Warum Jesus zornig wird
Richtig ausgedrückter Zorn
Johannes schreibt über den menschgewordenen Sohn Gottes: Der Sohn, „der im Schoß des Vaters ist, der hat Aufschluss [über ihn] gegeben“ (Joh 1,18). Das Leben und der Tod Jesu machen den Vater in jeder Hinsicht bekannt. Daraus folgt, dass Jesus, wenn er zornig ist, uns den Zorn des Vaters zeigt. Wenn Jesus zornig ist, ist er das zu Recht und aus gutem Grund. Zudem drückt er seinen Zorn in rechter Weise aus.
„Der Zorn über das Böse ist die notwendige Folge der Liebe zum Guten.“
In dem sehr bewegenden Aufsatz Das Gefühlsleben unseres Herrn schreibt der christliche Gelehrte B. B. Warfield, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lebte, über Jesu Zorn. Er weist darauf hin, dass es moralisch sei, das Böse zu missbilligen:
„Die Gefühle der Empörung und des Zorns gehören ... zum Selbstausdruck eines moralischen Wesens, für welches es unmöglich wäre, angesichts eines wahrgenommenen Unrechts gleichgültig und unbewegt zu sein.“[1]
Das heißt, wenn ein Wesen moralisch sein soll, muss es Zorn über das Unrecht zeigen. Der Zorn über das Böse ist die notwendige Folge der Liebe zum Guten. Wie Warfield es ausdrückt, „ist der Zorn Jesu nicht nur die Schattenseite seines Mitleids, er ist die gerechte Reaktion seines moralischen Empfindens angesichts des Bösen.“ Denn „wer die Menschen liebt, muss mit brennendem Hass alles hassen, was den Menschen Unrecht zufügt.“[2]
Es folgen drei prägnante Beispiele, in denen der Zorn Jesu etwas vom Zorn des Vaters erkennen lässt.
1. Jesus ist zornig über Hartherzigkeit
In Markus 3,1–5 lesen wir von einem Mann mit einer verdorrten Hand, der in der Synagoge bei Jesus ist. Weit davon entfernt, Mitgefühl für diesen armen Mann zu zeigen, sehen einige der Anwesenden darin eine Gelegenheit, Jesus eine Falle zu stellen, wenn er ihn am Sabbat heilt. Jesus konfrontiert sie damit. Und dann lesen wir, dass „er sie ringsumher mit Zorn ansah, betrübt wegen der Verstocktheit ihres Herzens“ (Mk 3,5). Bevor er diesen verzweifelten Mann heilt, erregt die Härte des menschlichen Herzens Jesu heftigen Zorn. Er ist zutiefst zornig über diejenigen, die sich mit ihrer Herzenshärte gegen den Mann in Not verschließen. Sein Zorn ist der notwendige Ausdruck seiner Liebe zu diesem leidenden Menschen.
2. Jesus wird zornig, wenn die Ehre seines Vaters angetastet wird
In Johannes 2,13–17 reinigt Jesus den Tempel zu Beginn seines Dienstes – eine scheinbar unbedeutende Episode im Vergleich zur größeren Tempelreinigung gegen Ende seines Dienstes (Mt 21,12–16 und die Parallelen bei Markus und Lukas). Sowohl bei der von Johannes aufgezeichneten Reinigung zu Beginn seines Dienstes als auch bei der von Matthäus, Markus und Lukas erzählten Reinigung zum Ende hin ist Jesus zornig über die Art und Weise, wie sie „das Haus meines Vaters“ behandeln (Joh 2,16). In Johannes 2,17 sind es die Worte „der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt“, an die sie sich später erinnern, wenn sie an Psalm 69 denken. Hier ist ein Mann, der von leidenschaftlichem Zorn verzehrt wird, um die Ehre Gottes, seines Vaters, zu verteidigen. Wenn sein Vater entehrt wird, wird er zornig. Dieser Zorn, wie auch der Zorn des Vaters, wenn Jesus entehrt wird, ist nicht Ausdruck einer egozentrischen Selbstbezogenheit. Er entsteht, weil das Wohlergehen des Universums davon abhängt, dass der Schöpfer geehrt wird; wenn dies nicht geschieht, geht alles schief. Jesus ist also zornig über harte Herzen. Er ist zornig, wenn Gott entehrt wird. Schließlich ist er zornig angesichts von Sünde und Tod.
3. Jesus ist zornig über Sünde und Tod
Zweimal lesen wir in Johannes 11, in den Versen 33 und 38, dass Jesus am Grab des Lazarus zornig wird. In unseren deutschen Übersetzungen heißt es: „er seufzte im Geist und wurde bewegt“ (Schlachter, Luther), „er ergrimmte im Geist und wurde erschüttert“ (ELB) oder „war er im Innersten empört und erschüttert“ (Zürcher). Es ist dasselbe Wort, das die Jünger beim Zurechtweisen der Frau, die Jesus in Markus 14,5 salbt, verwenden. Es ist ein Wort des Zorns.
Warfield schreibt:
„Johannes sagt hier, dass Jesus, als er an Lazarus‘ Grab trat, nicht maßlos traurig, sondern maßlos wütend war. Er reagierte auf den Anblick menschlichen Kummers [der sich seinem hemmungslosen Ausdruck hingibt] mit stillen, mitfühlenden Tränen: ‚Jesus weinte‘ (Vers 35). Aber das Gefühl, das seine Brust zerriss und nach Ausdruck verlangte, war reine Wut.“[3]
Er wütete „in seinem Geist“ (Joh 11,33) und bei sich selbst (11,38). Sein Zorn blieb weit hinter seinem endgültigen Ausbruch beim Jüngsten Gericht zurück. Es ist fast so, als müsse er ihn innerlich zurückhalten, was „eine tiefe Erregung seines ganzen Wesens“ hervorrief, die sich in Tränen äußerte.[4] Zweimal wird uns dies gesagt.
Zweimal wird der starke Ausdruck „tief bewegt“ verwendet. Jesus hasst den Tod. Er hasst die Sünde, die den Tod in die Welt gebracht hat. Sind wir nicht zornig, wenn wir von einem hässlichen, vorzeitigen Tod hören? Jesus ist wütend auf den Tod und auf den, der die Macht über den Tod hat, nämlich den Teufel (Hebr 2,14). Der Tod ist hässlich. Der Tod ist unnatürlich. Der Tod übt das aus, was Calvin die „gewaltsame Tyrannei“ über das menschliche Geschlecht nennt. Und gegen den Tod brennt der Herr Jesus vor Wut.
Der Tod und derjenige, der hinter dem Tod steht und die Macht des Todes hat, sind der Gegenstand seines Zorns. Deshalb ist Jesus erschienen, um die Werke des Teufels zu zerstören (1Joh 3,8). Tränen des Mitgefühls mögen seine Augen füllen, aber das ist nebensächlich. Seine Seele ist von Wut ergriffen, und er schreitet zum Grab „wie ein Sieger, der sich zum Kampfe rüstet“, um es mit den Worten Calvins zu sagen.[5]
„Nicht in kalter Gleichgültigkeit, sondern in flammendem Zorn gegen den Feind schlägt Jesus für uns zu.“
Johannes enthüllt uns in diesem Vers das Herz Jesu, wie er unsere Erlösung erringt. Nicht in kalter Gleichgültigkeit, sondern in flammendem Zorn gegen den Feind schlägt Jesus für uns zu. Er hat uns nicht nur von den Übeln errettet, die uns bedrängen, er hat mit uns in unserer Bedrängnis mitgefühlt und unter dem Antrieb dieser Gefühle unsere Erlösung bewirkt.[6]
In einer Fußnote zitiert Warfield John Hutchison:
Jesus „blickte in das ‚Knochengesicht der Welt‘ und spürte überall die Herrschaft des Todes auf. Die ganze Erde war für ihn nur ‚das Tal des Todesschattens‘, und in den Tränen, die in seiner Gegenwart vergossen wurden, sah er jenes ‚Meer der Zeit, in den als salz’ger Sud / Das Wasser aller Menschentränen rinnt!‘ (Shelley).“[7]
Der Zorn Jesu erklärt und zeigt uns den Zorn des Vaters. In seinem Zorn über die Hartherzigkeit der Menschen und in seiner Wut über die Entehrung Gottes und über Sünde und Tod offenbart er uns den Zorn des Vaters.
[1] B.B. Warfield, The Person and Work of Christ, Philadelphia: Presbyterian & Reformed 1950, S. 107.
[2] Ebd., S. 122.
[3] Ebd., S. 115.
[4] Ebd., S. 116
[5] Ebd., S. 117.
[6] Ebd.
[7] Ebd.