Rechtfertigung oder Selbstrechtfertigung?
„Aber wir haben ihnen nicht einen Augenblick nachgegeben und haben uns ihren Forderungen nicht gebeugt; denn die Wahrheit, die uns mit dem Evangelium gegeben ist, sollte euch unter allen Umständen erhalten bleiben“ (Gal 2,5).
Ich habe vor, den Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Dynamik der Rechtfertigung aus Gnade und der gesellschaftlichen Dynamik der Selbstrechtfertigung zu verdeutlichen, um unser Verständnis dafür zu erweitern, was es bedeutet, dem Evangelium treu zu sein.
Die Sache ist von großer Wichtigkeit, denn wie Luther uns gezeigt hat, ist die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben keine Lehre unter anderen, sondern „derjenige Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht und fällt“. Luther hat auch gesagt, die Rechtfertigung allein aus Glauben sei nicht nur schwer zu akzeptieren, es sei auch schwer, sie für sich zu bewahren. In seinem Galaterkommentar schreibt er:
„Diese Lehre kann uns nicht genug in die Ohren geschrien werden. Wir mögen sie wohl lernen und verstehen, doch niemand kann sie ganz fassen oder sie mit ganzem Herzen glauben, so hinfällig ist unser Fleisch und ungehorsam gegenüber dem Geist.“[1]
„Ein Christ oder eine ganze Gemeinde kann die Lehre von der Gnadenrechtfertigung vor sich her posaunen und gleichzeitig an einer Funktionsstörung verkrüppelter Selbstrechtfertigung leiden.“
Auf der Grundlage des Galaterbriefs behaupte ich, dass das Evangelium, und hier insbesondere die Rechtfertigung, nach mehr verlangt als nur nach einer lehrmäßigen Zustimmung – es verlangt auch nach kultureller Manifestation. Ich behaupte nicht, es sei leicht, beidem zuzustimmen. Ohne Christus ist es schlicht unmöglich, wie ich in meinen Ausführungen zeigen werde. Ich behaupte jedoch, es wäre treulos, sich mit „der richtigen Lehre“ zufrieden zu geben, ohne diese „Kultur der Gnade“ auch in unseren Kirchen, Denominationen und Bewegungen zu verwirklichen. Mit anderen Worten: Wenn die Rechtfertigung allein aus Glauben jenen Glaubensartikel ausmacht, mit dem die Kirche steht und fällt, was bedeutet dann stehenbleiben und nicht fallen? Könnte es sein, dass wir zu stehen wähnen – und doch bereits im Begriff sind, zu fallen? Der Galaterbrief räumt eine solche Möglichkeit ein. Ein Christ oder eine ganze Gemeinde kann die Lehre von der Gnadenrechtfertigung vor sich her posaunen und gleichzeitig an einer Funktionsstörung verkrüppelter Selbstrechtfertigung leiden. Paulus will das Evangelium im Galaterbrief in beide Richtungen hin verwirklicht sehen – in der Lehre und in der Kultur. Mit einer einfachen Zustimmung der Galater zur Lehre der Rechtfertigung allein aus Glauben gäbe sich Paulus nicht zufrieden. Aus seinem Brief wird deutlich, dass er von seinen Lesern auch die Umsetzung einer Kultur erwartet, die dieser Lehre entspricht. Erst das bedeutet Paulus zufolge Treue gegenüber Christus.
Drei Dinge möchte ich voraussetzen.
Die klassisch-protestantische Lehre von der Rechtfertigung
Erstens ist die klassisch-protestantische Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade, allein durch den Glauben, allein durch Christus und ohne unsere eigenen Werke die Wahrheit.
Die 39 Artikel der Anglikanischen Kirchen formulieren sie im Artikel XI kurz und prägnant:
Allein um des Verdienstes unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi willen, durch den Glauben, nicht um unserer Werke und Verdienste willen, werden wir vor Gott für gerecht geachtet. Dass wir daher allein durch den Glauben gerechtfertigt werden, ist eine sehr heilsame und sehr trostvolle Lehre.
Diese Formulierung der Lehre erinnert uns an die Gegenständlichkeit unserer Rechtfertigung, an die Tatsache, dass sie von außen an uns herangetragen wird, an ihre Gegebenheit und daran, dass jemand anders uns rechtfertigt, wie John Bunyan in seinem Büchlein „Überströmende Gnade“ sagt:
Als ich eines Tages mit beschwertem Gewissen am Feld vorbeikam und um mein Seelenheil fürchtete, da fiel mir ein: Deine Gerechtigkeit ist im Himmel. Und was ich da dachte, das sah ich mit den Augen meiner Seele: Jesus Christus zur Rechten Gottes. Dort, sagte ich, dort ist meine Gerechtigkeit! Wo immer ich auch bin und was ich auch tue, Gott könnte nicht von mir sagen: John Bunyan ermangelt meiner Gerechtigkeit, denn diese Gerechtigkeit steht direkt vor ihm. Ich sah auch, dass es nicht die gute Verfassung meines Herzens war, was meine Gerechtigkeit beförderte, noch auch meine schlechte Verfassung, was meine Gerechtigkeit schmälerte, denn meine Gerechtigkeit war Jesus Christus selbst, er, derselbe gestern, heute und in alle Ewigkeit. Jetzt fielen die Ketten von meinen Beinen! Ich ging nach Hause und jubelte über die Liebe und Gnade Gottes. Nun konnte ich lange Zeit in diesem Frieden mit Gott leben. Welch süßer Frieden mit Gott durch Christus! O Christus, dachte ich, Christus, Christus! Ich hatte nichts als Christus vor Augen.
Selbstrechtfertigung ist die tiefste menschliche Regung
Zweitens: Die tiefste Regung des gefallenen menschlichen Herzens heißt Selbstrechtfertigung. Sicher: Wir stimmen der biblischen Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben allein zu, doch tief im Herzen liegen die Dinge nicht so einfach. Gerhard Forde hält uns den Spiegel vor:
Das Problem liegt in der Tatsache, dass das alte Wesen das Evangelium nicht hören will und auch nicht hören kann, egal, was jemand auch sagt. Das alte Wesen wird alles zu seinem Schutz unternehmen, was es hört. Es wird seinen causa-sui-Plan [die Selbstrechtfertigung, die wir um uns aufbauen] verstärken und das Gehörte als Bestätigung seiner Rechtsordnung verstehen oder umwandeln. Das alte Wesen wird alles, was es hört, ins Gesetz wenden.
Wir verlangen zutiefst danach, uns selbst zu schützen. Gleichzeitig hüllt sich unsere Sünde in einen unsichtbaren Schleier, der verhindert, dass wir sie klar sehen. Martyn Lloyd-Jones beschreibt unsere Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung so:
„Sie werden nie spüren, dass Sie ein Sünder sind, denn aufgrund Ihrer Sünde wird etwas in Ihnen Sie stets gegen jede Anklage verteidigen. Wir stehen alle auf gutem Fuß mit uns selbst und finden auch stets gute Gründe zu unserer Verteidigung. Selbst wenn wir den Versuch unternehmen, zu spüren, dass wir Sünder sind – spüren werden wir es nie. Es gibt nur einen einzigen Weg, zu erkennen, dass wir Sünder sind: Wir müssen wenigstens eine trübe, verschwommene Vorstellung von Gott haben.“
„Offene Fragen stellen weder unsere Beziehung zu Gott, noch seine Allmacht und Liebe grundsätzlich in Frage.“
Die Geisteshaltung blinder Selbstrechtfertigung lässt den Brief des Paulus an die Galater von unendlicher Bedeutung für uns Christen werden. Wir werden den „Fehler der Galater“ nicht los, indem wir einfach die Rechtfertigung aus Gnade annehmen. Wenn wir sie allerdings wirklich annehmen, erlangen wir ein Heilmittel gegen unsere zwanghaften Bemühungen, uns selbst zu rechtfertigen. Der Puritaner William Fenner lehrt uns, die Rechtfertigung aus Glauben allein als beständige Quelle zu sehen:
„So, wie wir täglich sündigen, so rechtfertigt er uns täglich, und wir müssen ihn auch täglich darum bitten. Die Rechtfertigung ist eine endlos sprudelnde Quelle, daher können wir nicht erwarten, das ganze Wasser auf einmal trinken zu können.“
Die Rechtfertigung aufgrund eigener Gerechtigkeit ist nicht nur ein Problem der Galater oder der Katholiken – es ist ein allgemein menschliches Problem, ein Problem des Christen. Sie und ich sind bestenfalls einen Zentimeter von seinen dunklen Mächten entfernt. Es ist ohne weiteres möglich, die Lehre von der Rechtfertigung aus Gnade aus ganz selbstgerechten Beweggründen zu predigen und zu verteidigen und somit deren bittere Früchte zu ernten. Zu dieser Art von Diskrepanz kommt es, wenn sich in protestantischen Kirchen, die den Herrn sonst aufrichtig lieben, negative Einflüsse geltend machen.
Das Evangelium schafft eine Evangeliums-Kultur
Drittens: Die Lehre vom Evangelium schafft eine Kultur, die vom Evangelium geprägt ist. Das Evangelium erneuert nicht nur unser inneres Wesen; es tut mehr als das: Die Gnadenlehren schaffen eine Kultur, die von der Gnade geprägt ist, eine Kultur, die man „gesunde Kirche“ nennt, eine Kirche, in der das Evangelium auf der Ebene der Lehre formuliert wird, auf der Ebene der Kultur, der Atmosphäre, des Ethos, der Stimmung, der Beziehungen und der Gemeinschaft. Eine Kirche jedoch soweit zu bringen und auch auf dieser Ebene zu halten, ist keine einfache Sache. Ohne die Lehre ist die Kultur nicht zu haben. Ohne Kultur jedoch erscheint die Lehre gegenstandslos und schwach. Ein Beispiel für die schlimme Trennung von Lehre und Kultur ist das Gleichnis des Herrn vom Pharisäer und vom Zöllner (Lk 18). Lukas erzählt:
„Jesus wandte sich nun an einige, die in falschem Selbstvertrauen meinten, in Gottes Augen gerecht zu sein, und die deshalb für die anderen nur Verachtung übrig hatten. Er erzählte ihnen folgendes Beispiel...“.
„Das Evangelium erneuert nicht nur unser inneres Wesen; es tut mehr als das: Die Gnadenlehren schaffen eine Kultur, die von der Gnade geprägt ist.“
Der Pharisäer sucht den Tempel auf, den Ort der stellvertretenden Sühne. Weshalb suchte er gerade den Tempel auf? Weil er an ihn glaubte. Sein selbstgerechtes Herz jedoch war noch verschlagener als sein Glaube. Es quoll geradezu über vor Verachtung gegenüber dem Zöllner. Selbstgerechtigkeit führt zu einer Perspektive der Distanziertheit, der [falschen] Überlegenheit und eines misstrauisch prüfenden Blicks: „Hab ich dich!“ Wir mögen der Lehre von der Rechtfertigung aus Gnade zustimmen, doch wie leicht geraten unsere Gedanken und Empfindungen nicht in die Haltung praktischer Selbstrechtfertigung! Und das zeigt sich dann auch. Das Vertrauen auf die eigene Gerechtigkeit geht Hand in Hand mit der Verachtung anderer Menschen. Sobald wir die negative Wirkung des Abschätzigen und der Verachtung wahrnehmen, haben wir einen Mangel an Evangelium im Herzen, so fest das Bekenntnis des Evangeliums auch in unserem Kopf sein mag. Wir überprüfen unsere Lehraussagen und geistlichen Überzeugungen – alles scheint zu stimmen. Einen warnenden Hinweis darauf, dass uns das Evangelium doch noch nicht so stark ergriffen hat, wie wir uns das wünschen, bekommen wir immer dann, wenn wir uns wie jener Pharisäer einen Sündenbock suchen, jemanden, den wir verurteilen und auf den wir unser Unbehagen übertragen können. Immer, wenn wir uns jemanden suchen, der sich im Irrtum befindet, um unser eigenes Wohlbefinden zu sichern, schwimmen wir in der Selbstrechtfertigung! Wir vertrauen dem vollkommenen „Sündenbock“ nicht länger, den Gott uns am Kreuz gegeben hat! Das aber schafft eine Kultur der Hässlichkeit. Die Rechtfertigung allein aus Glauben dagegen schafft eine Kultur der Akzeptanz und Wärme, eine Kultur der Schönheit und Geborgenheit: „Darum nehmt einander an, gleichwie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes!“ (Röm 15,7). Je deutlicher diese Lehre gepredigt und je stärker eine solche Atmosphäre kultiviert wird, desto herrlicher wird eine Gemeinde als Zeugnis Jesu auftreten und zeigen: Jesus ist der mächtige Freund der Sünder! So wird er geehrt, und die Menschen werden kommen.
Soweit meine Annahmen zu Beginn. Werfen wir nun einen Blick auf den Galaterbrief, um zu sehen, wie er uns den Weg aus der Selbstrechtfertigung hin zur Gerechtigkeit aus Gnade weist. Ich gehe dabei nur auf drei kurze Stellen ein.
Befreit von Menschenfurcht
In Galater 1,10 sagt Paulus: „Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott zuliebe? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein? Wenn ich noch Menschen gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht.“ Unmittelbar vorher stieß Paulus einen Fluch gegen jedermann aus, der ein falsches Evangelium verkündet, daher seine Worte. Anscheinend hatten einige Leute Paulus wegen seiner Botschaft von der Gnade als „menschengefälligen Feigling“ beschuldigt. Dieser Anklage begegnet er nun: „Und meine Flüche in V. 8–9? – Würde ein Kompromissler so etwas sagen?“
Wo findet sich die Lehraussage vom Evangelium in V. 10, und wie veranschaulicht Paulus deren Kultur? „Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott zuliebe? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein? Wenn ich noch Menschen gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht.“ Diese Lehraussage betrifft die Letztgültigkeit Christi, die Allgenügsamkeit Christi, die mit der Rechtfertigung allein durch Glauben einhergeht. Paulus verband den überragenden Wert der Erkenntnis Christi mit der Gerechtigkeit, die allein aus dem Glauben an Christus herrührt (Phil 3). Warum im Hinblick auf unsere Gerechtigkeit allein auf Christus vertrauen, wenn er nicht in allen Dingen den obersten Platz einnimmt? Das genau tut er aber. Paulus sagt ja nicht, er stehe seinen früheren Erfolgen indifferent gegenüber. Er sagt vielmehr, sie seien ihm – verglichen mit Christus – widerwärtig. Paulus’ Sichtweise von der Oberherrschaft Christi ist gleichermaßen erhaben wie: Christus ist der einzige, dessen Urteil zuletzt zählt. Wir glauben das auch. Wir glauben, dass unsere persönliche Bewertung und damit die einzige Rechtfertigung unseres Daseins nicht uns selbst entspringt, sondern ihren Grund einzig in Christus hat. Seine Anerkennung ist uns auf ewig genug. Diese evangelische Überzeugung schafft eine Kultur der Unerschrockenheit, Unabhängigkeit und Vornehmheit des Geistes, ganz wie wir das bei Paulus sehen.
Paulus sorgte sich eindringlich um die Menschen. Er nahm ihre Meinungen und Empfindungen sehr ernst und wollte ihnen durchaus zu Gefallen sein. So sagt er in 1Korinther 10,33: „Ich suche in allen Stücken allen zu Gefallen zu leben.“ Was für ein herzensguter Mensch war das! Er konnte an nichts anderes denken, als das Herz der Menschen für Christus zu gewinnen. Er war ungemein anpassungsfähig, denn er respektierte die Menschen und deren verschiedene Anschauungsweisen. Im Galaterbrief sucht er seinen Wunsch, ein gutes Auskommen mit seinen Mitmenschen zu finden, mit seinem tieferen Verlangen zu versöhnen: Gott zu gefallen. Dazu wird er so deutlich, dass er seinen Standpunkt anhand eines starken „entweder-oder“ formuliert: „Wenn ich allerdings den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich kein Knecht Christi.“ Christus gibt er für niemanden auf. Seine Rechtfertigung sucht er allein in Christus, und dazu liefert er sich ihm völlig aus, egal, welchen gesellschaftlichen Preis in Bezug auf eine ablehnende Haltung der Menschen er dafür zahlen muss. Er will den Menschen um Christi willen gefallen, lieber aber noch will er Christus gefallen, auch auf die Gefahr hin, der Akzeptanz seiner Mitwelt verlustig zu gehen oder sich ihr gar entgegenstellen zu müssen. Dann schon lieber missverstanden und falsch beurteilt werden. Freude daran hat er nicht, aber er fürchtet es auch nicht. Mit den Galatern fordert er auch uns auf, mannhafte Unabhängigkeit an den Tag zu legen.
Das erste Anzeichen dafür, dass die Lehre vom Evangelium ihre Zugkraft auf eine entsprechende Kultur beweist, ist die großartige Hingabe an Christus allein, auch wenn die Menschen uns anders beurteilen. Die Letztgültigkeit Christi lässt uns nicht mit der Masse gehen, auch nicht mit der christlichen Masse, als bräuchten wir die Anerkennung der Menschen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Brauchen wir überhaupt angemessene Verantwortung? Ja, aber wie viele Menschen folgen Schlaumeier-Pastoren, die auf niemanden hören, nur um ihren Frieden zu behalten? Johannes Calvin erinnert uns daran, dass wir es auf der tiefsten Ebene mit Gott selbst zu tun haben (Institutio, I, 17,2). Ohne diese Deutlichkeit verfallen wir schnell einer Kultur der Feigheit und der Anpassung und dienen nicht länger Christus: „Wenn ich allerdings den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich kein Knecht Christi.“ In Lukas 16,14–15 sehen wir, wie die Selbstrechtfertigung durch menschliche Anerkennung eine noch schlimmere Sünde verdeckt: „Das alles hörten aber auch die Pharisäer, die geldgierig waren, und sie verspotteten ihn. Und er sprach zu ihnen: Ihr seid es, die sich selbst rechtfertigen vor den Menschen, aber Gott kennt eure Herzen; denn was bei den Menschen hoch angesehen ist, das ist ein Gräuel vor Gott.“ Wie anders schätzen wir die Dinge doch ein als Gott! Er sieht, was der Mensch verbergen möchte – bei den Pharisäern war es die Geldliebe. Solange sie sich des Beifalls der Menschen in Form ihres monatlichen Gehaltsschecks erfreuen konnten, waren sie zufrieden. Als Jesu Lehre ihren status quo in Frage stellte, machten sie sich über ihn lustig. Um die Aufmerksamkeit von ihrer lügnerischen Gier abzulenken, die ihr ungestörtes Dasein in ihrem Herzen führte, suchten sie etwas, das sie gegen Jesus ins Feld führen konnten. Und scheinbar funktionierte es: Vor der Menge standen sie gut da und bauten ihre Machtposition aus. Doch Gott nannte ihre hochtrabenden Einschätzungen ein Gräuel – das Niederste und Allerletzte.
In einer Rede zur Rechtfertigung allein aus Glauben nannte J. Gresham Machen diese Lehre eine Antwort auf die wichtigste persönliche Frage des Menschen – die Frage: „Wie mache ich meinen Frieden mit Gott? Wie stehe ich vor Gott da? Sieht er mich wohlgefällig an?“ Ich gebe es zu: Es gibt Menschen, die sich diese Frage niemals stellen. Sie fragen sich, wie sie denn vor den Menschen dastehen; wie sie vor Gott dastehen, kümmert sie nicht. Dann gibt es jene, die sich darum sorgen, was wohl „die Leute sagen“, nicht aber, was wohl Gott sagt. Diese Leute gehören nicht zu den Menschen, die die Welt bewegen; sie schwimmen lieber mit dem Strom, tun, wie alle anderen tun; sie zählen nicht zu den Helden, die das Schicksal der Menschheit verändern. Der Ursprung wahren Edelmuts findet sich dort, wo ein Mann sich nicht um das Urteil der Menschen schert, sondern danach fragt, wie Gott die Dinge beurteilt.
Es ist so befreiend, nicht mehr auf menschliche Anerkennung angewiesen zu sein! Es ist befreiend, aufzustehen und Christus nachzufolgen, doch unausweichlich werden manche etwas daran auszusetzen haben. Es ist befreiend, nicht mehr von dem abhängig zu sein, was andere über einen denken, sondern ganz Jesus verpflichtet zu sein! Wenn er unsere einzige Rechtfertigung ist, dann ist auch er der einzige Grund, den wir zum Leben brauchen. Die Lehre von der Rechtfertigung schafft eine Kultur tapferen, edlen Denkens für uns Diener Christi. Nur solche Menschen können den Lauf der Geschichte ändern.
Der „Politik der Gesetzlichkeit“ widerstehen
Zweitens schreibt Paulus:
„Doch als Petrus dann nach Antiochia kam, sah ich mich gezwungen, ihn vor der ganzen Gemeinde zur Rede zu stellen; denn so, wie er sich dort verhielt, sprach er sich selbst das Urteil. Zunächst hatte er zusammen mit den nichtjüdischen Geschwistern an den gemeinsamen Mahlzeiten teilgenommen. Als dann aber einige Leute aus dem Kreis um Jakobus kamen, zog sich Petrus aus Angst vor den Verfechtern der Beschneidung zurück und sonderte sich von den Nichtjuden ab. Und genauso unaufrichtig verhielten sich in der Folge die anderen jüdischen Geschwister. Sogar Barnabas ließ sich dazu hinreißen, dieses heuchlerische Spiel mitzumachen. Als ich nun sah, dass sie den richtigen Weg verlassen hatten, den Weg, der mit der Wahrheit des Evangeliums übereinstimmt, sagte ich in Gegenwart aller zu Petrus: „Du selbst nimmst dir – obwohl du ein Jude bist – die Freiheit, dich über die jüdische Lebensweise hinwegzusetzen und wie ein Nichtjude zu leben. Wieso zwingst du dann die Nichtjuden, sich der jüdischen Lebensweise anzupassen?“ (Gal 2,14–16; NGÜ).
Diese Stelle war während des ersten Jahrzehnts meines Dienstes in den 70er Jahren von ungemeiner Bedeutung für mich. In einer meiner ersten Predigten sprach ich über diese Stelle. Ich gab ihr den Titel „Die Politik der Gesetzlichkeit“, und auch heute noch gefällt mir dieser Titel. Die Stelle hat mich schon früh vor der Gefahr gewarnt, irgendeine Tradition zu verabsolutieren oder durchzusetzen. Petrus hatte sich dieser Praxis schuldig gemacht, und Paulus zog ihn deshalb zur Rechenschaft. Eigentlich war am Thema Heiligkeit innerhalb der jüdischen Tradition nichts auszusetzen, sehr wohl aber daran, diese Tradition auf einen höheren Sockel zu heben und weiterzuführen, wo doch Christus das mosaische Zeremonialgesetz erfüllt hatte. Als Petrus sich von den nichtkoscheren Heidenchristen distanzierte, legte er in Sachen Heilsgeschichte geradezu den Rückwärtsgang ein und ignorierte den Triumph Jesu. Was bewirkte sein Verhalten? Er zwang die Heidenchristen zur Annahme der jüdischen Kultur, um für Christus gut genug zu sein – und für Petrus selbst! Was für eine Beleidigung für das vollendete Werk Christi am Kreuz, und wie erniedrigend für jene Heidenchristen! Was für ein Missbrauch des dritten Mosebuchs; was für eine Überheblichkeit des Petrus und seiner Tradition, ja, was für eine Niederlage für die Rechtfertigung allein aus Glauben! Was für eine erbärmliche Gemeindekultur!
Dabei wusste es Petrus besser. Gott selbst hatte ihm in der Vision mit dem Tuch und den unreinen Tieren, die er Petrus zu essen aufforderte, gezeigt: „Was Gott für rein erklärt hat, das behandle du nicht, als wäre es unrein!“ (Apg 10,15). Was hat Petrus in Antiochia nur veranlasst, so zu handeln? Unwissenheit war es nicht, auch nicht der Mangel eines besseren Verständnisses des Evangeliums, sondern Furcht – Angst vor Gemeindepolitik, Angst, in Zukunft nicht mehr auf dem Jerusalemer Konzil predigen zu dürfen: Petrus zog sich aus Angst vor den Vertretern der Beschneidung zurück! (Gal 2,12). Als Petrus Jesus verleugnete, hatte er Angst um sein Leben. In Antiochia verleugnete er Jesus erneut, diesmal aus Angst, sein Gesicht zu verlieren. Aus dieser ihm eigenen Furcht heraus verzerrte Petrus das Evangelium – nicht auf der Ebene der Lehre, sondern auf der Ebene der Kultur. Er zwang (ἀναγκάζω, V. 14) die Heidenchristen, sich den jüdischen Gebräuchen anzupassen, damit sie Gott wohlgefällig und echte Mitglieder seiner Gemeinde seien. Zweimal nennt Paulus dieses Verhalten „Heuchelei“ (V. 13). Die Furcht vor Missbilligung führt zu Heuchelei, zur Pose – man möchte auf eine ganz bestimmte Art und Weise wahrgenommen werden, mit gewissen Leuten identifiziert oder in einem Satz genannt werden. Ist denn diese Furcht etwas anderes als das leere Getriebensein der Selbstrechtfertigung? Unter Christen ist diese Furcht groß. Die Furcht des Petrus, seine Heuchelei – sogar Barnabas wurde mitgerissen. Einzig Paulus hatte den Mut, aufzustehen und Petrus öffentlich entgegenzutreten. Wir können froh sein, dass er es getan hat; schließlich stand das Evangelium auf dem Spiel – das Evangelium für Europa und damit auch für Amerika. Wäre auch Paulus eingeknickt, die Verbreitung des Evangeliums wäre beinahe abgewürgt worden, da es nur noch einigen wenigen zugänglich gewesen wäre, nämlich denen, die über Jesus hinaus auch noch das Judentum angenommen hätten.
„Die Treue zum Evangelium geht über ein bloßes Bekenntnis hinaus, das die Rechtfertigung allein aus Glauben einfach nur Wahrheit nennt. Wir müssen die Konsequenzen dieser Wahrheit ziehen, sonst haben wir mit unserer Aussage nur ‚heiße Luft‘ gemacht.“
In Galater 2,5 berichtet Paulus von einem anderen entscheidenden Moment, in welchem er unnachgiebig geblieben war: „Aber wir haben ihnen nicht einen Augenblick nachgegeben und haben uns ihren Forderungen nicht gebeugt; denn die Wahrheit, die uns mit dem Evangelium gegeben ist, sollte euch unter allen Umständen erhalten bleiben.“ Beide Male beharrt Paulus nicht auf dem Evangelium als bloß theologischem Moment, sondern auf „der Wahrheit des Evangeliums“, dem richtigen Verständnis des Evangeliums. Was sagt uns das? Die Treue zum Evangelium geht über ein bloßes Bekenntnis hinaus, das die Rechtfertigung allein aus Glauben einfach nur Wahrheit nennt. Wir müssen die Konsequenzen dieser Wahrheit ziehen, sonst haben wir mit unserer Aussage nur „heiße Luft“ gemacht. Es mag uns gar nicht auffallen, wenn wir einzig die Lehraussage betrachten und uns versichern: „Ja, daran glaube ich“. Genau das hat Petrus nämlich getan. V. 16 sagt Paulus: „Darum haben wir [Paulus und Petrus] unser Vertrauen auf Jesus Christus gesetzt, denn wir möchten vor Gott bestehen können, und das ist – wie gesagt – nur auf der Grundlage des Glaubens an Christus möglich.“ Petrus hat seinen Standpunkt gegenüber dieser Lehre nie geändert. Er hat vielmehr die Kultur destruiert, die diese Lehre mit sich bringt. In den Versen 15–21 zeigt Paulus, inwiefern das Verhalten des Petrus seine eigene Lehre verraten hatte: Petrus war drauf und dran, die Kultur der Selbstrechtfertigung wieder aufzubauen, die er vorher niedergerissen hatte (V. 18). Er machte die Gnade Gottes null und nichtig und entheiligte das Kreuz Christi (V. 21). Und das als Apostel! Alle, die an dieser traurigen Geschichte beteiligt waren, waren Christen! Wie ich schon gesagt habe: Die Selbstrechtfertigung ist insbesondere ein Problem der Christen. In Antiochia wurde das Problem sogar zum Problem der Apostel. Wir dürfen nicht meinen, wir könnten uns über die Lehre des Galaterbriefs stellen. Es ist keineswegs leicht, die Wahrheit des Evangeliums in unserer eigenen Generation zu bewahren!
Die Stelle zwingt uns, uns tieferen Fragen zu stellen. Die Frage nach unserer Zustimmung zur Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben ist nicht genug. Wir müssen uns auch fragen, ob wir mit der Wahrheit dieser Lehre auch Schritt halten? Können wir die Treue zum Evangelium in dieser Größenordnung überhaupt erkennen? Für Paulus bedeutete der Begriff der Treue zum Evangelium auch deren Tat. Er forderte Petrus und die anderen auf, ihre Praxis an ihrem eigenen Verständnis der Lehre auszurichten: „Als ich nun sah, dass sie den richtigen Weg verlassen hatten, den Weg, der mit der Wahrheit des Evangeliums übereinstimmt...“. Das Evangelium ist mehr als nur ein Standpunkt; es ist ein Weg, dem man folgen muss, ganz ohne irgendwelchem politischen Druck nachzugeben. Wir müssen das Evangelium unerschrocken und unaufhaltsam verfolgen, denn erst am Widerstand wird die Allgenugsamkeit Christi deutlich.
John Stott bezeichnet die Konfrontation zwischen Paulus und Petrus als „zweifellos eine der angespanntesten und dramatischsten Situationen des Neuen Testaments“. Aus diesen starken Zusammenstößen – keine persönlichen Reibereien! – können wir die verändernde Kraft des Evangeliums sehen. Erst als Paulus’ apostolischer Freimut es ablehnte, einer unangemessenen Forderung nachzukommen, wurde sich diese Forderung ihrer eigenen Intensität bewusst und erblickte die Allgenügsamkeit Christi mit größerer Deutlichkeit, Demut und Freude und fügte sich seiner wahren Freundlichkeit.
Von welcher Lehre ist in Galater 2,11–14 die Rede? Welche Kultur schafft diese Lehre? Es geht hier darum, dass jedermann, der für seine Rechtfertigung sein Vertrauen einfach auf Jesus setzt, vor Gott gerecht ist, egal, aus welchem Umfeld er kommen mag. Es bedarf keiner zusätzlichen Anerkennung von Menschen; das Verdienst Christi ist genug. Wenn Gott uns durch Christus allein für koscher erklärt, wer kann da mehr verlangen? Das Umfeld, das durch diese Lehre geschaffen wird, ist eine Kultur der Offenheit, der Freiheit, des Freimuts und der Furchtlosigkeit. Jesus sagte: „Mein Joch ist sanft“ (Mt 11,30). Selbstrechtfertigung dagegen schafft eine Kultur der Unterdrückung – selbst Menschen, die von ganzem Herzen der protestantischen Lehre anhängen, können eine solche Kultur schaffen, wie Petrus das tat.
Ich denke, Galater 2,11–14 bedeutet, dass Paulus die Kultur, die das Evangelium schafft, für genauso heilig hält wie die Lehre des Evangeliums selbst. Er kämpfte für diese Kultur, denn die Lehre von der Rechtfertigung aus Gnade kann in ihrer Integrität in einer Umgebung der Selbstrechtfertigung nicht aufrecht erhalten werden.
Eine Gemeindekultur der Selbstsucht
Drittens schreibt Paulus in Galater 4,17 in Bezug auf die Irrlehrer: „Es ist nicht recht, wie sie um euch werben; sie wollen euch nur von mir abspenstig machen, damit ihr um sie werben sollt.“ In Galater 5,15 warnt er die Galater: „Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom andern aufgefressen werdet.“ Hier gibt es kein Evangelium mehr, hier gibt es nur noch negative Energien, die sich durch eine Mentalität der Selbstrechtfertigung in einer Gemeinde entladen. Welch finstere Gemeindekultur entsteht da?
Da sind zum einen die selbstsüchtigen Ambitionen. Galater 4,17 entlarvt die manipulativen Kräfte der Ausgrenzung: „Jene Leute bemühen sich nicht in guter Absicht um euch, ganz im Gegenteil: Sie wollen einen Keil zwischen euch und mich treiben, damit ihr euch dann um sie bemüht.“ Die „Leute bemühen sich ... um euch“ – das könnte man auch mit „sie eifern um euch, wollen euch überzeugen, sie tun so, als wären sie interessiert an euch und scheinen sich aufrichtig um euch zu sorgen.“ Die Irrlehrer erscheinen liebevoll und betroffen. In Wahrheit sind sie von anderweitigen Motiven getrieben. Es ist wie im zweiten Kapitel des Buches Tom Sawyer. Durch die manipulative Dynamik der Ausgrenzung brachte Tom die anderen Jungen dazu, den Zaun für ihn zu streichen. Mark Twain schreibt: „Um einen Mann oder einen Jungen dazu zu bringen, eine Sache zu begehren, muss man sie nur schwer erreichbar machen.“ Dabei ist Gemeinschaft in der Gemeinde Christi gar nicht schwer zu erreichen: Alles, was wir brauchen, ist Christus – er gibt sich auf der Basis der Gnade ganz hin und wird mit den leeren Händen des Glaubens ergriffen.
Um ihre verborgenen Absichten zu verwirklichen, mussten die Irrlehrer Paulus loswerden. Sie sorgten für eine Beschwerdestimmung gegen Paulus, so als sei er ein Feind (V. 16). Wenn sie nur die Christuszentriertheit der Menschen verzerren konnten – und Paulus stand da klar im Weg –, wären sie in der Lage gewesen, die religiöse Kultur ihrer Gemeinden zu formen; sie hätten die Herrschaft übernehmen können. Also definierten sie unter den Galatern den Begriff des Annehmlichen einfach nach ihren eigenen Vorstellungen. Die Menschen fielen in ihrer Schwachheit und Unsicherheit darauf hinein und schufen eine Kultur der Ausgrenzung. Ohne Rückkehr zum Evangelium hätten diese Irrlehrer die Gemeinden tatsächlich unter ihre Kontrolle gebracht. Sie hätten sich ihren eigenen religiösen „Sandkasten“ gebastelt, hätten ihre Ambitionen durchgesetzt, ohne dass jemand ihre Herrschaft infrage gestellt hätte. Johannes Calvin schreibt:
Die List der Entfremdung der Menschen von ihrem Pastor eignet allen Dienern Satans; sie wollen sie [die Menschen] an sich binden; dazu entledigen sie sich ihres Rivalen, um seinen Platz einzunehmen. Paulus ist über die Ignoranz der Galater dermaßen bestürzt, dass er am Ende des Briefes selbst zum Stift greift und hinzufügt: „Jene Leute, die versuchen, euch zur Beschneidung zu zwingen, tun das, um sich mit Hilfe dieser rein äußerlichen Sache Anerkennung zu verschaffen. Und eigentlich wollen sie damit nur der Verfolgung ausweichen, die mit der Botschaft vom Kreuz Christi verbunden ist. Es geht diesen Beschnittenen ja auch gar nicht darum, das Gesetz zu befolgen; in Wirklichkeit fordern sie euch nur deshalb zur Beschneidung auf, weil sie dann voll Stolz darauf verweisen können, dass ihr euch dieser äußerlichen Zeremonie unterzogen habt“ (Gal 6,12–13).
Anders gesagt: Die Irrlehrer wollten die „Skalpe“ der Galater, um ihre eigene Wichtigkeit zu steigern. Das ist Selbstrechtfertigung durch Bekehrtenzahlen.
Es ging ihnen nicht darum, zur Ehre Christi Menschen zu gewinnen, sondern darum, die eigene Selbstgerechtigkeit zu steigern, indem sie die Menschen für sich selbst gewannen. Ihr Verhalten stand in krassem Gegensatz zu dem, dem sich Paulus zu Anfang des ersten Kapitels selbst verpflichtete, als er sagte, er wolle das Evangelium auf keinen Fall durch das Gewinnen menschlicher Anerkennung kompromittieren. Paulus war ein Diener Christi; die Irrlehrer dagegen waren Selbstdarsteller. Zweitens spricht der Text von unzivilisierter Verwüstung: „Wenn ihr jedoch wie wilde Tiere aufeinander losgeht, einander beißt und zerfleischt, dann passt nur auf! Sonst werdet ihr am Ende noch einer vom anderen aufgefressen.“ Womit beißt und verzehrt ein Tier sein Opfer? Mit seinem Maul. Selbst in dieser Hinsicht standen die Galater in der Gefahr, ihren Gottesdienst, ihre Gemeinschaft und ihr Zeugnis mit ihrem Mund zu zerstören. Die falsche Lehre hatte sie aufgewühlt; nun konnten sie ihre Zunge nicht mehr im Zaum halten. Die Gemeinden Galatiens begannen instabil zu werden, da die beruhigende Endgültigkeit des „Es ist vollbracht!“ durch die Säure der Selbstrechtfertigung zerfressen worden war. Unsicherheit, Sorge, Furcht und Ärger waren eingedrungen, und wie könnte es auch anders sein? Wo nicht Christus die befriedigende Bestimmung ist, führt Selbstrechtfertigung zu nichts anderem als zu stets neuem, unstillbarem Verlangen. Egal, wie sehr jemand zur Höflichkeit erzogen worden ist, die Selbstrechtfertigung führt unausweichlich dazu, dass man mit dem Finger auf andere zeigt, sie bezichtigt und verleumdet – und sich ihnen entfremdet. Was auch immer dabei herauskommt – gewinnen kann dabei niemand.
„Egal, wie sehr jemand zur Höflichkeit erzogen worden ist, die Selbstrechtfertigung führt unausweichlich dazu, dass man mit dem Finger auf andere zeigt, sie bezichtigt und verleumdet – und sich ihnen entfremdet.“
Bricht in einer Gemeinde die Unzivilisiertheit aus, dann hat das keineswegs mit etwas Persönlichem zu tun, etwa mit einem Mangel an Höflichkeit. Es ist vielmehr ein theologisches Problem: Es ist ein Mangel an Evangelium. Wo Jesus durch das Evangelium herrscht, da herrscht auch die Liebe als „Schutz und Güte“ (Calvin). Paulus war ein Mann von Courage, Offenheit und apolitischer Unabhängigkeit. Er war auch ein Mann der Liebe, der Demut und Herzlichkeit: „Geschwister, ihr seid zur Freiheit berufen! Doch gebraucht eure Freiheit nicht als Vorwand, um die Wünsche eurer selbstsüchtigen Natur zu befriedigen, sondern dient einander in Liebe. Denn das ganze Gesetz ist in einem einzigen Wort zusammengefasst, in dem Gebot: Du sollst deine Mitmenschen lieben wie dich selbst“ (Gal 5,13–14). Strenge Grundsätze bei gleichzeitigen zwischenmenschlichen Beziehungen – das macht eine Gemeinde aus, die treu zum Evangelium steht.
Eine Gemeinde, die fest steht
Was bedeutet es für eine Gemeinde, nicht zu fallen, sondern fest zu stehen durch das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben? Es bedeutet, dass eine Gemeinde die Gnadenrechtfertigung lehrt, während sie eine Kultur der Gnadenrechtfertigung schafft – und notwendigerweise auch schützt. In dieser Art von Gemeinde ist niemand gezwungen, sich selbst zu beweisen; da wird niemand gedemütigt, herabgesetzt, in die Ecke gedrängt oder gezwungen, sich menschlich-allzumenschlichen Forderungen anzupassen. Jedermann ist frei, den Herrn zu suchen und in Harmonie mit den anderen in der Gnade zu wachsen. Ist es einmal nötig, sich einer Konfrontation zu stellen, dann so, dass „die Wahrheit, die uns mit dem Evangelium gegeben ist, … unter allen Umständen erhalten bleibt“ (Gal 2,5). Eine solche Konfrontation kann dann keine persönliche Niederlage bedeuten, sondern einzig die Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums in der Lehre und in der Kultur. Für einige Gemeinden wird ein solches Verständnis von Treue gegenüber dem Evangelium zur Buße und zur Reformation führen müssen. Vielleicht sind wir doch nicht so evangeliumszentriert wie wir dachten.
Nichts ist leichter, als dass eine protestantische Gemeinde die Lehren Christi in einer egoistischen Kultur wie in einem Schrein verwahrt. Damit jedoch machen wir das Evangelium zunichte. Wir entzweien von Natur aus, was das Evangelium vereint: Das Evangelium vereint Entschlossenheit mit Feingefühl, und es vereint auch die anderen biblischen Polaritäten, wie wir das auf erstaunliche Weise an Paulus und auf vollkommene Weise in Jesus sehen. Wie können wir heute mit unserem selbstsüchtig ambitionierten und grausam destruktiven Herzen ein treues Zeugnis für das Evangelium sein? Ist so etwas überhaupt noch möglich? Die Antwort lautet „ja“, aber nur wenn wir jeden Augenblick im Geist leben: „Lasst den Geist Gottes euer Verhalten bestimmen, dann werdet ihr nicht mehr den Begierden eurer eigenen Natur nachgeben“ (Gal 5,16). Das ist nicht mechanisch oder formelhaft gemeint. Auf persönlicher Ebene ist das sogar äußerst teuer – es gibt jedoch keinen anderen Weg. Mehr theologische Wachsamkeit ist vonnöten. Das bedeutet echtzeitliche Abhängigkeit von Gott. Es bedeutet, dass wir uns selbst – und nicht die anderen! – unter das Urteil seines Wortes stellen. Es bedeutet, dass wir stets Vergebung erlangen, stets unseren Kurs berichtigen und unter täglicher Kreuzigung unseres Stolzes Christus nachfolgen.
„Im Fleisch“ können wir nichts als lehrmäßig korrekte Kulturen der Hässlichkeit hervorbringen. Im Geist – und nur im Geist können wir – unvollkommen, aber sichtbar – zum lebendigen Beweis der Wahrheit und Schönheit Jesu gelangen. Das ist die Treue zum Evangelium, die unsere Generation so dringend benötigt.
[1] Martin Luther, A Commentary on St. Paul‘s Epistle to the Galatians, London: James Clarke, 1953, S. 40.