber sie bringen auch ihre speziellen hermeneutischen und homiletischen Herausforderungen mit – Herausforderungen, bei denen man wissen muss, wie sie zu handhaben sind, wenn man Christus treu verkündigen möchte. Ich möchte hier fünf „Schwimmverbotszonen“ nennen, um die man besser einen Bogen macht – fünf Ansätze, wie man nicht über die Evangelien predigen sollte:

1. Predige über die Evangelien nicht, als wären sie eine Sammlung von separaten „Perikopen“ ohne Bezug zur größeren Geschichte des jeweiligen Evangeliums.

Die Evangelien enthalten jeweils eine Reihe von Ereignissen und Reden aus Jesu Erdenzeit, die mit einer theologischen Zielsetzung zu einem zusammenhängenden literarischen Ganzen zusammengewebt wurden. Die meisten Evangelikalen meiden zu Recht historisch-kritische Ansätze, nach denen die Evangelien als ein Flickenteppich zusammenhangloser Geschichten von zweifelhafter Historizität betrachtet werden. Trotzdem treiben die Gespenster dieser historisch-kritischen Ansätze auch bei evangelikalen Predigern noch ihr Unwesen, wenn diese über einzelne Texteinheiten – Perikopen, um ein im Umgang mit den Evangelien gängiges Wort zu verwenden – predigen, ohne den Bezug zum literarischen Aufbau und zur größeren theologischen Erzählung des einzelnen Evangeliums herzustellen.

„Ein Evangelium ist keine Sammlung von Kurzgeschichten, aus denen jeweils ein eigenes Fazit zu ziehen wäre.“
 

Ein Evangelium ist keine Sammlung von Kurzgeschichten, aus denen jeweils ein eigenes Fazit zu ziehen wäre. Ein Evangelium ist eine theologische Erzählung. Deshalb müssen wir unsere Hörer auf die theologische Botschaft des jeweiligen Autors und die besonderen Schwerpunkte der einzelnen Evangelien aufmerksam machen. Wenn wir darüber predigen, müssen wir unseren Hörern zum einen zeigen, welchen Beitrag diese kleinen literarischen Einheiten zum großen Ganzen leisten, und zum anderen, wie sich das Ganze auf die Bedeutung jeder einzelnen Geschichte auswirkt.

Im Matthäusevangelium sollte ein Prediger z.B. der Versuchung widerstehen, das Gleichnis vom Sämann (Mt 13,1–23) als bloßen Aufruf an die Hörer auszulegen, selbst „gutes Erdreich“ zu sein, welches das Wort in rechter Weise aufnimmt. Vielmehr ist das Gleichnis von seinem Platz im Handlungsablauf des Matthäusevangeliums her zu verstehen. Diese Gleichnisse erklären, warum das Himmelreich, das doch in Jesu Person und Botschaft gekommen ist, so wenig sichtbar ist und von so vielen abgelehnt wird. Das Gleichnis vom Sämann erinnert uns an die Souveränität des Sämanns in der Schon-jetzt/noch-nicht-Dynamik des Reiches. Obwohl der Same des Wortes auf Umstände trifft, die bereit sind, ihn zu vernichten, zu ersticken oder vertrocknen zu lassen, wird der Erfolg dem Sämann am Ende Recht geben. Denn dieser Same wird schließlich so viel Frucht bringen, dass alle Erwartungen weit übertroffen werden.

2. Predige über die Evangelien nicht, ohne zu zeigen, welchen Platz sie in der größeren biblischen Geschichte einnehmen.

Die Evangelien sind sowohl zusammenhängende, literarische Berichte als auch die Krönung von Gottes großer Geschichte, die in 1. Mose begann, im Alten Testament entfaltet wird und in Christus ihren Höhepunkt findet. Der Messias Jesus wird in den einzelnen Evangelien auf unterschiedliche Art und Weise als die Erfüllung der alttestamentlichen Geschichte präsentiert:

  • Matthäus stellt uns Jesus als den Sohn Davids, den Sohn Abrahams vor – als den Einen, in dem das Himmelreich gekommen ist, wodurch die Schrift erfüllt wird.
  • Markus zeigt uns, dass Jahwe seine verheißene Wiederkunft in der rätselhaften Gestalt des Menschensohns (Dan 7,13–14; Mk 14,61–62) wahr gemacht hat, um sein Volk zu retten. In einer dramatischen Wendung der Handlung wird klar, dass er zugleich der leidende Gottesknecht ist (Jes 53,11–12; Mk 10,45).
  • Lukas schildert Jesus als den verheißenen Erlöser Israels und der Nationen, als den Einen, dessen Leiden und Herrlichkeit im Gesetz, den Propheten und den Schriften angekündigt wurde.
  • Johannes präsentiert – klar und doch in Andeutungen – Jesus als den wahren Tempel, das wahre Manna vom Himmel, das wahre Licht der Gegenwart Gottes bei seinem Volk, den wahren Hirten des Volkes Gottes, den Einen, in dem wahrhaftig die alttestamentliche Auferstehungshoffnung erfüllt wird, den wahren, fruchtbringenden Weinstock (was Israel sein sollte, worin es aber versagt hat) und vor allem als den großen „Ich Bin“, der gekommen ist, um bei seinem Volk zu wohnen.

Prediger müssen den Menschen zeigen, auf welche Weise – um es mit Luther zu sagen – das Alte Testament „die Windeln und die Krippe [ist], da Christus drinnen liegt“[1]. Zugleich müssen sie ihnen auch helfen zu erkennen, wie der Handlungsstrang der Schrift in Christus zu seinem Höhepunkt gelangt, und wie dies auch auf all das, was zuvor geschah, ein neues Licht wirft.

3. Predige über die Evangelien nicht, indem du den Text durch eine Geschichte „hinter dem Text“ ersetzt.

Prediger, die der Schrift treu sein wollen, sollten sich noch vor einem weiteren Fehler der kritischen Methodik hüten: dem Bestreben, eine Geschichte „hinter dem Text“ zu erschaffen und dann darüber zu predigen statt über den Text selbst.

„Prediger sollten sich noch vor dem Fehler hüten: dem Bestreben, eine Geschichte ‚hinter dem Text‘ zu erschaffen und dann darüber zu predigen statt über den Text selbst.“
 

Was meine ich damit? Unter historisch-kritischen Vorzeichen wurde lange Zeit dafür plädiert, man müsse den „historischen Jesus“ rekonstruieren – einen vermeintlichen Weisen oder einen politisch engagierten Zeloten (oder noch jemand anderen), der hinter den stark ausgeschmückten Darstellungen der Evangelisten verborgen ist. Zwar lehnen Evangelikale diese Vorstellung ab. Aber wir machen uns des gleichen Fehlers schuldig, wenn wir – aus apologetischen Gründen oder um zu harmonisieren – versuchen, das zu rekonstruieren, „was wirklich passiert ist“ und dann über diese Geschichte predigen statt über das, was uns der jeweilige Evangelist in inspirierten Worten mitteilt. Dieses Gespenst aus der historisch-kritischen Vergangenheit scheint mit Vorliebe in der Weihnachtszeit und in der Karwoche aufzutauchen, wenn Prediger die Geburts- oder Passionsberichte alle in einen Topf werfen, um daraus ihre eigene Version von Christi Geburt oder Tod zu erstellen und dann darüber zu predigen.

Natürlich sollten sich gute Prediger um einen weisen und durchdachten Ansatz der Harmonisierung bemühen, der sowohl die apologetischen Anliegen im Blick hat (unseren Hörern zu verdeutlichen, dass die Evangelien einander ergänzen, nicht einander widersprechen) als auch die besondere Stimme des einzelnen Evangeliums zur Geltung bringt. Doch wir sollten der Versuchung widerstehen, unseren eigenen spekulativen Rekonstruktionen in der Predigt die gleiche Autorität beizulegen wie dem inspirierten Text an sich.

4. Predige nicht so über die Evangelien, als seien die Jesusworte inspirierter oder wichtiger als der Rest der Schrift.

Eigentlich sollte dieser Punkt unter Evangelikalen selbstverständlich sein. Aber die falsche Aufspaltung in Jesusworte und den Rest der Schrift ist wie der unreine Geist, der immer wieder zurückkehrt, um von Gemeinden erneut Besitz zu ergreifen, die ihn eigentlich längst ausgetrieben hatten. Zum Beispiel hört man heute selbst in evangelikalen Kreisen immer häufiger das Argument, Jesus habe „Homosexualität nie verurteilt“. Oder: Jesus habe sich für eine Art der „sozialen Gerechtigkeit“ stark gemacht, die sich von Paulus und anderen Teilen der Schrift unterscheide. Wenn wir über die Evangelien predigen, müssen wir darauf achten, dass wir nicht den Eindruck vermitteln, die Evangelien würden uns Jesus auf eine Weise offenbaren, wie es die restliche Bibel nicht tut. Denn die ganze Schrift offenbart Christus, und zwar als Gekreuzigten.

Darüber hinaus ist die ganze Schrift das durch den Geist inspirierte Produkt des Erlösungswerks des Sohnes: Alle Worte der Schrift sind Worte Christi, nicht nur die rot gedruckten[2] (Joh 14,26; 16,13–15). Alle Schrift ist von Gott eingegeben und ist Gottes Wort (2Tim 3,16).

Wenn wir predigen, sollten wir deshalb jegliches Geschwätz und jegliche Gewichtung vermeiden, welche auf das Gegenteil hindeuten. Hüte dich vor dem tödlichen Sog, die „Jesusworte“ oder auch die Evangelien in einen Gegensatz zum restlichen Alten oder Neuen Testament zu stellen!

5. Predige über die Evangelien nicht, ohne das Evangelium zu predigen.

Die Evangelien wurden bekanntlich als „Passionsgeschichten mit einer längeren Einleitung“ charakterisiert, und das ganz zu Recht. Der Schatten des Kreuzes nimmt in allen vier Evangelien viel Raum ein. Don Carson sagt: „In jedem Fall eilt die Erzählung auf das Kreuz und die Auferstehung zu; das Kreuz und die Auferstehung sind der Höhepunkt.“ Es ist verlockend, zum Beispiel die Versuchungsgeschichte des Matthäusevangeliums (Mt 4,1–11) so auszulegen, dass uns hier das Vorbild Jesu zeigt, wie man Versuchung überwinden kann, indem man sich auf Gottes Wort beruft. Und in gewissem Sinne ist das richtig. Aber wir laufen als Prediger am Ziel vorbei, wenn wir in einer Predigt über diese Erzählung nicht auch Jesu Identität als wahres und größeres Israel, als wahrer und größerer Adam aufzeigen, der Versuchung überwindet, wo alle anderen vor ihm versagt haben.

„Von der Krippe bis zum leeren Grab sollten unsere Predigten daher blutig sein. Sie sollten unsere Hörer auf den gekreuzigten Messias-König hinweisen.“
 

Jesus lebt danach in vollkommenem Gehorsam weiter, bis er wiederum die Stimme des Versuchers hört, der zu ihm sagt: „Wenn du Gottes Sohn bist ...“, und damit seine göttliche Identität und Sohnschaft in Frage stellt. Aber diesmal ist Jesus nicht hungernd in der Wüste; er hängt nun nackt am Kreuz (Mt 27,40). Und wieder überwindet er durch Gehorsam, rettet so sein Volk von seiner Sünde und erhält alle Macht im Himmel und auf Erden.

Die Evangelien sind Porträts Jesu. Aber vor allem sind sie Porträts des gekreuzigten Christus, des Retters seines Volkes. Von der Krippe bis zum leeren Grab sollten unsere Predigten daher blutig sein. Sie sollten unsere Hörer auf den gekreuzigten Messias-König hinweisen, der leidet und stirbt, um sein Volk zu erlösen, und der aufersteht, um über sein angebrochenes Königreich zu herrschen. Der erste Prediger, der das Kommen Jesu ankündigte, nannte ihn „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Geh nun hin und mach es genauso!


[1] Martin Luther, „Vorrede zum Alten Testament 1523“, in: Kurt Aland (Hrsg.), Luther Deutsch: Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 5, Die Schriftauslegung, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, o.J., S. 10.

[2] Auch in einigen deutschen Bibelausgaben werden die Worte Jesu rot gedruckt, um sie hervorzuheben [Anm. d. Übers.].